„Die Saat des heiligen Feigenbaums“ ist ein sehenswerter Film aus dem Iran von Mohammad Rasulof, in dem das Verhältnis zwischen Staat und Bürgern auf die Ebene einer Kleinfamilie übertragen wird, um die Dynamik deutlich zu machen. Der Familienvater, Angestellter im Justizsystem der Islamischen Republik, repräsentiert Vater Staat im Mikrokosmos der Familie, während Frau und Töchter Untergebene sind, die sich zu fügen haben. Der Vater kontrolliert, bewertet, urteilt ab und verhängt Strafen. Die „Lösung“, die das Filmfinale bietet, wirkt bei weitem nicht so eindrucksvoll wie die Darstellung des Problems. Es geht um angemaßte Autorität und die Folgen: Alle, die ihr unterworfen sind, leiden darunter.
Was aber soll der Feigenbaum im Titel? Es ist ja kein Film zum Thema Botanik. Regisseur Rasulof wählte den Titel mit Blick auf ein Gewächs, das als „Würgefeige“ bekannt ist und vor allem im südamerikanischen Urwald wächst. Der Samen einer Würgefeige gelangt — beispielsweise durch Vogelkot — in die Krone eines anderen Baums. Dort sprießt bald ein kleiner Feigenschössling. Schon in seiner frühen Lebensphase genießt er Sonneneinstrahlung — etwas, das ihm auf dem schattigen Waldboden verwehrt geblieben wäre. Die Würgefeige entwickelt nun Luftwurzeln, die den Stamm des Wirtsbaumes umschlingen und eine Art Netz bilden, das schließlich den Boden erreicht. Anfangs sehen die Lianen der Schmarotzerpflanze wie eine Verzierung aus; wird sie jedoch größer, erdrückt sie ihren Wirt und saugt ihm seinen Lebenssaft aus. Der Wirtsbaum stirbt, während die Würgefeige längst Wurzeln am Boden geschlagen hat und schließlich ein stabiles Gitter an der Stelle des ursprünglichen Baumes bildet. Sie ist nun eigenständig lebensfähig — den Preis dafür musste der umschlungene Baum jedoch mit seinem Leben bezahlen.
Prinzip Würgefeige
Die Würgefeige — so suggeriert es die Titelwahl des iranischen Films — ist ein Symbol für den iranischen Staat. Der Wirtsbaum entspricht dem Volk oder der Zivilgesellschaft. Der Schmarotzer umschlingt und bedrängt den Wirt, nährt sich von seiner Kraft, erdrosselt ihn schleichend und nimmt schließlich sogar seinen Platz ein. Wir erleben es speziell in autoritären Herrschaftsgebilden häufig, dass das politische System so dominant wird, dass es in der Wahrnehmung des Auslands an die Stelle des gesamten Landes tritt.
Denkt man an Nordkorea, so kommt einem als Erstes das „erdrückende“ Regime unter Kim Jong-un in den Sinn. Ähnlich verhält es sich mit dem Iran und dem „Mulllah-Regime“. Man gewinnt den Eindruck: Das politische Gewaltsystem ist das Land. Jenseits von ihm gibt es kein Nordkorea, keinen Iran. Es ist, als zählten die von der Würgefeige umschlungenen Menschen gar nicht mehr, nur noch das, was sie umschlingt.
Natürlich ist es auch die Schuld des Betrachters, nicht näher nachzuforschen und die Menschen unter dem Lianen-Gewirr eine Unrechtsstaats gar nicht sehen zu wollen. Zunächst aber richtet sich der Hauptvorwurf gegen das Regime, das zu bedrängend geworden ist. In einem Spruch aus Laotses „Tao Te King“, der auch in einem Flugblatt der Widerstandsbewegung „Weiße Rose“ zitiert wurde, heißt es: „Der, des Verwaltung aufdringlich ist, des Volk ist gebrochen.“ Die Frage, die sich nun anschließt, lautet: Gilt das nur für ferne, orientalische Diktaturen?
