Beim Anblick der Welt an einem Morgen des Jahres 2021 bietet sich dem Betrachter ein Bild, das sich augenscheinlich zunächst nicht sonderlich von dem unterscheidet, das er noch vor einigen Monaten sah. Ein Stein steht noch auf dem anderen, keine Rauchsäulen verdecken die Morgensonne, auf den Bürgersteigen liegen keine Toten. Auf den Straßen fließt der Berufsverkehr, keine Militärkonvois. Für einen kurzen Moment könnte man der Illusion erliegen, alles sei wie immer.
Doch schon kommen die ersten Dissonanzen, die das Trugbild enttarnen. Auf dem Bürgersteig fährt ein maskierter Radfahrer. Ein Bus mit maskierten Fahrgästen zieht vorbei, die apathisch auf ihr Handy blicken. „Frieden“ herrscht in diesem Bus nur so lange, bis einer der Fahrgäste die Maske abnimmt oder sogar „unmaskiert“ einsteigt. Die scheußlichsten Gruppendynamiken würden sich Bahn brechen und die Menschen würden dem Ausreißer an den maskenfreien Kragen gehen. Vor dem Bäcker an der Straßenecke wartet eine geordnete Schlange. Alle stehen da, maskiert und an den durch Bodenmarkierungen vorgeschriebenen Positionen.
Irgendwie ist alles gleich und doch alles anders. Die politisch Verantwortlichen führen Krieg gegen die eigene Bevölkerung. Der vierte Weltkrieg zeigt sich in der verstörenden Andersartigkeit und diesem unbestimmten, schwer zu umschreibenden Etwas, das in der Luft liegt. Ganz so, als flögen Dementoren über unsere Dächer und würden ihre Lebenskraft-raubende Beklemmung in jeden Winkel hineintragen.
Giorgio Agamben fand hierfür folgende Worte:
„Welches Haus brennt? Das Land, in dem du lebst, oder Europa oder die ganze Welt? Vielleicht sind die Häuser, die Städte schon niedergebrannt, wir wissen nicht, seit wann, in einem einzigen immensen Brand, den wir nicht zu sehen vorgaben. Von einigen bleiben nur Mauerstücke, eine mit Fresken bemalte Wand, ein Stückchen des Daches, Namen, viele Namen, schon angebrannt. Und doch bedecken wir sie so akkurat mit weißem Putz und verlogenen Worten, dass sie intakt erscheinen. Wir leben in Häusern, in Städten, die von oben bis unten verbrannt sind, als ständen sie noch. Die Leute täuschen vor, dort zu leben, und treten maskiert hinaus auf die Straße zwischen die Ruinen, als wären es noch die vertrauten Viertel von einst.“
„Und nun hat die Flamme ihre Form und Natur verändert, ist digital, unsichtbar und kalt geworden, aber gerade deshalb ist sie näher, umgibt uns immer und überall.“
Weite Teile der Bevölkerung übernehmen die Elemente der neuen Normalität — Maske, Isolation und Social Distancing — wie Computer eine installierte Software. Und wie eine Firewall attackieren sie jene, die dieses Update verweigern. Sie leben weiter, als sei nichts geschehen. Aber dieses schwer zu beschreibende Unheil, das sich jedem noch klar denkenden und fühlenden Menschen schonungslos aufdrängt, wird weitläufig in kaum nachvollziehbarer Selbstverständlichkeit akzeptiert.
Eine Apokalypse hat sich unbemerkt ereignet, kam statt mit lauten Stiefeln auf leisen Sohlen daher. Ein von Zerstörungswut getriebener Godzilla hat sich in Herz und Hirn vieler Mitmenschen eingenistet.
Zurück bleibt ein post-apokalyptischer Zustand, der allerdings den Eindruck zu erwecken vermag, die Apokalypse hätte gar nicht stattgefunden. All die sichtbaren Veränderungen seien nur vorübergehend und die Spritze würde uns alle erlösen, heißt es stets. 2020 hat uns verwaist in einem „day after tomorrow“ hinterlassen, dessen Folgetag schwer zu prognostizieren ist, der in einem Nebel liegt, den wir nur schwerlich zu durchdringen vermögen. Der Grad der Vorhersehbarkeit der Zukunft ist gegen Null gewandert.
