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Die Schuld-Falle

Die Schuld-Falle

Machen wir aus unserem Leben keine Bußübung und lernen wir, konstruktiv mit unseren Fehlern umzugehen!

Im Zentrum des Bildes war nichts als ein schwarzer Strudel, der alles in die Tiefe riss – die Farben und mit ihnen jede Lebensfreude. Maria hatte während ihres schweren Depressionsschubs, der über mehrere Monate andauerte, wieder begonnen zu malen. Doch solange sie mittendrin steckte, half auch der künstlerische Bewältigungsversuch kaum. Maria wollte sich nur noch unter dem Schutz der Bettdecke verkriechen – unterbrochen von hektischem Surfen im Internet. Freizeit, gutes Wetter, Natur und Bewegung brachten keine Linderung – sie wurde beherrscht von Hoffnungslosigkeit, innerer Qual und „Schwärze“. Was wartete am tiefsten Punkt dieses Strudels? Der Tod. Maria fühlte sich, als habe eine Macht von ihr Besitz ergriffen, die sie zwingen wollte, bis zu dem Punkt völliger Verelendung und Selbstzerstörung hinabzusteigen.

Ich war erschrocken, als mir Maria, mit der ich lange nur lockeren Kontakt gehalten hatte, von ihrem Leben in den vergangenen Monaten erzählte. Nach einer langen Odyssee hatten sie erst Medikamente und die Unterstützung durch liebe Menschen wieder in hellere Regionen führen können. Als wir über Details ihrer depressiven Episode redeten, merkte ich, dass ein Thema dabei immer wieder mitschwang: Scham und Schuld.

Schuldgefühle waren sowohl Ursache als auch Symptome der Depression.

Schon der Anfang von Marias Lebens war – für sie natürlich zunächst unbewusst – mit dem Leid eines anderen Menschen belastet: Maria war das vierte Kind ihrer Mutter. Diese hatte einen kleinen Kropf und mit jeder Geburt wuchs er stärker nach innen und drückte auf die Luftröhre. Die Atemnot über Wochen auszuhalten, war irgendwann nicht mehr möglich. Wegen der Schwangerschaft erhielt sie bei der Halsoperation keine Narkose, sondern nur örtliche Betäubung.

Maria wurde sich dieses Zusammenhangs erst viel später, in einer Art therapeutischer Traumreise bewusst. Hinzu kam, dass sie als viertes Kind die Familie in zusätzliche finanzielle Schwierigkeiten brachte. Auch dies wurde, wie vieles im religiösen Elternhaus Marias, nicht offen ausgesprochen, war aber nichtsdestotrotz atmosphärisch spürbar. Beschränkung und finanzielle Not bestimmten den Alltag.

Eine weitere Belastung erfuhr Maria durch ihren Vater. Er musste Kriegserlebnisse verarbeiten, über die er aber den Mantel des Schweigens breitete. Nie wurde manifest, was er damals erlebte und mit ihm geschehen war. Offen zutage lag jedoch die ausgeprägte Religiosität des Vaters, seine Fixierung vor allem auf die Themen Schuld und Höllenstrafe. Maria musste schon mit sieben Jahren den „Beichtspiegel“ auswendig lernen und begann, selbst ihre kleine Schwächen argwöhnisch und streng zu beobachten. Alle Kinder wurden täglich um 7 Uhr morgens zur Frühmesse geschickt. „Das Gefühl nach der Beichte war: jetzt bin ich ‚rein‘“, erzählt sie. „Aber kaum waren ein paar Tage vergangen, hatte ich schon wieder das Gefühl ‚unrein‘ zu sein.“

Zusammenhänge zwischen dem frühkindlich suggerierten Thema „Schuld“ und Marias depressiven Schüben können kaum bewiesen, allerdings mit gutem Grund vermutet werden. Zusammenfassend sagt sie: „Wenn ich so zurückschaue auf mein Leben, dann habe ich den Eindruck, mehr depressiv als gut drauf gewesen zu sein – auch zwischen den inzwischen sechs Episoden.“ Sicher ist, dass Schuldgefühle und Selbstvorwürfe während der schweren depressiven Phasen eine wichtige Rolle spielten. Sie standen geradezu im Zentrum eines quälenden inneren Monologs. Maria fühlte sich in solchen Zuständen wertlos und als Versagerin. Hinzu kam die Leistungsschwäche, die in ihr das Gefühl verstärkte, anderen eine Last zu sein.