Problematische Ungeziefer-Metapher
Man muss sicher die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern und Systemen genauer betrachten und wird dabei auf verschiedene Abstufungen des Prinzips „Umschlingen und Erwürgen“ stoßen. Das Thema hat zwei Aspekte: den der Freiheitsberaubung durch das System und den der materiellen Ausplünderung der Bevölkerung. Beide sind in der Regel eng miteinander verzahnt, denn die Einschränkung der Freiheit mittels eines Repressionsapparats macht die erfolgreiche Durchsetzung von Zwangszahlungen — zum Beispiel Steuern — gegen die Bürger erst möglich. Umgekehrt setzt die Aufrechterhaltung des „Apparats“ — etwa Finanzamt, Gerichtsvollzieher, Polizei und Gefängnisse — die Verfügbarkeit von Geldmitteln voraus, die die Herrschenden den Beherrschten abgenötigt haben.
Sicher ist das Beispiel der Würgefeige drastisch. Bei näherer Betrachtung zeigen sich Unterschiede zwischen der buchstäblich tödlichen Pflanze und dem Netzwerk staatlicher Betreuung und Gängelung. Der augenscheinlichste Unterschied besteht darin, dass der Staat die Bevölkerung am Leben lässt. Jedenfalls gilt das für Deutschland — noch. An den etwas kruden Vergleich mit einer Schmarotzerpflanze musste ich denken, als ich auf den Titel eines Sachbuchs der libertären Denkrichtung stieß: „Parasit Staat“ von Alexander Kreis. Ich schicke voraus, dass ich nicht gegen jede Art der Steuererhebung bin — nur über Höhe und Verwendungszwecke müsste dringend geredet werden.
Ebenso gefällt mir der Begriff „Parasit“ — angewandt auf Menschen oder Gruppen von Menschen — nicht. Dieser war während der Hitler-Diktatur gang und gäbe, richtete sich häufig gegen Juden, aber auch gegen die Empfänger von Transferleistungen. Der ehemalige Arbeitsminister Wolfgang Clement sagte mit Blick auf Arbeitslose, die für sein Gefühl zu Unrecht Gelder bezogen: „Das nennen ich parasitäres Verhalten“.
Man sollte also vorsichtig mit Begriffen sein, die auf Ungeziefer Bezug nehmen. Dennoch muss darüber gesprochen werden, welche Personen und Institutionen sich mit List und Gewalt — ohne Eigenleistungen und wirkliche Not — immer wieder Gelder aneignen, die von anderen erarbeitet wurden.
Da können sich die Blicke durchaus auf Finanzamt und Staat richten, ob deren Aneignungspraxis nun legal ist oder nicht.
Der Suchtdruck des Steuerstaats
Wir befinden uns in der Epoche eines nimmersatten Steuerstaats. Wie bei einem Süchtigen ist dieser mit der bisher erhaltenen Dosis nie zufrieden und will sie ständig erhöhen. Dabei hat der Finanzbedarf zum großen Teil mit Problemen zu tun, die ohne besagten Staat gar nicht existieren würden. An erster Stelle ist hier die Kriegsvorbereitung zu nennen. Aber auch die Zinsbelastungen auf Schulden der Vorgängerregierungen. Darüber hinaus existiert eine Art überambitionierter Wille zur Güte — also zur Alimentierung der halben Welt — sowie der wachsende Geldbedarf für den eigenen „Apparat“, der zum großen Teil den Tätigkeitsfeldern „Fordern, Kontrollieren, Strafen“ dient.
Friedrich Merz hat ein historisches Schuldenpaket auf den Weg gebracht, scheint es aber mit seinen angekündigten „Reformen“, die damit finanziert werden sollen, nicht eilig zu haben. Der Ausgabenschwerpunkt liegt eindeutig auf der Vorbereitung von Tötungsvorgängen durch einen aufgeblasenen Militärapparat. Lars Klingbeil schließt indes Steuererhöhungen nicht aus, obwohl das Schuldenpaket der schwarz-roten Koalition die Finanzen der Menschen bereits stark belastet. Das Geld scheint in einem riesigen Loch zu verschwinden — wie bei einem Wasserglas ohne Boden, das ständig nachgefüllt werden muss, ohne dass beim Trinker etwas Nennenswertes hängenbleibt.
