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Die Zeitenwende

Die Zeitenwende

Statt uns von vergangenheitsorientierten Mustern treiben zu lassen, sollten wir selbstbestimmt unsere Zukunft in die Hand nehmen.

von Rolf Bastian

Wenn wir entscheiden — als Individuen oder Kollektive — legen wir oft unsere Erfahrungen zugrunde. Das ist hilfreich und wichtig, denn so können wir vermeiden, Fehler zu wiederholen. Aber wenn wir uns immer nur an dem orientieren würden, was bereits geschehen ist, gäbe es keine neuen Entwicklungen. Wir müssen uns deshalb auch Möglichkeiten zuwenden können, die wir noch nicht erprobt haben — gesehenen wie vielleicht noch nicht erkannten. Wir können von Erfahrungs- und Möglichkeitsraum sprechen.

1. Der Möglichkeitsraum

Was verstehen wir unter einem Möglichkeitsraum? Möglich ist das, was ich/wir sein könnte(n), also (noch) nicht ist. Möglichkeiten der Zukunft werden in einen fühl- und denkbaren Raum — die Vorstellung — geholt, und damit zu einem potenziellen Handeln. Dazu brauchen wir Imagination, Kreativität und Inspiration.

All dies sind keine Privilegien der als „kreativ“ titulierten Berufsgruppen wie etwa Künstler oder Wissenschaftler, sondern können jedem Menschen helfen, seine Bandbreite eines guten Lebens auszuweiten. Insbesondere Kinder sind Meister der Imagination. Zwar entwickeln sie auch Fantasien, die sie ängstigen (Gefahren, unheimliche Momente et cetera) — also Repelloren — aber ebenso metaphysische Attraktoren: Wenn sie sich zum Beispiel vorstellen, Prinz oder Prinzessin zu sein, kann ihnen dieses Bild helfen, im realen Leben zu wachsen und Schwierigkeiten zu überwinden.

Unsere realen Möglichkeiten können durch Bedingungen eingeschränkt sein. Wenn ich etwa versuchte, ohne jegliche technische Hilfsmittel zu fliegen, landete ich schnell auf dem Boden der Realität — im wahrsten Sinne des Wortes. Ich könnte mich aber zum Beispiel entschließen, auch im fortgeschrittenen Alter eine längere Wanderung durch Südamerika zu unternehmen. Auch dies wäre an Bedingungen geknüpft, zum Beispiel, dass ich dazu körperlich in der Lage bin, die Zeit habe und über die notwendigen Mittel verfüge. Ich kann sie aber zumindest theoretisch erfüllen; es handelt sich also eher um Ressourcen.

Damit ich mich dieser Möglichkeit zuwende, muss ich dazu motiviert sein. Vielleicht weil ich eine Partnerin aus Argentinien gefunden habe, die mir ihre Heimat zeigen möchte. Die vage Möglichkeit wird dann für mich attraktiv, sie wird zu einem sehr konkreten Attraktor. Möglichkeitsräume können wir so gesehen als ein Vorfeld — oder eine „Brutkammer“ — für neue und konkretere Attraktoren ansehen.

Die konkreten Möglichkeitsräume

Individuen, soziale Gruppen wie zum Beispiel Familien, kulturelle Organisationen, auch ganze Gesellschaften machen spezifische Erfahrungen, die sich von denen anderer unterscheiden. Tauschen sie sich aus, kann der Erfahrungsraum des einen dem oder den anderen neue Informationen liefern, mit denen sie ihre subjektiven Möglichkeitsräume erweitern.

Beispielsweise lernen Jugendliche in ihrer Pubertät durch den intensiveren Kontakt mit ihren Peers Erfahrungsräume anderer Jugendlicher kennen, die für sie selbst vielleicht neu sind. Sie bringen Anregungen daraus in ihr eigenes Leben ein und verändern damit womöglich auch die Kohärenz der Familie. Der Erfahrungsraum von Familie und Kultur kann den Möglichkeitsraum von Individuen und Gruppen befruchten, derjenige der einen Kultur den Möglichkeitsraum einer anderen. Darin liegt zum Beispiel ein Wert interkultureller Begegnungen.