Als drittes fühlte sich Maria noch deshalb schuldig, weil sie aus der Krankheit nicht mehr herausfand, so als läge dies nur an ihrer Schwäche. Ein Arzt und bestimmte spirituelle Ratgeber verstärkten dieses Versagensgefühl, indem sie von Maria forderten, sich „zusammenzureißen“ oder behaupteten, jeder habe sein Schicksal selbst „kreiert“. Nicht nur, dass sie als Depressive ohnehin ein „Loser“ war – Maria versagte auch noch darin, die therapeutischen Ratschläge, die sie erhielt, erfolgreich umzusetzen. Ein Teufelskreis, aus dem sie erst durch Psychopharmaka wieder herausfand.

Marias Beispiel ist besonders drastisch, jedoch ist die hier skizzierte Dynamik kein Einzelfall. Ein vielschichtiger Zusammenhang zwischen bewussten wie unbewussten Schuldgefühlen und seelischen Leiden ist bei vielen Menschen gegeben – mögen die Details ihrer Geschichte auch anders sein und mag sie ihre Krankheit auch nicht an den Rand des Selbstmords gebracht haben.

Die Menschheit lebt unter einer schwarzen und drückenden Schuldwolke. Wie jede Wolke hindert uns auch diese oft daran, die Sonne zu sehen. Schuldgefühle machen uns müde, traurig und ängstlich, womit auch schon drei „Volkskrankheiten“ benannt sind, von deren Besorgnis erregender Zunahme in den letzten Jahren die Presse oft berichtet hat: Burnout, Depression und Angststörungen. Ein viertes kommt hinzu:

Schuldgefühl macht uns klein. Es lässt uns zutiefst an unserem Wert zweifeln. Es lässt uns unsicher werden, ob wir es überhaupt verdienen, glücklich zu sein.

In der Folge laufen viele von uns als Schatten des Menschen herum, der sie eigentlich sein könnten. Schuldgefühle haben eine ähnliche Wirkung wie die gespenstischen „Dementoren“, die in den Harry-Potter-Büchern als Gefängniswärter fungieren: Ihre Gegenwart laugt aus, sie raubt den Eingesperrten alle Kraft und allen Lebensmut, nur noch ein Gefühl schwärzester Trostlosigkeit bleibt übrig.

Es wäre sicher falsch, pauschal zu behaupten, dass Schuldgefühle die Ursache aller anderen psychischen Störung seien. Dies muss in jedem Einzelfall untersucht werden. Auffällig ist aber doch, dass das Thema in psychologischen Zusammenhängen wenig zur Sprache kommt – auch in Ratgeberbüchern, die sich mit Potenzialentfaltung, Heilung und der Befreiung von Energien befassen. Dabei liegt der Zusammenhang sehr nahe:

  • Wer sich schuldig fühlt, wird Anstrengungen unternehmen, dies unbewusst durch Leistungen zu kompensieren. Außerdem hilft Arbeit beim Verdrängen. Wer mit Schuldgefühlen zu kämpfen hat, läuft also Gefahr, sich zu überanstrengen (Thema Burnout).
  • Wer sich schuldig fühlt, bremst seine Lebenslust, Tatkraft und Energie stark aus. Um den Schmerz zu bekämpfen, der mit der Erinnerung an eine „dunkle Vergangenheit“ und an die damit verknüpfte Verachtung der Mitmenschen verbunden ist, wird er Wege suchen, die Intensität seiner Gefühle zu reduzieren. Er wird auf Sparflamme leben oder – anders ausgedrückt – in einer vereisten Welt ohne Farben und Freude (Thema Depression).
  • Schließlich wird, wer sich schuldig fühlt, stets Angst vor Entdeckung, Verachtung und Strafe empfinden. Auch wo kein juristischer Straftatbestand vorliegt, kann es sein, dass der Mensch unter der Schuldwolke um seine Beziehungen und seine gesellschaftliche Stellung bangt oder, wenn er religiös ist, die Strafe Gottes fürchtet (Thema Angststörungen).

