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Die Umverteilungsagenda

Die Umverteilungsagenda

Gesellschaftlicher Wohlstand kann nicht durch eine Politik geschaffen werden, die zu einer Verarmung der Massen führt. Diese Dynamik führte auch zu dem aktuellen Börsengewitter.

Zunehmende Vermögenskonzentration in den USA

Laut Angaben der US-Notenbank FED haben sich die Vermögen in den USA von 1989 bis 2023 deutlich konzentriert. Im dritten Quartal 2023 besaßen die oberen 10 Prozent der Einkommensbezieher in den USA demnach 66,6 Prozent aller Vermögen, 1989 waren es noch 60,9 Prozent gewesen.

Der Anteil der unteren 90 Prozent verminderte sich in den 34 Jahren von 1989 bis 2023 entsprechend von 39,1 auf 33,4 Prozent. Die oberen ein Prozent besaßen 2023 30,5 Prozent aller Vermögen, 1989 waren es noch 22,9 Prozent gewesen. In den 34 Jahren von 1989 bis 2023 kann man also eine deutliche Vermögensverschiebung zugunsten der oberen ein Prozent und zu Lasten der „unteren“ 99 Prozent feststellen.

Auswirkungen zunehmender Vermögenskonzentration

Welche Auswirkungen hat zunehmende Vermögenskonzentration? Abgesehen von zunehmender politischer und gesellschaftlicher Einflussnahme durch Milliardäre, heißt steigende Vermögenskonzentration, dass ein immer größerer Anteil der Kapitaleinkommen an die oberen 10 beziehungsweise 1  Prozent der Bevölkerung fließen.

Wenn die oberen ein Prozent der Haushalte über 30 Prozent der Vermögen besitzen, fließen entsprechend auch über 30 Prozent aller Dividenden, Mieten, Pachten und Zinsen an die oberen ein Prozent der Haushalte. Wie viel Geld ist das?

Unternehmensgewinne

Im ersten Quartal 2024 beliefen sich die US-Unternehmensgewinne nach Steuern laut Angaben der US-Notenbank auf annualisiert 3.168 Milliarden US-Dollar. Das entspricht 11,2 Prozent vom Sozialprodukt. Von 1947 bis 2000 lagen die US-Unternehmensgewinne im Durchschnitt bei 6 bis 7 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt (BIP). Ab der Jahrtausendwende setzte ein starker Anstieg ein, sodass seit 2010 der Anteil der Unternehmensgewinne durchschnittlich bei knapp 11 Prozent liegt.

In den letzten Jahrzehnten hat sich also nicht nur der Vermögensanteil der obersten ein Prozent deutlich erhöht, sondern auch die Gewinnquote der Unternehmen, die zum großen Teil ihnen gehören, sodass die wohlhabendsten US-Amerikaner gleich doppelt profitiert haben — zu Lasten der anderen US-Haushalte, deren Anteil sich entsprechend vermindert hat.

Zinseinnahmen

Die Schulden der privaten Haushalte, der Unternehmen — ohne Finanzdienstleistungsunternehmen — und des Staates beliefen sich in den USA Anfang der 1980er Jahre auf etwa 135 Prozent der gesamtwirtschaftlichen Leistung (BIP). Im ersten Quartal 2024 betrugen sie 264 Prozent vom BIP. Die Schulden pro Dollar Sozialprodukt haben sich seit 1980 also etwa verdoppelt. Seit der Finanzkrise waren die Zinsen so niedrig wie noch nie in der US-Geschichte und die US-Notenbank hat in großem Umfang frisches Zentralbankgeld gedruckt — seit der Finanzkrise hat sich die Zentralbankgeldmenge beinahe verneunfacht. Auch das gab es noch nie in der US-Geschichte.

Deshalb hat der stark gestiegene Schuldenberg in den letzten 15 Jahren keine große Rolle gespielt — einfach, weil sehr wenig Zinsen gezahlt werden mussten. Seit Frühjahr 2022 hat sich dies jedoch gedreht. Die US-Notenbank FED hat die Zinsen sehr stark — von Null auf gut 5 Prozent — erhöht und auch die langfristigen Zinsen für Staatsanleihen haben sich mehr als verdoppelt — von etwa 1,5 Prozent 2021 auf circa 4 Prozent heute. In den nächsten 10 Jahren sollen die Zinsen in etwa zwischen 3 Prozent (3-Monatszinsen) und 4 Prozent (10-Jahrezinsen) bleiben.