Steuerpflicht als Methode der Bürgerdressur
Wer als junger Mensch zum ersten Mal Steuern zahlt, erlebt oft in aller Schärfe, woran sich Steuerzahler-Veteranen längst gewöhnt haben: Erstmals tritt ihm die Staatsmaschinerie als unnachgiebig fordernde, drohende, notfalls strafende Instanz gegenüber. Meistens ist die Höhe der Steuerforderung schmerzlich, da der Berufsanfänger noch kein hohes Gehalt bezieht. Er sieht sich komplett fremdbestimmt mit komplizierten Abläufen konfrontiert.
Zeit und Energie müssen aufgewendet werden, um bei einem Vorgang zu assistieren, der ihm im Ergebnis ärmer machen wird — und das nach den Regeln des Empfängers. Für die meisten Menschen handelt es sich bei Steuererklärungen um eine Qualarbeit: mühsam und überschattet von der Drohung noch weitergehender Beraubung, falls das Geforderte nicht pünktlich und regelkonform abgegeben wird.
Die jährliche Pflicht, an der eigenen Besteuerung mitzuwirken, hat also den zusätzlichen Effekt, dass sich fast jeder Bürger in regelmäßigen Abständen in der Rolle des Unterworfenen erlebt. Empfindet er die Vorgaben des Finanzamts oder die von ihm geforderte Summe als ungerecht, so wird er in den allermeisten Fällen erleben, dass „da nichts zu machen ist“. Er wird im Sinne eines resignierten Funktionierens abgerichtet, manchmal aufwallender Widerstandsgeist wird gebrochen. Die so erzogene Bürgertugend der Fügsamkeit ist auch in anderen Kontexten vom Staat erwünscht.
Eine Streitpartei macht sich zum Richter
Staat und Steuerzahler sind Parteien mit einander widersprechenden Interessen. Der Steuerzahler will möglichst wenig an den Staat abgeben; der Staat will vom Steuerzahler möglichst viel empfangen. „Schiedsrichter“ in diesem Interessenkonflikt ist aber wiederum der Staat, also eine der streitenden Parteien. Zwar kann als neutrale Instanz ein Gericht angerufen werden, jedoch urteilt dieses nach den Spielregeln, die der Staat ersonnen hat. Wäre es umgekehrt — könnte ich die Gesetze machen und wäre ich überdies ein skrupelloser Egoist — wäre es kaum überraschend, wenn über kurz oder lang mein Konto erheblich anwüchse, während das der Staatskasse entsprechend abnehmen würde. Ich könnte mich in einem Umfang bereichern, der für die Gegenseite existenzgefährdend oder zumindest sehr schmerzlich wäre — umgekehrt denkt sich der Staat aber nichts dabei, wenn er dergleichen mir antut.
„Das Problem ist aber, dass der Staat in diesem Wettkampf selbst eine Doppelrolle hat und zwar die des Sportverbands und des Schiedsrichters zugleich“, schrieb zu diesem Thema der Sachbuchautor Alexander Kreis.
Aus dieser fast unumschränkten Machtfülle heraus beißt der Staat von ein- und demselben Gehalt gleich mehrfach große Stücke ab. Er tut dies durch:
- Einkommenssteuer von Arbeitern und Angestellten
- Umsatz- und Gewinnsteuern von Unternehmen
- Mehrwertsteuer — also auf Verbraucher abgewälzte Kosten von Händlern und Dienstleistern
- Weitere „produktverteuernde“ Steuern zusätzlich zur Mehrwertsteuer, wie etwa Strom- oder Mineralölsteuer, die im Herstellungs- und Verteilungsprozess der Waren anfallen
- „Zukunftssteuern der kommenden Generationen in Form von Staatsschulden in Billionenhöhe“ (Alexander Kreis)
Den Rausch erleben zeitgenössische Politiker, den Kater unsere Kinder und Enkel.
Der Fantasie der Nehmerseite ist dabei keine Grenze gesetzt. Man kann zu Geldzahlungen aufgefordert werden, wenn man Geld einnimmt und wenn man es ausgibt. Wenn man etwas geschenkt bekommt und wenn man etwas erbt. Wenn man Grund erwirbt und wenn man ihn besitzt. Wenn man ein Auto hat und wenn man es nicht in der Garage stehen lassen, sondern tatsächlich fahren will (Benzinkosten) — sowie aus unzähligen weiteren Anlässen.