Solchen weltlichen und überweltlichen Strafen versuchen viele zuvorzukommen: durch Selbstbestrafung. Ein drastisches Beispiel hierfür ist der Country-Sänger Johnny Cash. Er durchlebte in den 1960ern eine schwere Krise wegen Medikamentenmissbrauchs. Trotz seiner großen Erfolge mit Hits wie „Ring of fire“ war er in seiner Jugend labil und dünnhäutig, trank und kam mehrfach mit dem Gesetz in Konflikt. Im Oktober 1967 legte er sich in eine Höhle zum Sterben. Mit Hilfe seiner späteren Frau June Carter gelang ihm aber der Entzug, er konnte sein Leben und seine Karriere wieder auf Kurs bringen. Johnny Cash fühlte sich schuldig am Tod seines Bruders Jack, der sich 1944 mit einer Kreissäge tödlich verletzt hatte. Als Johnny von einem Ausflug heimkam, begrüßte ihn der Vater mit dem Vorwurf: „Wo bist du gewesen?“ Er suggerierte ihm, Jacks Tod durch Abwesenheit, quasi durch unterlassene Hilfeleistung, verschuldet zu haben. Außerdem sei eigentlich der falsche der beiden Brüder gestorben. Cash trug sein Leben lang schwer an dem Vorfall. Auch wenn ein Zusammenhang zu Tablettensucht und Todeswunsch schwer zu beweisen ist, liegt die Schlussfolgerung doch nahe.

Das unausgesprochene Motto der Menschen mit einem besonders empfindlichen Gewissen lautet: „Je schlechter es mir geht, desto besser für die moralische Ordnung im Ganzen.“

Oder: „Je mehr Lebendigkeit ich bei mir unterdrücke, desto eher sind Vergebung und Seelenfrieden möglich.“ Das Problem ist in vielen Fällen, dass eine Tat schwer wieder gut zu machen ist. Einen Ast, den wir unabsichtlich geknickt haben, können wir nicht wieder ankleben. Eine Narbe, die wir einem Klassenkameraden bei einer Schulhof-Rauferei zugefügt haben, verheilt nie wieder ganz.

Versäumte Liebe und Fürsorge kann das Kind später im Leben nur sehr schwer wieder ausgleichen. Das Kind ist dann schon „in den Brunnen gefallen“. Wir können unser Leben nicht per Fernbedienung zurückspulen, um zu der Situation zu gelangen, bevor wir den entscheidenden Fehler gemacht haben.

Dieses Gefühl, dass etwas irreparabel ist, verleitet uns zu der Annahme, dass wir auch unsere Schuld nicht loslassen dürften: nie mehr. So wie ein Insekt, das wir zertreten haben, auch nach zwanzig und nach fünfzig Jahren nicht weniger tot ist, nimmt eine strenge Instanz in unserer Seele an, dass sich die Schuld mit der Zeit nicht vermindert.

Die „Kunst“ liegt nun darin, sich nicht vollständig zum Gefangenen der eigenen Vergangenheit zu machen.

Die Frage sollte nicht sein: Was verdient jemand aufgrund früherer Verfehlungen, sondern: was kann aus ihm werden, wenn er es schafft, Schuld zu bewältigen.