Lebende Systeme können ihre Möglichkeitsräume also immer wieder erweitern. Die Informationen, die sie so gewinnen, können schon in ihrer realen Welt vorhanden sein; vielleicht wurden sie vergessen, verleugnet, bekämpft, verdrängt et cetera. Vielleicht sind sie auf dieser konkreten Ebene aber auch vollkommen neu.

Sie sind eventuell in kreativen Momenten, wissenschaftlicher Reflexion oder auch Meditation, Kontemplation und so weiter gefunden worden, möglicherweise in Resonanz mit einer universellen Dimension.

Der universelle Möglichkeitsraum

Das Gedankengebäude einer fraktalen Schachtelung — Fraktale sind selbstähnliche Bruchstücke eines Ganzen — lässt uns eine universelle, nicht lokale Dimension annehmen: einen unbestimmbaren, unendlich komplexen Attraktor des Universums, eine Welt reiner Information, Schwingungen, Geist — oder wie immer wir dasjenige nennen wollen, das aus unserem System, in dem wir leben, nicht vollständig erfassbar ist. Sie enthält alle Informationen und unterliegt keinen einschränkenden Bedingungen. Sie ist ein Potenzial all dessen, was sich überhaupt realisieren könnte.

Bei einem solchen Verständnis gäbe es im Grunde keine neuen Informationen, sondern sie wandelten in den unteren, konkreten Dimensionen lediglich ihre Erscheinungsweise — was hier dann durchaus den Charakter des Neuen haben kann. Kreativität wäre somit eine besonders intensive Resonanz mit dem universellen Übersystem, bei der wir Informationen aus der Potenzialität in die konkrete Realität holen.

Je komplexer unsere eigenen Schwingungsmuster sind, desto mehr Informationen aus dieser Dimension werden uns zugänglich. Sie erweitern unseren konkreten Möglichkeitsraum und — wenn wir daraus Handlungen entwickeln — auch unseren Erfahrungsraum. Wir können dies als einen Lernvorgang ansehen. Ich möchte ihn als „Lernen A“ bezeichnen: Wir lassen gedanklich etwas zu, was in unserer Dimension bisher nicht gedacht wurde.

Konkrete, subjektive Möglichkeitsräume können somit in der Kommunikation mit anderen lebenden Systemen sowie in der Resonanz mit dem universellen Raum immer wieder erweitert werden. Bei Letzterer kommen Informationen in die konkrete Welt, die hier noch nicht vorhanden waren. Sie bereichern das Leben, indem sie wiederum komplexere Formen zulassen. Die konkreten Möglichkeitsräume können allerdings auch verengt und eingeschränkt werden, zum Beispiel wenn Angst, Misstrauen, Machterhalt, Verhärtung und so weiter dominieren.

2. Der Erfahrungsraum

Steht der Möglichkeitsraum für die Zukunft, repräsentiert der Erfahrungsraum das bereits Gewordene. Er hat meines Erachtens vor allem drei wichtige Funktionen: Er ist ein Ort des Verstehens, Lernens und Bewertens, ein Ort der Entwicklung von Vertrauen und Selbstwirksamkeit und ein Ort des Erprobens neuer Möglichkeiten.

Ort des Verstehens, Lernens, Bewertens

Die Menschheit hat in ihrem gesamten Erfahrungsraum einen riesigen Fundus an Wissen angehäuft. Neue Möglichkeiten wurden immer wieder im Selbstregulationskreislauf erprobt und bewertet. Wir nehmen etwas wahr oder entwickeln eine Idee, handeln (probieren es aus) und lernen, indem wir diese Erfahrungen bilanzieren — aus Erfolg ebenso wie aus Scheitern. Dies möchte ich als „Lernen B“ bezeichnen.