Da es der Staat im Fall einer Weigerung des Bürgers, die geforderte Steuer zu bezahlen, nicht bei Bitten bewenden lässt, sondern vielmehr eine Gewaltdrohung im Hintergrund aller Forderungen des Finanzamts steht, spricht Kreis auch von „schwerem Raub“.
Bedrängt von zwei Seiten
Hinzu kommt ein weiterer, nicht zu unterschätzender Kostenfaktor. Das Finanzamt gestaltet die Berechnung eines korrekten Steuersatzes äußerst kompliziert und bedroht diejenigen Steuerzahler, die an dieser Kompliziertheit scheitern, mit Kriminalisierung falls ein Fehler zu ihren Gunsten ausfällt. In der Regel ist die Beauftragung eines Steuerberaters daher unvermeidlich. Dieser tritt jedoch im Verhältnis zum Steuerzahler als eine Art „zweiter Staat“ auf. Seine Forderungen können sich nach undurchsichtigen Regeln plötzlich erhöhen — seltener verringern. Meist wachsen die Rechnungen auch — wie Steuerforderungen — zusammen mit dem Gehalt des Delinquenten.
Steuerberater erwecken oft den Eindruck, als seien sie vom Finanzamt derart eingeschüchtert, dass sie die Interessen des Amtes gegenüber dem Steuerzahler vertreten, obwohl sie von letzterem bezahlt werden.
So überprüfen manche die Kontoauszüge und weisen auf Einzahlungen hin, die möglicherweise steuerpflichtig sind.
Von „Waffengleichheit“ zwischen den beiden Beteiligten am Besteuerungsvorgang kann also nicht annähernd die Rede sein. Das Finanzamt lässt sich mit Auszahlungen Zeit, wenn der Steuerzahler etwas zurückzubekommen hat — die Zeiträume sind weder transparent noch werden sie begründet. Verzögert ein Steuerzahler hingegen eine Zahlung um einige Tage, können „Säumnisgebühren“ anfallen. Das Finanzamt beansprucht mehr oder weniger ungeniert ein „Herrenrecht“ nach dem lateinischen Motto „Quod licet Iovi, non licet bovi“ — was dem Gott Jupiter gebührt, gebührt noch lange nicht dem Rind. Es wahrt also nicht einmal den Anschein einer Kommunikation auf Augenhöhe.
Begeht das Finanzamt einen Fehler zu Ungunsten des Steuerpflichtigen und wird es dabei von dessen Steuerberater ertappt, erfolgt keine Entschuldigung. Das Geld, das dem Steuerzahler beinahe unrechtmäßig genommen worden wäre, wird kommentarlos verrechnet. Der Steuerberater schreibt dann für das Entdecken dieses Fehlers und das Stellen eines Antrags auf Korrektur eine weitere Rechnung. Auf diese wird Mehrwertsteuer erhoben, das dem Finanzamt zugutekommt.
Stilblüten der Steuerkritik
Das Genie und Stilwunder der Steuerkritik ist mit Sicherheit der Philosoph Peter Sloterdijk, der in seinem Buch „Die nehmende Hand und die gebende Seite“ eine vernichtende Kritik am Steuerstaat übt, welche auf einen einzigen, irritierenden Vorschlag hinausläuft: „eine allmähliche Umwandlung des bestehenden Steuersystems von einem bürokratisierten Ritual der Zwangsabgaben in eine Praxis freiwilliger Bürgerbeiträge zum Gedeihen des Gemeinwesens in Erwägung zu ziehen.“ Nur eine solche Transformation könne „die in Routinen der Staatsverdrossenheit erstarrte Gesellschaft reanimieren und einen neuen Hauch von Gemeinschaftsbewusstsein in die selbstbezüglich gewordenen Funktionssysteme tragen.“
Da Sloterdijk die Existenz von „Staatsaufgaben“ und Finanzbedarf nicht grundsätzlich verneint, läuft sein Vorschlag auf eine Steuer auf freiwilliger Basis hinaus. Die Frage, ob unter solchen Umständen ein ausreichendes Steueraufkommen zustande käme, wird von dem Philosophen eher rhetorisch umspielt als tatsächlich beantwortet. Man muss zudem auch wissen, dass Peter Sloterdijk einer eigenwilligen Spielart der libertären Denkrichtung angehört. Die Arbeiterbewegung, schreibt er, „ist tot und kehrt doch aufgrund der neuen Gegebenheiten als Interessenorganisation der Prekären und Arbeitslosen wieder.“
Gräuel der Abgabenerzwingung
In brillanter Sprache geißelt Sloterdijk die Praxis der „Abgabenerzwingung“ durch den Staat. Diese sei „praktisch bei allen Geschäften seiner Bürger als nehmender Part im Spiel.“ Die Nehmerqualitäten des Staates kämen bei jeder noch so banal wirkenden Gelegenheit zur Geltung. Es werde „kein Glas Wein getrunken, ohne dass der Fiskus mit angeheitert würde. (…) Man kann keine Suppe auswärts essen und keine Nacht in einem Hotel verbringen, ohne dass der Fiskus seine Hand auf die Rechnung legt“. Zu bedenken sei bei all dem, dass sich das Wachstum der Staatsausgaben von 1876 bis „heute“ — also 2010 — um mehr als das 50-fache gesteigert habe. Von 12,6 Prozent des Volkseinkommens im Jahr 1881 auf 53,3 Prozent im Jahr 1994.