Der der ersten Frage richten wir unseren Blick in die Vergangenheit, bei der anderen in die Zukunft. Es ist sicher menschlich anrührend, wenn jemand sich seine früheren Fehler sehr zu Herzen nimmt und das Büßerhemd bis ultimo als die einzige für ihn angemessene Bekleidung betrachtet; allerdings: als von Schwere niedergedrückter, missmutiger, in sich eingesperrter Mensch ist niemand ein angenehmer Zeitgenosse. In den bleiernen Schuhen der Schuld kommt man nicht sehr weit auf seinem Weg. Sie be- oder verhindern nicht nur beruflichen und finanziellen Erfolg, den sich der Büßer schon aus Prinzip nicht gönnt; vereitelt wird auch jener Erfolg, den wir erleben, wenn wir Menschen durch Entfaltung unserer angenehmsten Seiten Gutes tun können.

Es gibt ein schönes Beispiel zum Thema „Schuld und Sühne“ aus der bekannten Schwarzweiß-Filmreihe „Don Camillo und Peppone“. Der Priester Don Camillo hat dem ungeliebten kommunistischen Bürgermeister Peppone einen Streich gespielt und ihm eine Flasche Rhizinus zum Trinken gegeben, was diesen zu einem unangenehmen Daueraufenthalt auf der Toilette zwang. „Jesus“, der vom Kreuz herunter mit Don Camillo spricht, ruft in diesem allerdings schon bald einen Wunsch nach Sühne wach. Zerknirscht trinkt Camillo selbst eine Flasche Rhizinus aus. Ist dies eine angemessene Form des „spirituellen Lernens“ oder lediglich ein kindlicher Versuch, Gerechtigkeit mit dem Holzhammer zu erzwingen? Ich sehe in dieser Szene ein Symbol für den herrschenden Selbstbestrafungswahn, die Unfähigkeit zur Gnade – auch sich selbst gegenüber. Es wäre besser gewesen, Don Camillo hätte sich bei Peppone entschuldigt und ihm eine Flasche Wein geschenkt.

Leid wird nicht aufgehoben, indem man es verdoppelt, sondern indem man dem Geschädigten oder anderen Menschen ausgleichende Freude zukommen lässt. Die Exterroristin Silke Meier-Witt, früher Mitkämpferin der „Roten Armee Fraktion“, hat als gerechten Ausgleich für ihre Taten nicht den Selbstmord gewählt. Stattdessen betreute sie von 2000 bis 2005 Waisenkinder im Kosovo und setzte sich im Auftrag des Forums Ziviler Friedensdienst für die Versöhnung zwischen Mazedoniern und Albanern ein. Sie sagte im Rückblick über ihre Zeit bei der RAF: „Reue ist schwierig. Ich empfinde eher Scham. Ich kann mich mit dem, was ich getan habe, nicht identifizieren.“ Auch gesteht sie ein: „Ich habe damals nicht verstanden, dass Gewalt keine Lösung ist.“ Die Art von Meier-Witts Engagement hing also unmittelbar mit den Erkenntnissen aus ihren früheren Fehlern zusammen. Sie verarbeitete diese konstruktiv: „Ich bin nach wie vor zuversichtlich, dass Hass und Gewalt überwunden werden können.“

Die Energie, die wir für Selbstbestrafungsaktivitäten einsetzen, fehlt uns beim Aufbau einer gerechteren und liebevolleren Welt. Die fünf Minuten, in denen wir unseren Rücken mit der Geißel blutig schlagen, hätten wir besser genutzt, um einen lieben Menschen zu streicheln. Das Wort, das wir verdammend gegen uns selbst richten, wäre besser genutzt, um einen anderen zu loben oder zu trösten.

Der völlig von seinem Schuldgefühl Gelähmte entzieht sich der Welt als ein schöpferisch tätiger, Liebe gebender und empfangender Mensch. Er fügt seinem ursprünglichen Fehler also noch einen zweiten hinzu, indem er sich nicht zugesteht, auf die ihm eigene Weise zu leuchten.

Das Beste, was jemand als schuldig Gewordener tun kann, ist, seine Mitmenschen künftig durch die bestmögliche Version seiner selbst zu erfreuen. Wir „büßen“, wenn dies schon sein muss, am besten durch ein gelungenes Leben.