Das Bilanzieren kann individuell beziehungsweise in direkter, sinnlicher Begegnung/Kommunikation stattfinden. Dann bewerten wir im Wesentlichen eigene Erfahrungen — oftmals zunächst durch Versuch und Irrtum, zunehmend auch reflektiert. Auf der kollektiven Ebene hingegen fehlt häufig die unmittelbare Sinneserfahrung. Wir sind dort beim Bilanzieren viel stärker auf Kommunikation angewiesen, auf vermittelte, symbolische Zeichen. Die Bewertung der die Informationen transportierenden Medien — inwieweit wir ihnen vertrauen können oder nicht — ist wiederum ein eigener Erfahrungsprozess.

Mit den Kriterien aus diesem Erfahrungsschatz bewerten wir auch meist erst einmal für uns neues. Der Möglichkeitsraum kann ambivalente Informationen anbieten. Nicht alle tun uns gut, denn es kann sich um aufbauende oder bedrohliche Optionen handeln. Der Erfahrungsraum bietet Prüfsteine und Entscheidungshilfen, welchen dieser Möglichkeiten wir uns annähern wollen. Indem wir für uns neue Informationen „einordnen“, reduzieren wir mögliche Inkohärenzen und schaffen Konsistenz mit der bisherigen Ordnung. Dies dient unserem Bedürfnis nach Kontinuität und Kontrolle.

Zugleich brauchen wir Wachstum und Veränderung. Dazu müssen wir uns immer wieder neuen Möglichkeiten öffnen, die bekannte Ordnung zumindest vorübergehend aufgeben. Dies erfordert eine gewisse „Ungewissheitstoleranz“ (1). Deren Grundlage ist Vertrauen.

Ort der Entwicklung von Vertrauen und Selbstwirksamkeit

Vertrauen benötigen wir, um handeln zu können. Wir können zwei Ausprägungen unterscheiden: Urvertrauen und kontextbezogenes Vertrauen. Das Urvertrauen ist vermutlich angeboren. Es wird aber auch vom Erfahrungsraum beeinflusst; vor allem durch vorgeburtliche und frühkindliche Erfahrungen kann es gestärkt oder geschwächt werden.

Das kontextbezogene Vertrauen kann auf dem Urvertrauen aufsetzen und auch dessen Störungen zum Teil ausgleichen. Es entsteht hauptsächlich im Erfahrungsraum, insbesondere wenn wir von unserer Umgebung positive Antworten auf unsere Bedürfnisäußerungen und Kooperationsangebote erhalten.

Eine wichtige Form des kontextbezogenen Vertrauens ist Selbstwirksamkeit. Diese wird häufig mit Kontrolle gleichgesetzt. Aber ich denke, es ist sinnvoll, beide zu differenzieren. Die Fähigkeit zur Kontrolle ist eher situationsgebunden, zielt auf Gefahrenabwehr, letztlich auf Eingrenzung, um Sicherheit zu schaffen.

Selbstwirksamkeit fußt mehr auf der durch Erfahrung gewonnenen globalen, impliziten Überzeugung, dass man selbst in der Lage ist, durch eigenes Handeln Ergebnisse zu erzielen und Bedürfnisse zu befriedigen — Gefahren abzuwenden, aber auch neues zu kreieren. Der Lernsatz lautet: „Ich bin nicht Objekt, sondern handlungsfähiges Subjekt“.

Das beginnt bereits am Anfang eines Menschenlebens, wenn zum Beispiel der Säugling „die Erfahrung macht, dass er zuverlässig mit seinem eigenen Verhalten erwünschte Reaktionen bei der Mutter bewirken kann“ (2).