Queen Victoria habe sich „bei Einführung einer Einkommensteuer in Höhe von 3,33 Prozent in Großbritannien um 1850 sorgenvoll gefragt, ob man damit nicht zu weit gegangen sei“. Impliziert ist damit der Vorwurf gegen den heutigen Steuerstaat, dass dieser ein Drittel oder sogar die Hälfte der Einkommen seiner Bürger ohne Skrupel wie eine Selbstverständlichkeit einsacke.
Wirklicher humaner Fortschritt sei im Lichte dieser Plünderung eher eine Illusion. Feudalismus, Absolutismus und Demokratie seien „nur Nuancen in der monotonen Geschichte der nehmenden Hand“, sie seien „nur flüchtige Moden bei der unerschütterlichen Schröpfung der jeweils Ausbeutbaren durch die diensthabenden Mächte.“ Allein die Resignation des Bürgers im Angesicht staatlicher Übermacht sei somit „die Grundlage solider öffentlicher Finanzen“.
Beim Staat verschuldet bis zum Lebensende
Entscheidend bei diesem Manöver sei die Umdeutung von Gaben der Bürger an die Gemeinschaft in Schulden, „die jeder Bezieher von Einkommen und jeder Konsument von Waren und Dienstleistungen a priori auf sich lädt.“ Ausgerechnet beim Vorgang größtmöglicher Anteilnahme am Schicksal der Gemeinschaft habe der Steuerstaat seine Bürger in eine passive, ja erniedrigende Rolle gedrängt. „Statt die Geberqualitäten der Zahlenden hervorzuheben und den Gabe-Charakter von Steuern respektvoll zu betonen, belasten die modernen Fiskalstaaten ihre Steuerzahler mit der entwürdigenden Fiktion, sie hätten bei der öffentlichen Kasse massive Schulden — so hohe Schulden, dass sie dieselben nur in lebenslangen Raten tilgen könnten.“ Der Staat habe die Menschen „hinterrücks an die Galeere der öffentlichen Schulden gefesselt“.
Grundsätzlich unterscheidet Sloterdijk vier Grundtypen des Geldtransfers von Einzelnen zur Staatskasse. Der erste und ursprünglichste besteht in „‘Plünderungen‘ in kriegerisch-beutemacherischer Tradition.“ Der zweite umfasst Abgaben auf Einkommen, Vermögen und Waren. Dieses aus dem Absolutismus stammende Verfahren ist in den Grundzügen bis heute erhalten geblieben. Als Drittes nennt Sloterdijk das vor allem im Sozialismus gängige Narrativ der „Gegenenteignung“ als legitimer Notwehr gegen die Ausbeutung der Werktätigen durch das Kapital. Historisch sprach man auch von „Expropriation der Expropriateure“. Da Eigentum nach Ansicht des Frühsozialisten Pierre-Joseph Proudhon „Diebstahl“ sei, müsse der Sozialist „Gegendiebstahl“ legitimieren. Meist ist dieser verbunden mit einer für Sloterdijk zu weit gehenden, Umverteilung zugunsten der Bedürftigen durch den Sozialstaat. Das traditionelle obrigkeitliche Selbstverständnis als Ordnungsmacht, die „vorgibt, von oben eingesetzt zu sein“ habe sich gewandelt in die „Konzeption des Staats als einer moralisch autorisierten Agentur der umfassenden sozialen Fürsorge“.