Corona und die neue Normalität als Post-Apokalypse
Das Wort Apokalypse wird allgemein viel zu voreilig mit spektakulären Weltuntergängen gleichgesetzt. Dabei bedeutet dieser (biblische) Begriff auch so etwas wie „Offenbarung“. Und die Corona-Krise offenbarte und offenbart all das, was unter der hauchdünnen Schicht der Zivilisation brodelte und schwelte: Ein nicht ausgelebter Hang zum Sadismus; der Wunsch, einmal in die Rolle einer Autorität zu schlüpfen; die Gelegenheit, seine eigene Tugendhaftigkeit und Beharrlichkeit beim Befolgen auferlegter und mit moralischem Gehalt aufgeladener Regeln zu beweisen. Offenbar wurde uns somit auch die Zerrissenheit unserer Gesellschaft gewahr.
Doch zugleich ähnelt unsere Welt nicht der Szenerie eines post-apokalyptischen Science-Fiction-Films. Es ist ein seltsamer Zwischenzustand, der sich auf der zwischenmenschlichen, aber auch auf der körperlichen Ebene manifestiert.
Um bestimmte Merkmale dieser Apokalypse herauszuarbeiten, können wir uns an einer Referenz orientieren. Hierzu soll die russische Romanreihe Metro 2033-35 von Dimitri Glukhovsky herhalten, die das Thema „Post-Apokalypse“ sehr umfangreich und mit außerordentlichem philosophischen Tiefgang bearbeitet.
Diese Reihe spielt — wie der Titel es bereits vermuten lässt — im Russland der Jahre 2033 bis 2035, in einer Zeit nach einem verheerenden Atomkrieg. Die letzten Überlebenden haben sich in die U-Bahnschächte der Großstadtmetropolen zurückgezogen und fristen dort ein kärgliches, immerzu bedrohtes Dasein in Elend und Dunkelheit. In drei Bänden wird das post-apokalyptische Leben in der Moskauer Metro beschrieben.
Die Menschen „leben“ auf die U-Bahnstationen verteilt, die jede für sich eine Art Staat bildet, manchmal im Schulterschluss mit anderen Stationen einen Staatenverbund. So sind demokratisch organisierte, kommunistische und totalitäre Stationen entstanden, zwischen denen immer wieder Kriege ausbrechen. Da die Ressourcen knapp sind und in den unheimlichen Tunneln zwischen den Stationen mannigfaltige Gefahren lauern, stehen die Stationen/Staaten in einem ständigen Spannungsverhältnis, um das Minimum an Lebensnotwendigkeit aufrecht zu erhalten. In dieser Metro gleicht das sogenannte „Leben“ mehr einem verzweifelten Überleben, bar eines Ziels, das über dieses Grundbedürfnis hinausgeht.
Denn eine Rückkehr an die Oberfläche ist nicht absehbar — zu radioaktiv verseucht ist die Erdoberfläche. Lediglich mit Schutzanzügen können die Menschen für einen kurzen Moment „nach oben“ gehen, um Rohstoffe und Wertgegenstände aus den Ruinen zu beschaffen.
Protagonist dieser Reihe ist der etwa 20-jährige Artjom. Als der Krieg ausbrach, war er noch ein Kleinkind. Entsprechend hat er nur noch wenige Kindheitserinnerungen an die alte Welt. Den Rest seines Lebens verbrachte er in der Metro — gewissermaßen in der „neuen Normalität“ im übertragenen Sinne — und auch dort hatte er bis zu dem Zeitpunkt, ab dem der Roman beginnt, nur wenige Stationen gesehen.
Es ist schier unmöglich, die Komplexität und Tiefe dieser drei Romanbände auf wenige Sätze herunterzubrechen. Wir sehen uns daher nur einige Etappen von Artjoms Reise durch die Metro an und vergleichen diese mit unserer aktuellen Situation.
Das erste augenscheinliche Merkmal dürfte der Wechsel des menschlichen Habitats sein. So wie die Menschen sich in diesen Romanen in dunkle U-Bahnschächte zurückziehen, so ziehen sich die Menschen in der neuen Corona-Normalität in die eigenen vier Wände, in die sogenannte „Screen-Sphäre“ zurück. Und die Außenwelt, abseits ihrer Fenster, nehmen sie — fast — nur noch vermittels digitaler Screens wahr.