Das Empfinden von Selbstwirksamkeit können wir immer wieder durch neue Erfahrungen stärken — durch positive Erlebnisse, wobei wir auch in schwierigen oder gefährlichen Situationen handlungsfähig bleiben. Beispielsweise vermitteln die Übungen von Feuerwehr und anderen Rettungskräften, von Bergsteigern und so weiter einerseits Fachwissen und die notwendigen technischen Fähigkeiten, andererseits die wiederkehrende Erfahrung, dass die Betreffenden auch in kritischen Situationen Selbstwirksamkeit entfalten können.

Im Kern geht es um die Überzeugung, dass wir fähig sind, für unsere Bedürfnisbefriedigung zu sorgen und Chaos wieder in eine kohärente Ordnung zu verwandeln. Sie ist Grundlage für Offenheit und Dynamik.

Ort der Erprobung neuer Möglichkeiten

Neue Möglichkeiten, die wir als stimmig empfunden haben, unterziehen wir wiederum einem Lernprozess auf Basis des beschriebenen Selbstregulationskreislaufs. Dabei werden sowohl alte Annahmen als auch subjektiv neue Informationen einem Realitätstest unterzogen: Welche der Möglichkeiten, denen wir uns zugewandt haben, erweisen sich tatsächlich als hilfreich oder erfolgversprechend — und stimmen vielleicht mit unserem impliziten globalen Attraktor überein — welche hingegen als nicht brauchbar beziehungsweise modifizierungsbedürftig? So wird auch der Erfahrungsraum in einem stetigen rekursiven Prozess immer wieder geprüft und erweitert.

Zwei Formen von Erfahrungsbewahrung

Unter den Möglichkeiten, Erfahrungen zu bewahren, wollen wir zwei herausgreifen:

Muster und Automatismen

Zum einen gibt es viele hilfreiche Muster. Beim Autofahren zum Beispiel verfügen wir über implizite Routinen, die uns davon entlasten, ununterbrochen neue Entscheidungen treffen zu müssen — was einen enormen Stress aufbauen würde. Kinder orientieren sich im Leben zunächst an Routinen, die sie von ihren Eltern und anderen Bezugspersonen gelernt haben. Bei Sachverhalten, in denen wir über viel Erfahrung verfügen, sind „Bauchentscheidungen“ meist treffsicherer als solche, über die wir lange nachdenken (3).

Wir finden aber auch einschränkende Muster. Das können zum Beispiel starre Introjektionen sein, die oftmals angstbasiert entstanden sind, oder als Steigerung Traumata, welche die Vergangenheit sozusagen „einfrieren“. Wir können sie nicht nur auf der individuellen, sondern auch auf der kollektiven Ebene antreffen — zum Beispiel als ideologische Fixierungen, ebenso in Bürgerkriegen, wenn das Muster des Opferdreiecks, insbesondere der Rache, immer wieder dominiert und viele Menschen fast automatisch hineinzieht.

Reifung heißt nun, dass wir solche einschränkenden Muster immer wieder überwinden, insbesondere indem wir sie reflektieren, als solche erkennen und distanzieren.

Das geschieht zum Beispiel ganz natürlich in einer gelingenden Individualentwicklung, der Ontogenese: Jugendliche, die in die Pubertät kommen, werden vieles, was ihnen vorher in der Kindheit als selbstverständlich erschien, zunehmend reflektieren. Die Bewertung, die früher eher implizit stattfand, wird explizit und zum Gegenstand von Entscheidungen. Neue Attraktoren tauchen auf, denen sie sich annähern.

Eine Analogie finden wir auch in der Phylogenese, der Stammesgeschichte. Beispielsweise ist es der Menschheit in vielen Bereichen gelungen, Mechanismen des Opferdreiecks wie etwa die Blutrache zu überwinden und durch kultivierte Formen der Konfliktlösung abzulösen.