Rechnet man also mit Zinsen von durchschnittlich etwa 3,5 Prozent, fließen in den kommenden Jahren gut 9 Prozent vom BIP an die Inhaber der Schuldpapiere, das heißt im Wesentlichen an die oberen 1 bis 10 Prozent der Haushalte. Für das Jahr 2024 wären das in etwa 2.600 Milliarden US-Dollar. In Wirklichkeit dürfte der Betrag jedoch um einiges höher sein, vermutlich mindestens 3.000 Milliarden Dollar, weil die Zinsen für Privatkredite und Unternehmen deutlich höher sind als die Zinsen, die die US-Regierung zahlen muss.

Wer zahlt die Zinsen? Die Staatsschulden werden über die Steuern finanziert. Selbst die ärmsten Bevölkerungsschichten zahlen Steuern, zum Beispiel über die Mehrwert- oder Benzinsteuer. Die Unternehmensschulden werden auf die Produktpreise auf die Kunden umgelegt. Bei jedem Einkauf zahlt jede Konsumentin und jeder Konsument die Unternehmensschulden.

Letztlich werden also sämtliche Zinsen, egal ob der Staat, die Unternehmen oder die privaten Haushalte die Schulden haben, von den privaten Haushalten gezahlt. Wie gesagt, das sind derzeit vermutlich über 3.000 Milliarden Dollar pro Jahr.

Da sich in den letzten Jahrzehnten nicht nur der Vermögensanteil der obersten ein Prozent deutlich erhöht hat, sondern in jüngster Zeit auch noch die Zinsen dramatisch gestiegen sind, haben die wohlhabendsten US-Amerikaner auch hiervon gleich doppelt profitiert — zu Lasten der anderen US-Haushalte, die die Zinsen bezahlen.

Mieten

Gut ein Drittel der US-Haushalte leben nicht in den eigenen vier Wänden: 34,3 Prozent Ende 2023. Die US-Mieten sind in den letzten 4 Jahren sehr stark gestiegen: Von 2020 bis 2023 sind die bei Neuverträgen verlangten Mieten um 30 Prozent gestiegen. Etwa jeder zwölfte US-Haushalt zahlt mehr als die Hälfte seines Einkommens für Miete.

Wie hoch der Betrag für die insgesamt bezahlten Mieten und Pachten in den USA ist, ist sehr schwer abzuschätzen. Unterstellt man ähnliche Relationen wie in Deutschland, wo die Bodenerträge 2017 etwa 12 Prozent vom BIP ausmachten, so könnten heute in den USA etwa 3.500 Milliarden Dollar für Bodenerträge bezahlt werden.

Durch die in jüngster Zeit stark gestiegenen Mieten haben die oberen ein Prozent der US-Amerikaner gleich doppelt profitiert, da ja auch ihr Vermögensanteil über die letzten 30 Jahre und damit vermutlich auch ihr Anteil an Mietobjekten stark zugenommen haben dürfte.

Zwischenergebnis

Halten wir fest: Der Vermögensanteil der oberen ein Prozent der US-Haushalte ist heute so groß wie noch nie in der jüngeren US-Geschichte. Der Vermögensanteil der unteren 90 Prozent der US-Haushalte ist heute mit etwa einen Drittel deutlich niedriger als vor einer Generation, wo er knapp 40 Prozent betrug.

Was heißt das für die Ökonomie? Allein durch diese Vermögensverschiebung zugunsten der sehr Wohlhabenden fließt ein immer größer werdender Strom an sogenannten leistungslosen, nichts-arbeits- oder passiven Einkommen an die Oberschicht.

Dieser Trend hat sich in den letzten 20 Jahren durch zwei Faktoren noch besonders verschärft. Erstens sind die Unternehmensgewinne seit Anfang des Jahrtausends auf historische Hochstände gestiegen. Zweitens sind die Schulden auf neue historische Höchststände gestiegen. Durch die dramatischen Zinsanhebungen der letzten beiden Jahre sind die Zinszahlungen in kurzer Zeit enorm angestiegen, sodass heute ein ungleich höherer Strom von Zinszahlungen an die wohlhabendsten Haushalte fließt.

Addiert man die oben geschätzten Zahlen — 3.200 Milliarden Dollar Unternehmensgewinne nach Steuern, 3.000 Milliarden Zinszahlungen, 3.500 Milliarden Bodenerträge, so ergibt sich ein Volumen von etwa 9.700 Milliarden Dollar leistungslose, passive Nicht-Arbeitseinkommen aus Vermögen. Das ist gut ein Drittel vom BIP. Davon gehen etwa 30 Prozent an die oberen ein Prozent. Das wären etwa 2.900 Milliarden Dollar pro Jahr. Pro Kopf sind das etwa 850.000 Dollar pro Jahr. Jeder der etwa 3,4 Millionen Amerikaner, die zu den obersten ein Prozent gehören, bekommt derzeit pro Jahr also etwa 850.000 Dollar Einkommen, ohne dafür arbeiten zu müssen, im Wesentlichen in Form von Mieten, Pachten, Dividenden und Zinsen.