Sowohl in der Buchreihe als auch in unserer neuen Normalität lebt der Mensch überwiegend oder vollkommen an einem Ort, der seinem natürlichen Wesen widerspricht.
In den U-Bahnschächten verkommt er zu einem Wurm, einem kränkelnden Grottenolm. In den eigenen vier Wänden wird der „Homo hygienicus“ (Matthias Burchardt) zu einem eigentümlichen, dem Homo Sapiens zwar ähnlichen, aber doch andersartigen Geschöpf. Ein mehr oder minder aufrecht gehendes Wesen, das im Gegensatz zum Homo Sapiens in eckigen Räumen lebt, auf eckige Bildschirme starrt, zum Jagen und Sammeln mit der Fingerkuppe auf einem Screen scrollt, kaum frische Luft aufnimmt und der Natur weitestgehend noch entfremdeter ist, als es der Mensch im 20. und 21. Jahrhundert sowieso schon war.
Verlorenes Erbe?
Das Ausmaß der Zerstörung einer Apokalypse wird einem erst gewahr, wenn einem das alte, das vormals Heile, Funktionstüchtige vor Augen geführt wird. Wie sah die alte Welt, die alte Normalität aus, ehe wir diese gegen eine neue, keineswegs bessere austauschten? Der junge Artjom wird sich dessen bewusst, als er das erste Mal an die Oberfläche tritt.
Aufgrund der radioaktiven Strahlung muss Artjom hierbei einen Schutzanzug und auch eine Maske tragen. Also – eine richtige Maske. Eine richtige Atemschutzmaske mit eingebauten Filtern et cetera. Zudem können die Menschen die Metro entweder nur nachts oder, wenn tagsüber, dann nur mit einer stark getönten Sonnenbrille verlassen. An das Leben in permanenter Finsternis, nur durch fahle Lichter künstlich beleuchtet, gewöhnt, hätte ein Blick in grelles Sonnenlicht die augenblickliche Erblindung zur Folge.
Auch hier lassen sich gewisse Parallelen herstellen. Im öffentlichen Raum der neuen Normalität müssen wir uns mit einer Maske vor dem Gesicht bewegen, auch wenn diese Notwendigkeit nicht von einem virologischen Schutz, sondern von einer politisch motivierten Demütigung herrührt.
Ein weiterer Aspekt ist die Art und Weise, wie das Leben im neuen, widernatürlichen Habitat den Menschen schadet. So wie die Metro-Bewohner das Sonnenlicht nicht mehr vertragen, so sind wir mittlerweile den Erregern draußen wesentlich schutzloser ausgeliefert als noch in der alten Normalität, weil unser Immunsystem nicht mehr trainiert wird.
Doch kommen wir zum eigentlichen Kern dieses Abschnitts zurück, der Gegenüberstellung der alten und der neuen Normalität/Welt. Artjom erfährt als Erwachsener an der Oberfläche das erste Mal im Ansatz, wie es ist, sich ohne räumliche Begrenzungen zu bewegen, keine Decke, kein Gewölbe über dem Kopf zu haben, sondern nach oben in unendliche Weiten blicken zu können. Zwischen Hochhäusern stehend in weite Entfernungen blicken zu können.
Hier sollten wir uns die Frage stellen: An welches Leben würden wir uns gewöhnen, wenn jene transhumanistischen Denker elitärer Kreise ihre Vision verwirklichen? Eine Welt, in der die Menschen zu körperlich optimierten, also im Sinne ihrer Leistungsfähigkeit verbesserten, aber seelisch verkümmerten Wesen mutieren? Oder aber zu apathischen Wesen, die mit – nicht-bedingungslosem – bedingungslosem Grundeinkommen und Soma-ähnlichen Substanzen ruhig und „glücklichgestellt“ auf ihrem Sofa liegen, sich entertainen lassen und das Haus nur noch mit einer Maske und Impfausweisen verlassen?
Gewöhnen wir uns an eine Welt, auf der wir nur noch maskiert wandeln dürfen, in der wir nur noch auf Splitscreens in Videokonferenzen unseren Mitmenschen begegnen und in der wir Konzerten nur noch vom Wohnzimmer aus beiwohnen?