Dies können wir als eine Form des Erwachsenwerdens einer Gesellschaft ansehen: Muster werden aus einem Metabewusstsein, einer Beobachterposition reflektiert. Dabei hilft wiederum der Möglichkeitsraum, denn unter verschiedenen Optionen kann man wählen — auf Basis von Gründen — und muss nicht Automatismen folgen. Dies führt uns zum

Lernen

Der zweiten Form, Erfahrungen zu bewahren — das oben als „Lernen B“ bezeichnet wurde). Wir können implizit lernen, aber auch auf Grundlage von Reflexion; aus Erfolgen wie aus Scheitern. Indem wir das Erlebte, Erfahrene unter einem neuen Blickwinkel bewerten, bringen wir eine zusätzliche Information in die konkrete Welt — es ist also auch ein kreativer Prozess. Lernen als Quintessenz von Erfahrung kann Input für neue Entwicklungen sein, für das Ausprobieren von Möglichkeiten.

Wenn wir uns die Lehren des bisherigen Erfahrungsraums der Menschheit anschauen, finden wir einen existenziellen Komplex, der unter der Frage steht: Was dient dem Leben, was nicht? Den Attraktor, der daraus erwachsen ist, hat Albert Schweitzer „Ehrfurcht vor dem Leben“ genannt und ihn so definiert: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“ Der basale Leitsatz einer Ethik ist demzufolge Ehrfurcht vor dem Willen zum Leben in mir und außer mir.

Auf diesem Erfahrungskomplex bauen weitere Attraktoren auf, die der Frage folgen: Was dient dem guten Leben? All dies individuell und kollektiv. Aus diesen grundlegenden Sätzen können Subattraktoren und Handlungsziele geformt und immer wieder präzisiert beziehungsweise modifiziert werden.

Übergänge

Wir sehen also zwei Pole: Auf der einen Seite brauchen wir Ordnung — nicht nur als Zustand, sondern auch in Prozessen. Sie bietet Sicherheit und Kontinuität und hilft uns, in Kooperation gemeinsame Ziele zu verwirklichen.

Wenn zum Beispiel Eltern ihre Kinder morgens zur Schule schicken, verlassen sie sich darauf, dass der Schulbus pünktlich an der Haltestelle eintrifft, also das geordnete Zusammenwirken vieler, das hinter dem Fahrplan steht, eingehalten wird. Auf der anderen Seite brauchen wir Wachstum und Veränderung, müssen uns folglich immer wieder neuen Möglichkeiten öffnen. Das kann Unsicherheit mit sich bringen.

Gerade Übergänge — Phasen der Inkohärenz, in denen die bisherige Ordnung nicht mehr passt, die neue aber noch nicht sichtbar ist — können großen Stress erzeugen. Dann wächst das Bedürfnis nach Sicherheit und wir neigen dazu, uns stärker auf das Bewährte, das Gewordene zu fixieren. Häufig orientieren wir uns dann nicht nur an Lehren aus der Vergangenheit, sondern nehmen auch Zuflucht zu Mustern.

Damit wir uns dennoch immer wieder Möglichkeitsräumen öffnen können, brauchen wir Zustände, die eine Schwingungsbereitschaft, aber auch eine Schwingungsfähigkeit enthalten: eine Empfänglichkeit für das Vage, eine offene Haltung des Nicht-Fixiertseins. Diese finden wir häufig in Gegenwartsmomenten.

3. Gegenwartsmomente

Dieser Begriff wurde wesentlich von Daniel Stern geprägt (4). Auf dessen Differenzierung zu Jetzt-Moment und Begegnungsmoment will ich hier nicht eingehen, sondern Gegenwartsmoment als übergeordneten Ausdruck gebrauchen. Stern hat ihn in erster Linie für Psychotherapiesitzungen entwickelt, doch einige Analogien erscheinen mir darüber hinaus für das gesamte Leben interessant zu sein. Das gilt vor allem für seine Reflexion des „Jetzt“.

Was ist Gegenwart?

Meist betrachten wir Gegenwart aus dem Verständnis einer linearen Zeit, die ständig vergeht, des „Chronos“. Dabei ist das Jetzt so kurz, dass wir es überhaupt nicht fassen können, denn wenn uns ein Moment bewusst wird, ist er schon wieder Vergangenheit. So verstanden leben wir ständig im Jetzt. Aber Stern hat eine zweite Form des Jetzt identifiziert, nämlich die „subjektive Zeit“.