Vom Abgezockten zum Philanthropen
Von — im Jahr 2010 — 82 Millionen Deutschen gingen laut Sloterdijk nur 42 Millionen „Einkommen erbringenden Tätigkeiten“ nach. Da von diesen aber mehr als die Hälfte de facto wegen niedriger Einkommen steuerbefreit seien, blieben 25 Millionen übrig, die die Geberseite repräsentierten. Nur diese Minderheit ist es, die für den Lebensunterhalt des Staatsapparats und der von ihm unterstützten, tatsächlich oder vermeintlich Bedürftigen sorgten.
Diese Argumentation läuft auf die typisch libertäre These hinaus, dass die Leistungsträger von den Leistungsunfähigen oder -unwilligen beraubt werden. Wobei auch der Betrieb der Umverteilungsagentur von den Geschröpften mitfinanziert werden muss.
Schließlich gebe es noch eine vierte Methode des Geldtranfers — für Sloterdijk die einzige, die die Würde der Geberseite wahrt: „die Tätigkeit von Spendern und Stiftern in philanthropischer Tradition.“ Abgesehen von dieser vierten humanen Lösung sei in modernen Steuerstaaten eine eigentlich demokratiewidrige Form der Gewaltenkonzentration installiert: „Alle Gewalt geht vom Fiskus aus“. Immer wieder betont der Philosoph den demütigenden Charakter der Steuerpflicht. Der Bürger „bildet für den Fiskus eine Randbedingung seines Funktionierens, so wie die Kuh die Randbedingung des Milcherzeugungssystems ist.“ Es sei eine chronische Demütigung, „durch welche man den Bürgern in der breiten Mitte, die mit ihren zu Abgaben degradierten Gaben nahezu alles ermöglichen, was die soziale Welt zusammenhält, chronisch unterstellt, sie müssten mit Gewalt gezwungen werden, zu tun, was sie aus freien Stücken niemals täten.“
Der Weg in die eigenverantwortliche Massenverelendung
Als logische Schlussfolgerung empfiehlt Sloterdijk allein die Umstellung der Zwangserhebung von Steuern auf freiwillig erbrachte Gaben. Alle wohlformulierten Begründungen hierfür laufen letztlich darauf hinaus: Wenn dieser Systemwechsel installiert sei, werde das schon irgendwie klappen. Man solle vom Menschen nicht „klein denken“, sonst züchte man gerade dadurch auch moralischen Zwergwuchs. Ein rein spendenfinanziertes Steuersystem wurde in einer modernen, hochentwickelten Gesellschaft meines Wissens nie ausprobiert. In Ländern, in denen man die Bedürftigen mehr oder minder der Gnade von Almosengebern überlässt, ist der Grad der Verelendung durchweg größer als im heutigen hoch besteuerten Deutschland.
Auch Alexander Kreis, der Kammerjäger auf der Jagd nach dem „Parasit Staat“, bietet im Grunde keine andere Lösung an als die Fiktion, der private Sektor und private Wohltätigkeit würden schon irgendwie für eine Abfederung der Armut sorgen. Vor allem müsse der Existenzdruck dafür sorgen, dass Menschen aus der sozialen Hängematte aufgescheucht werden und ihr Schicksal in der Manier US-amerikanischer Selfmade-Menschen und Selbstoptimierer in die eigenen Hände nehmen.
„Unnatürlicher Gleichheitsgrundsatz“
Trotz der vielen negativen Erfahrungen, die fast jeder von uns mit dem Finanzgebaren „seines“ Staates gemacht haben dürfte, und trotz philosophischer Einwände gegen den Steuerstaat, betrachte ich libertäre Kettensägenmassaker am Sozialstaat mit Skepsis. Das grundlegende Deutungsmuster von Alexander Kreis in Bezug auf Besteuerung liegt in der Umkehrung des bei Linken üblichen Vorwurfs gegen den „parasitären“ Kapitalismus.