Gewöhnen wir uns irgendwann so sehr an diese Welt, dass wir die alte mit der Zeit vergessen? Dass wir wie in Gunnar Kaisers Erzählung über „Ein Volk von Kriechern“ vergessen, warum wir irgendwann anfingen, uns zu unterwerfen und eine Maske zu tragen?
Dieser Gewöhnungsprozess scheint schon sehr weit vorangeschritten zu sein. Erkennbar ist dies an der Routine, mit der Menschen ihre Masken tragen, wie die Maske auf immer mehr Werbeplakaten Einzug hält und damit das Erscheinungsbild der neuen Normalität weiter manifestiert.
Ähnlich wie Artjom an der Oberfläche ergeht es Menschen, die derzeit nach Schweden reisen, wie etwa Kai Stuht oder Gunnar Kaiser. Die Reise in das europäische Nachbarland gleicht einer Zeitreise in eine Welt vor dem Jahr 2020. Schweden wurde zu einem Relikt der alten Normalität. Eigentlich banal und selbstverständlich anmutende Dinge werden dort zu einem besonderen Erlebnis, zu einer Quelle nostalgischer Gefühle und Sehnsüchte an die in weiten Teilen der Welt verloren gegangene Freiheit. In den Supermarkt, in ein Restaurant oder ein Café zu gehen ... ohne Maske. Früher wäre niemand in Europa auf die Idee gekommen, mit einer Maske an irgendeinen Ort zu gehen. Heute ist das Gefühl nahezu surreal, unmaskiert bestimmte Orte zu betreten. Es ist gut vorstellbar, dass die Mehrheit mittlerweile durch den Drill der Hygieneverordnungen schon so konditioniert ist, dass beim unmaskierten Betreten öffentlicher Räume Schuldgefühle entstehen, selbst dann, wenn für diese gar kein Maskengebot gilt.
Gute Menschen, böse Natur
Eine der Gefahren, die die Menschen in der Metro Jahre nach dem Atomkrieg bedroht, ist das Vordringen angeblich gefährlicher, furchteinflößender Mutanten von der nuklear verseuchten Erdoberfläche. An den der Erdoberfläche naheliegenden Stationen müssen Wachposten stets die Stellung zu halten, damit die Mutanten nicht eindringen können. Die Menschen der Metro, die ihre gesamte Lebenswelt gefährdet sehen, beschließen, dem Treiben der Mutanten ein Ende zu setzen, was sich als völliges Fehlvorhaben herausstellt. Letztlich kann Artjom die Vernichtung dieser friedvollen Wesen durch eine Rakete nicht mehr verhindern.
Kommt uns hier nicht so einiges bekannt vor? Könnten die Mutanten nicht Platzhalter für die Viren sein? Wie viele Menschen fürchten sich dieser Tage wohl vor den ach so bösartigen Keimen und Viren?
Und wie viele Menschen mutieren in dieser Angst — die ja bekanntlich Seelen auffrisst — selbst zu den bösartigen Monstern, die sie in diesen Viren sehen?
Wie viele fallen selbst dem „Virus“ der Angst anheim, der sie dazu veranlasst, unmaskierte Menschen in Bus und Bahn anzupöbeln, teils körperlich anzugehen oder die Polizei zu rufen, wenn im Haus gegenüber dem Anschein nach mehr als zwei Haushalte gemeinschaftlich zusammensitzen?
Und die heilbringende Impfung? Die Spritze ähnelt nicht nur optisch der eben beschriebenen Rakete. Sie soll das Böse — das Virus — auslöschen, doch bewirkt letztlich das Gegenteil. Die verheerenden Nebenwirkungen, die bereits weltweit dokumentiert werden, legen Zeugnis davon ab.
Zum Schluss lohnt sich noch ein Blick auf die nonverbale Kommunikationsebene, über die die Mutanten mit Artjom kommunizieren, um ihm — zu spät — mitzuteilen, dass sie immerzu mit friedfertiger Absicht in die U-Bahnschächte herabstiegen. Auf einer ähnlichen Ebene funktionieren beispielsweise in der Psychotherapie Aufstellungsmethoden (1), eine Ebene, über die wir Menschen kommunizieren, ohne einen Laut von uns zu geben. Literatur dazu gibt es dazu reichlich (1). Entscheidend ist, dass wir Menschen Emotionen unbewusst versenden und empfangen und damit das um uns befindliche „Schwingungs-/Energiefeld“ beeinflussen, welches wir intuitiv wahrnehmen.