Vielfach wird der Gedanke, Schuldgefühl sei eine Krankheit, Widerstände auslösen. Ist es nicht vielmehr eine gesunde Reaktion auf begangene destruktive Taten? Wir wollen hier nicht behaupten, dass Schuldgefühl unter allen Umständen pathologisch ist. Dies hängt einerseits davon ab, wie stark das Gefühl ausgeprägt ist und in welchem Maß es das Wohlbefinden beeinträchtigt; andererseits hängt es natürlich davon ab, ob es berechtigt ist. Wichtig ist aber, zunächst festzustellen, dass Schuldgefühle ein Leiden darstellen – und oft eines mit schlimmen Folgen für die seelische Befindlichkeit und das Lebensglück eines Menschen. Wer Leid erlebt, entwickelt daraus normalerweise den Wunsch nach Heilung. Die Betroffenen beginnen, sich um Linderung zu bemühen und suchen nach einem passenden Arzt. Wenn ich im Winter unter Verstimmungen leide, nehme ich Johanniskrautkapseln, gegen Rückenschmerzen habe ich mir ein wirkungsvolles Gymnastikprogramm „verschrieben“ und bei einer Nierenkolik halfen nur noch der Notarzt und die Einlieferung in eine Klinik.

Bei Schuldgefühlen ist das anders. Sie sind nicht nur selbst leidbehaftet, sondern bewirken, dass wir uns unbewusst nicht zugestehen, von diesem Leiden überhaupt geheilt zu werden. Der tatsächlich oder vermeintlich Schuldbeladene ist nicht mehr in der Lage, sich selbst die Befreiung von Schuldgefühlen zu gönnen.

Denn wie könnte jemand, der etwas dermaßen Schlimmes verbrochen hat, seelisch unbelastet weiterleben dürfen, ohne dass sich darin empörendes Unrecht zeigt? So ist der mit Schuldgefühlen Behaftete oftmals sein eigener Ankläger, Richter und Gefängniswärter in einer Person. Leider viel zu selten auch sein Strafverteidiger. Er drangsaliert, boykottiert und behindert sich selbst in allen Lebenslagen. Und das geschieht – was die Sache natürlich nicht einfacher macht – sehr oft unbewusst. Wie schaffe ich es, mir mit Schuldgefühlen beständig mein Leben zu vergällen? Das wäre ein noch ungeschriebenes Zusatzkapitel zu Paul Watzlawicks famosem Anti-Ratgeber „Anleitung zum Unglücklichsein“. Ironisch könnte man die Grundhaltung des Menschen unter der Schuldwolke so charakterisieren: „Jemandem wie mir ein erfülltes Leben zu gönnen, käme einer Verhöhnung meiner Opfer gleich.“

Leider spielt in diesem Zusammenhang auch die Schuldfixierung unserer Kultur eine große Rolle, in der das möglichst große Leiden des Täters als adäquate Antwort auf die Tat gilt. Und dies gilt für das weltliche Justizsystem ebenso wie für religiöse Vorstellungen von Gottes Zorn, Hölle und Strafe. Seit Jahrhunderten herrscht in vielen Lebensbereichen eine Mentalität der „Schwarzen Pädagogik“ vor. Das heißt: Verhältst du dich korrekt oder gar gütig, passiert gar nichts; beim kleinsten Vergehen schaltet sich dagegen sogleich ein riesiger Verfolgungs- und Strafapparat ein. In meiner Heimat Bayern gibt es hierzu den Spruch: „Ned g’schimpft is gnua g’lobt“. Diese Einstellung ist auch vielfach im Privatleben, in Familien, in Schulen und Betrieben üblich. In einem solchen gesellschaftlichen Klima verwundert es nicht, dass Menschen diese negative Fixierung verinnerlichen und sich ihr eigenes Leben als Strafe inszenieren. Manche Lebenssituationen gleichen Höllen, in denen wir die Rolle des Teufels gleich selbst übernehmen.

Wie viel Potenzial, wie viel Lebenslust wurde zunichte gemacht durch Schuldgefühle! Aus der Lebensfülle, die wir uns selbst vorenthalten haben – im sinnlosen Verlangen nach Selbstbestrafung – könnte man einen ganzen Himmel bauen.