Kreis schreibt: „Die kapitalistische Zivilisation ist der Wirt. Der Parasit heißt ‚Staat‘.“ Er behauptet pauschal, „dass der Staat und Steuern illegaler Raub sind.“ Für ihn liegt der Kern des Problems bereits beim „Etatismus“, dem Glauben an die Notwendigkeit und Legitimität eines Staats — einem „Aberglauben“, wie er findet: „Kein anderer Aberglaube zwingt mich, Gesetze zu befolgen, die ich für Schwachsinn halte. Kein anderer Aberglaube zwingt mich, Steuern zu bezahlen für Dinge, die ich nicht will und nicht brauche.“
Die rechtsgerichtete, wirtschaftsliberale Grundtendenz dieses Narrativs wird deutlich, wenn Kreis sagt, die Crux sei der „Aberglaube an Gleichheit und Gerechtigkeit“. Der Ursprung dieses Aberglaubens sei Neid — „die vielleicht hässlichste Eigenschaft der menschlichen Spezies.“ Dabei kommt dann auch die Natur als Gewährsfrau ins Spiel: „Ideologien versuchen künstlich Gleichheit und Gerechtigkeit herzustellen, wo die Natur Ungleichheit und Ungerechtigkeit vorgesehen hat.“
Überall lauert „Sozialismus“
Ich selbst stehe eher auf folgendem Standpunkt: Ungleichheit und Ungerechtigkeit sind menschengemacht — von denen, die von Ungerechtigkeit profitieren und von denen, die sich nicht adäquat dagegen wehren. Manche bekommen von materiellen Dingen und von Macht einfach nicht genug. Wie es anderen Menschen geht, die unter ihrem Verhalten leiden, ist ihnen egal. Ihre eigene Wesensart projizieren sie dann auf „die Natur“. Selbst wenn es Ungleichheit in der Natur gibt — etwa der größte Löwe beansprucht immer den Löwenanteil am erlegten Gnu —, so haben wir doch als menschliche Zivilisation die Möglichkeit, stattdessen „unnatürlichen“, jedoch ethisch begründeten Gewohnheiten zu folgen und den weniger Durchsetzungsfähigen einen Teil der Beute zukommen zu lassen.
Alexander Kreis gehört mit anderen „Libertären“ zu jenen Denkern, die jeglichen Ansatz von sozialem Verhalten sogleich als „Sozialismus“ brandmarken und somit assoziativ in die Nähe der ehemaligen Ostblock-Diktaturen rücken.
Gleichzeitig bedient er sich gern biologischer Vergleiche: „Mein persönliches Bild des Sozialismus ist das eines stark wachsenden Monster-Parasiten, der mittlerweile so groß geworden ist, dass er einen langen Schatten über das gesamte Land wirft.“ Trotz der kruden Sprache werden viele hier viele zumindest teilweise mitgehen können. Der Staat hat sich gerade seit den Corona-Jahren zu sehr aufgeplustert. Das gilt sowohl für übergriffige, die Freiheit der Menschen einschränkende Verhaltensweisen, als auch den stetig wachsenden Anteil am Einkommen der Arbeitenden, den er für sich beansprucht.
Angstgegner Wohlfahrtsstaat
In der Freiheitsfrage ist der deutsche Staat nach meiner Auffassung eindeutig zu tyrannisch, zu bedrängend geworden. In der Geldfrage muss hingegen unterschieden werden zwischen Steuereinnahmen, die der Staat für die Aufrechterhaltung — oft auch Ausweitung — des „Apparats“ einfordert, und jenen, die er weiterverteilt an Menschen in sozialen Notlagen. Das kann Rentner und Arbeitslose betreffen, aber auch Flüchtlinge und Nutznießer von „Entwicklungshilfe“ in anderen Ländern. Gerade dieser Personenkreis ist Libertären aber ein Dorn im Auge. „Für die endlose Ausuferung dieses parasitären Wachstums gibt es kein besseres Beispiel als den modernen Wohlfahrtsstaat.“
Die Politik der Aufblähung des Steuerstaats lässt sich im ersten Jahr der Merz-Regierung sehr gut beobachten. Im Gegensatz zum Gleichnis der Würgefeige wird ein Staat nie vollkommen die Stelle der Bevölkerung einnehmen, er wird sie lediglich umschlingend „ergänzen“ — mit allen negativen und teilweise sicher auch positiven Folgen.