Wie sehr sich diese Felder in Ländern mit und ohne Lockdown unterscheiden, beschreibt der vorhin bereits erwähnte Kai Stuht hier in Bezug auf seine Schweden-Reise. Im lockdownlosen Schweden sei dieses Schwingungsfeld gänzlich anders geladen, mit komplett anderen Emotionen gefüllt. Diese Aussage kann im Grunde genommen jeder überprüfen, indem er in sich hineinlauscht, wie er die Atmosphäre hier in Deutschland wahrnimmt. Ob er in den großen Städten nicht ein gewisses Unbehagen verspürt. Ganz zu schweigen von Empfindungen im öffentlichen Raum, an Haltestellen et cetera. Orte, an denen angstgeladene Menschen misstrauisch und mit einer gewissen Leblosigkeit dastehen und wo so etwas wie Warmherzigkeit und Mitmenschlichkeit so gut wie gar nicht mehr aufkommt.
Der moderne Höhlenmensch
Im letzten Band der Reihe, Metro 2035, hat Artjom nur noch ein Ziel vor Augen: die Metro zu verlassen. Er ist nicht länger gewillt, wie ein Wurm tief unter der Erde zu leben. So unternimmt er immer wieder — ohne Schutzkleidung — Expeditionen an die Oberfläche und gewinnt die Erkenntnis, dass es dort noch Leben gibt. Orte, an denen Leben stattfindet, echtes, richtiges Leben an der frischen Luft, in der Natur, an Orten, an denen man echten Wind auf den Wangen spürt und nicht nur kühle Lüftchen, die aus dem Tunnel hinauswehen.
Bei diesen Abenteuern stößt Artjom in für die Metro-Bewohner unsichtbare, elitäre Zirkel vor. Gewissermaßen ein Tiefenstaat. Diese Metro-Eliten leben in Anbetracht dessen, dass auch ihr Leben unterirdisch stattfindet, mehr oder weniger in Saus und Braus. Sie verfügen über die Medizin, mit der sie selbst jene wieder aufpäppeln, die durch die Strahlung an der Erdoberfläche massiv erkrankt sind, weil sie sich dort zu lange aufgehalten haben. So etwa Artjom. Auch hier könnte man Analogien zu unserem Gesundheitssystem aufstellen.
Darüber hinaus profitieren sie von den Kriegen zwischen den Metro-Stationen und den ewig schwelenden Konflikten zwischen den Bewohnern dieser Unterwelt. Sie sind die einäugigen Könige unter den Blinden und suhlen sich in ihrem — relativen — Wohlstand. Daher haben sie auch kein Interesse daran, dass die Menschen die Metro verlassen, sprich in die Freiheit ausbrechen.
Um die Menschen in der Knechtschaft ihres Elends zu halten, bedürfen die Eliten keines Zwanges. Die Menschen haben ihr Gefangenendasein innerlich längst akzeptiert und resigniert.
Ihr Durst nach Freiheit ist nicht mehr vorhanden. Sie geben sich mit der kümmerlichen Existenz im Dunkeln der U-Bahnschächte zufrieden. Im letzten Kapitel des Romans wird dies Artjom bewusst. Eine klare Analogie zu Platons Höhlengleichnis ist zu erkennen: Artjom möchte sich nicht länger mit einem Schattendasein zufrieden geben, sondern sein ganzes Potenzial als Mensch entfalten und aus der Unterwelt ausbrechen. Doch die Glut in seinen Augen vermag es nicht, bei seinen Höhlen-Mitmenschen ein Feuer zu entfachen.
Im Gegenteil. Sie verspotten ihn, bezeichnen ihn als wirren Spinner. Artjom erkennt, dass es hoffnungslos ist, den Mitmenschen die Freiheit schmackhaft zu machen. Zu sehr sind sie in ihren goldenen Käfig verliebt. So macht er sich kurzerhand mit einer ebenso mutigen, „lebenswilligen“ Frau an seiner Seite auf an die Oberfläche. Mit einem vollgetankten Wagen mit Proviant und Benzinkanistern machen sich beide auf, „direkt in die Richtung, in der sich die magische, unwahrscheinliche Stadt Wladiwostok befand, an jenen warmen, wilden Ozean, am anderen Ende dieses riesigen und wunderbaren, unbekannten Landes, in dem wirkliche, lebendige Menschen siedelten. Sie hatten den Wind und die Sonne im Rücken“ (2).