Dies ist schon traurig anzuschauen bei Menschen, die sich wirklicher Verbrechen schuldig gemacht haben. Hätte es für die Verarbeitung ihrer Taten nicht konstruktivere Lösungen gegeben, als dem Leiden der Opfer das ihre hinzuzufügen? Diese Ankläger- und Büßerkultur ist jedoch ein Skandal und geradezu eine Menschheitskatastrophe in Anbetracht der Tatsache, dass ein Großteil der Schuldgefühle, die kursieren, tatsächlich völlig unnötig ist.

Ich möchte mit diesem Artikel einen Impuls geben zur Befreiung. So wenig ein Text allein auch zu bewirken vermag, möchte er Teil einer geistigen Bewegung sein, die die schwarze Wolke unserer Schuldkultur beiseiteschiebt, damit die Sonne sichtbar werden kann. Ich wünsche mir, dass meine Leserinnen und Leser die Gitterstäbe zerbrechen, die sie selbst – mit tatkräftiger Unterstützung eines Heers aus Nörglern, Anklägern und Bußpredigern – aus Fehldeutungen der eigenen Lebensgeschichte geschmiedet haben. Ich möchte, dass meine Leser von den traurigen Verhaltensweisen des Selbstboykotts und des Selbstverrats Abstand nehmen, die immer dann zu beobachten sind, wenn jemand sein Leben in eine Bußübung verwandelt. Auch andere Menschen können davon profitieren, wenn sie mit größerer Heiterkeit und emotionaler Freiheit durchs Leben gehen.

Für das bewegende Hollywood-Drama „Good Will Hunting“ (1997) schrieben die beiden damals jungen Schauspieler Matt Damon und Ben Affleck das Drehbuch. Sie zeigten darin erstaunliche Reife und beschrieben den Weg eines genialen jungen Mathematikers (Damon), der sich durch plötzlich ausbrechende Gewalttätigkeit in seinem Leben immer wieder selbst ein Bein stellte. Will Hunting stünde der Weg zu einer großen Karriere offen, aber er muss zunächst seelischen Ballast beiseite räumen. Dazu konsultiert er auf Anraten seines Professors einen so scharfsinnigen wie warmherzigen Psychotherapeuten (Robin Williams). Der führt ihn Schritt für Schritt an ein Kindheitstrauma heran – er wuchs in Pflegefamilien auf und wurde schwer misshandelt. Will sperrt sich gegen die Erkenntnis, gibt sich – wie viele Jugendliche heute – „cool“ und widerborstig. Bis der Therapeut den Schlüssel zu seiner hinter Mauern verbarrikadierten verletzten Seele findet. Der heilende Satz lautet:

„Du kannst nichts dafür.“

Will Hunting versteht zunächst nicht, versucht auszuweichen und Scherze zu machen. Doch der Therapeut beharrt, blickt ihm in die Augen, rüttelt ihn an den Armen, wiederholt immer wieder diesen einen Satz: „Du kannst nichts dafür.“ Da bricht es aus Will heraus, Tränen der Erleichterung dürfen fließen und all den angestauten Schmerz wegschwemmen. Erkenntnis in die Wahrheit der eigenen Unschuld bedeutet Heilung. Freilich ist auch die Hauptfigur kein Unschuldslamm. Aus einer Opfererfahrung erwachsen oft eigene schuldhafte Taten. Es ist nicht die feine Art, wie Will Hunting zu Beginn des Films mit Fäusten und Worten wild um sich schlägt und andere verletzt. Aber unter der Schuld verborgen liegt eine Schicht der Unschuld – gleichsam eine Goldader unter den grauen Tonnen des Schuld- und Schmerzgerölls. Wenn wir sie freilegen, sind wir selbst frei.


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Buchtipp: Monika Herz, Roland Rottenfußer: Schuldentrümpelung. Wie wir uns von einer erdrückenden Last befreien. Goldmann Verlag, 256 Seiten, 9,99 €


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