Wer zahlt dieses Geld? Diejenigen, die keine oder geringe Vermögen haben, also im Wesentlichen die unteren 50 bis 90 Prozent der Bevölkerung, beispielsweise über die Produktpreise, über die Steuern oder durch Zinszahlungen für Hausbaukredite oder andere Haushaltsschulden.

Das heißt, dass die „Normalhaushalte“ in den USA langsam aber sicher immer mehr Geld abführen müssen an die Vermögens- und Geldoberschicht. Dadurch nimmt auch die Ungleichverteilung der Einkommen zu.

Zunehmende Ungleichverteilung der US-Einkommen

Eine umfangreiche Studie des Pew Research Center von Anfang 2020 zeigt, dass in den 48 Jahren von 1970 bis 2018 die upper income-Haushalte, das sind Haushalte, die das Doppelte oder mehr des Medianeinkommens verdienen, ihren Anteil an den gesamten Einkommen von 29 Prozent im Jahr 1970 auf 48 Prozent erhöht haben. Der Anteil der middle income-Haushalte, die 66 bis 200 Prozent des Medianeinkommens verdienen, sank von 62 Prozent 1970 auf 43 Prozent 2018 und der Anteil der lower income-Haushalte mit weniger als 66 Prozent der Medianeinkommen sank von 10 auf 9 Prozent aller Einkommen.

1980 verdienten die oberen 10 Prozent der Haushalte 9,1-mal so viel wie die unteren 10 Prozent, 2018 war es 12,6-mal so viel. Die Schere geht auf.

Kurz: Die Entwicklung der 48 Jahre von 1970 bis 2018 zeigt eine beeindruckende Einkommensverschiebung von den unteren und den mittleren zu den oberen Einkommen.

Die hier aufgezeigten Entwicklungen fanden übrigens nicht nur in den USA, sondern in fast allen Industrie- und sehr vielen Entwicklungsländern statt.

Fazit

Was haben diese Entwicklungen mit dem Börsengeschehen zu tun? Sehr viel. Durch die zunehmende Ungleichverteilung bei Vermögen und Einkommen bleiben seit Jahrzehnten die Masseneinkommen hinter dem Wirtschaftswachstum zurück. Die dadurch entstehende Nachfragelücke konnte in den letzten 50 Jahren über immer weiter steigende Schulden gelöst werden. Dieses auf Schulden gebaute Wirtschaftswachstum stößt aber nun an seine Grenzen. Denn die Zinsen sind heute zu hoch, um so weiterzumachen. Auch weiteres Gelddrucken durch die Notenbanken über Quantitative Easing und eine neue Runde Nullzinspolitik dürften wegen der schlechten Inflationserfahrungen der letzten beiden Jahre und den daher heute bestehenden Inflationssorgen kaum erneut machbar sein.

Das heißt, irgendwann dürfte einem großen Teil der US-Haushalte ökonomisch die Luft ausgehen.

Es wird immer schwieriger, Konsum und Wachstum weiter anzutreiben. Dann dürften Nachfrage, Umsätze, Konjunktur — und die Unternehmensgewinne ins Stocken kommen. Und wenn die Unternehmensgewinne nicht mehr steigen oder gar sinken, dann müssten auch die Börsenkurse sinken.

Der S&P 500 ist derzeit so hoch bewertet wie fast noch nie in der Geschichte. Das Kurs-Gewinn-Verhältnis ist mit 27,7, das heißt die Gewinne der vergangenen 12 Monate, etwa 75 Prozent teurer als in den letzten 150 Jahren, die Rendite auf Aktieninvestments mit 3,6 Prozent, das heißt die Gewinne der letzten 12 Monate, nur halb so hoch wie in den letzten 150 Jahren.

Kurz: die US-Börsen sind, historisch betrachtet, ungewöhnlich hoch bewertet. Das Gleiche gilt übrigens für die Hauspreise in den USA: Gemessen an den Medianeinkommen sind die Häuser heute so teuer wie noch nie in der Nachkriegszeit und deutlich teurer als kurz vor dem Platzen der US-Immobilienblase 2007.

Falls die Konjunktur in den kommenden Monaten tatsächlich lahmen oder die Börsen- (und Immobilien-)bewertungen sich wieder den in der Vergangenheit geltenden Einschätzungen annähern sollten, stünde ein erheblicher Korrekturbedarf an. Das könnte leicht zu Wirtschaftsproblemen, hoher Arbeitslosigkeit und — angesichts der momentan sehr starken internationalen Spannungen — zu internationalen Verwerfungen oder Unruhen führen.

Die Vermögens- und Einkommensentwicklungen der letzten 50 Jahre waren nicht nur asozial, sondern sind auch gesamtgesellschaftlich ziemlich gefährlich. Wir tanzen auf einem Vulkan.


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