So finden sich auch im letzten Abschnitt sehr viele Parallelen zu unserer Situation im Jahr 2021. Sind wir nicht auch von einer Vielzahl Menschen umgeben, die ihr Gefängnis lieben? Die es doch ganz angenehm finden, auf der Couch zu chillen, Netflix bis zum Erbrechen zu gucken, einander nur noch in Skype-Sitzungen oder bei „Among us“-Spielrunden zu „treffen“ und die ihre Wohnung eigentlich gar nicht mehr verlassen wollen? Von Regierungsseiten redet man diesen Leuten sogar ein, durch ihre Trägheit und Unbeweglichkeit gar zu Helden zu werden.
2009 klassifizierte Prinz Pi den „modernen Höhlenmenschen“:
„Er sitzt in der Zelle, die er nicht als solche begriffen hat /
Seine Stunden ticken ab auf dem Ziffernblatt /
Er blickt durch ein‘ kleinen Schlitz in die Welt hinaus /
Der Schlitz ist von Samsung, ein Flatscreen /
Der Gefangene klebt an sei‘m Sitz /
Die Folter gefällt ihm auch, nichts kann ihn wegziehn /
(...)
In seiner Höhle wähnt er sich als einen König /
Klischeehafte Bilder bring' ihm bei, was schön is‘ /
Und Nachrichten, die zusammenfassen /
Was andere zusammenfassten, was vorher andre zensierten /
Halten ihn in dem Glauben, dem teuer erkauften /
Er gehöre zum Kreis der gut informierten /
Homo Sapiens Full HD-Ensis /
Er kam aus dem Meer, die Couch ist sein Ende“
Und jene, die nach echter Freiheit dürsten, werden wie Artjom verspottet, diffamiert und zu Feinden erklärt. Diese Menschen schlagen erzürnt jenen auf die Finger, die freudig mit dem Käfigschlüssel wedeln.
Und genau wie in dem Roman gibt es auch in unserer Realität eine kleine Gruppe nach außen hin mächtiger Eliten, die von der Passivität der Masse profitieren. Ein kollektives Aufwachen, ein die Menschenmassen ergreifendes Verlangen nach echter Freiheit, würde das Ende der Macht dieser kleinen Elitegruppe bedeuten.
Doch dort sind wir leider noch nicht angelangt. Zu weich sind die Polster in der Komfortzone. Und so werden jene wie schräge Vögel beäugt, die sich aufmachen, an einer besseren Welt zu arbeiten. Aktuell verlassen viele die großen Städte und damit die modernen Höhlen und errichten auf dem Land Kommunen oder einen Campus, um dort echte Alternativen vorzuleben.
Doch was macht man aus diesem Zeitgeist? Wartet man ab? Oder arbeitet man aktiv an einer neuen Welt mit? Wir leiden — noch — nicht an Hunger. Vergegenwärtigen wir uns, dass dieses Auf-dem-Boden-Liegen, so bequem es auch sein mag, im Grunde genommen ein Probeliegen für den Sarg ist. Leben ist Bewegung, Strömung und Schwung, Stillstand die Vorstufe zum vorzeitigen Tod.
Es bleibt nur die Flucht nach vorne. Man sollte sie nicht fürchten, weil ihr Ausgang ungewiss ist. Denn Gewissheit gibt es weder in der Vorwärtsbewegung noch im derzeitigen Stillstand. Nie war der Grad der Vorhersehbarkeit so gering wie in diesen menschheitsgeschichtlich einmaligen Zeiten. Am Verlässlichsten lässt sich vorhersagen, dass es keine Verlässlichkeit gibt und es in unserer Hand liegt, wie die Welt im Jahr 2033 aussieht. Ob wir dann auch in U-Bahn-Schächten leben?
Quellen und Anmerkungen:
(1) Vgl. Franz Ruppert; Nidiaye, Safi et. al.
(2) Siehe Dimitry Glukhovsky – Metro 2035, 2016, Heyne Verlag, S. 762.
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