Wir brauchen als Gemeinschaft der Steuerzahler genügend Selbstbewusstsein, um der „nehmenden Hand“ Grenzen aufzuzeigen und Mitsprache bei der Verwendung des Geldes einzufordern.
Es braucht gerade bei hoch Besteuerten aber auch eine Haltung gesunder Demut, die weiß: Nicht alles, was ich mir durch Geschick und Leistung — oft vielleicht auch nur, indem ich meine Chips auf die richtige Zahl am Roulettetisch setzte — angeeignet habe, ist zugleich auch im eigentlichen Wortsinn „verdient“.
Eigentum verpflichtet — nicht
Alexander Kreis’ Vision einer idealen Gesellschaft ist: „Jeder dürfte sein verdientes Gehalt behalten und es für sich arbeiten lassen.“ Die letzte Formulierung — Geld für sich arbeiten lassen — ist jedoch irreführend.
Geld arbeitet nicht; Menschen tun dies, die durch ein bestehendes Machtgefälle in eine Situation hineingezwungen werden, in der sie einem Ausbeutungsverhältnis nur schwer ausweichen können.
„Es würde sich wieder absolut lohnen zu arbeiten und zu investieren“, schwärmt Kreis. „Eine Alternative zur Arbeit wäre ja nicht mehr vorhanden. Der Wohlfahrtsstaat wäre ja längst Geschichte“. Solche Ideologien könnten prägend sein für eine schwarz-blaue Republik, auf die wir — auch bedingt durch das drastische Versagen der anderen politischen Farben — zulaufen. Es ist wichtig, sich damit rechtzeitig auseinandersetzen und die Möglichkeiten und Grenzen finanziell motivierter Staatskritik auszuloten.
Ein System, in dem kein Wohlfahrtsstaat mehr existiert — also der Zwang herrscht, jede noch so schlechte Arbeit für das nackte Überleben anzunehmen — und in dem sich „Investitionen“ gleichzeitig in hohem Maße lohnen, ist der Garant für das weitere Auseinanderdriften von Arm und Reich und für verschärfte Ausbeutung. Wer sich hierbei auf der Gewinnerseite sieht — „Libertäre“ gehören dazu — wird kein Problem erkennen können. Er wird Narrative dafür ersinnen, dass sein Reichtum berechtigt ist, und diese über „seine“ Medien verbreiten lassen. Nur ein relativ starker Staat kann aber die schwächsten seiner Bürger schützen. Dass es auch hierbei Übertreibungen gibt und nicht immer alles mir rechten Dingen zugeht, sei zugestanden.
Wäre eine libertäre Gegenrevolution wünschenswert?
Es darf nicht geschehen, dass mit einer libertären Gegenrevolution die Ausbeutung nicht verschwindet, sondern nur im neuen ideologischen Gewand wiederkehrt.
Wir müssen es durchschauen, wenn Aktienbesitzer, Grundeigentümer, Großerben und Spekulationsgewinner dem Staat lediglich das vorwerfen, was sie selbst verstohlen für sich begehren: die Aneignung von Werten, für deren Schaffung andere unter harten Bedingungen ihre Zeit und Lebensenergie geopfert haben — Menschen, die jedoch nicht smart oder nicht skrupellos genug sind, sich im Kampf um Energie gegen die ökonomischen Beutegreifer durchzusetzen.
Im schlimmsten Fall würde die Ausbeutung durch Systemverlierer auf der „Hängematte“ nur abgelöst werden durch die Ausbeutung durch Gewinnertypen, die Wege gefunden haben, sich leistungslos ein Übervermögen zu sichern. In weite Ferne würde dadurch rücken, was eigentlich erstrebenswert wäre: gar keine Ausbeutung.

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Quellen und Anmerkungen:
Peter Sloterdijk: Die nehmende Hand und die gebende Seite. Edition Suhrkamp, 166 Seiten, 12,- Euro
Alexander Kreis: Parasit Staat. Entdecken Sie den Libertarismus! 227 Seiten, Euro 15,90