Dabei wird der Gegenwartsmoment zu bedeutungsvollen bewussten Einheiten ausgedehnt („Chunking“). Es können wenige Sekunden, aber auch noch längere Zeiteinheiten sein. Sie haben eine „Gestalt“, beinhalten ein ganzheitliches Erleben. Insbesondere gehören dazu die Momente des „Kairos“: Etwas kann, wird, muss geschehen. Dieses subjektive Jetzt ist für unsere Überlegungen besonders interessant.

Was passiert in der Gegenwart?

Der Gegenwartsmoment ist völlig offen, erzeugt eine Spannung. Das kann sehr reizvoll sein, Unerwartetes kann passieren. Aber das kann auch als gefährlich empfunden werden. Der subjektive Erfahrungsraum hingegen ist bekannt, abgeschlossen, bietet keine Überraschung. Er schafft das Gefühl der Sicherheit. Wenn wir unter diesen Aspekten das Wahrnehmen betrachten, so können wir zwei Formen identifizieren:

Wahrnehmung in der wirklichen Gegenwart

In einem solchen Moment ist die Aufmerksamkeit nach vorn gerichtet: Wir orientieren uns implizit an dem Sollzustand, der — als Annäherungsziel — permanent gegenwärtig ist. Und wir sind als ganze Wesen in einer Resonanz mit der gesamten Welt. Dieser Zustand entspricht dem, was wir „Gewahrsein“ nennen.

Fast zeitgleich, aber anschließend kann eine Bewertung stattfinden: Ist das, was wir wahrnehmen, aufbauend oder zerstörerisch? Sie basiert auf unseren Erfahrungen, also der Vergangenheit, aber auch der Nähe des Wahrgenommenen zu unseren motivationalen Zielen, also den Attraktoren für die Zukunft.

Diese Bewertung kann implizit und explizit stattfinden. Maßgeblich ist, dass wir wählen können. Wir springen dabei ständig zwischen dem subjektiven Erleben — Blickwinkel der 1. Person — und dem beobachtenden Blickwinkel der 3. Person — „objektiv“ — (5). Darauf gründet unsere Fähigkeit, eine Metaposition einzunehmen und das Wahrgenommene zu reflektieren.

Wahrnehmung in der Vergangenheit

In diesem Modus ist das Bedürfnis nach Sicherheit so stark, dass wir uns fast ausschließlich an dem schon Gewordenen orientieren. Gründe können verinnerlichte Normen und Überzeugungen sein, angstbesetzte Muster, Traumata et cetera. Die Bewertung erfolgt allein aus der bisherigen Erfahrung. Sie ist überwiegend abwendend. Wir wählen nicht, sondern fühlen, denken, urteilen und handeln quasi automatisch.

Wenn Alternativen nicht bewusst werden, stellen wir auch keine Reflexion an. „Die Gegenwart wird von der Vergangenheit als Geisel genommen“ (6).

Wir befinden uns in solchen Momenten nur in einer Teilresonanz — derjenigen eines abgespaltenen Teils von uns (als Individuum oder Kollektiv) mit jenem Teil der Wirklichkeit, mit dem er schwingungsfähig ist.

Wie können wir Gegenwartsmomente nutzen?

Wir können wohl unser Bewusstsein nicht ununterbrochen auf die Gegenwart ausrichten. Aber die Gegenwart ihrerseits kann unterbrechen — zum Beispiel Automatismen, die Fixierung der Vergangenheit — und eine Neujustierung anstoßen: innezuhalten und die Aufmerksamkeit dem zuzuwenden, was gerade ist. Sie schafft sozusagen schwebende Freiräume, in denen Attraktoren in den Vordergrund treten, implizite Attraktoren bewusst werden, neue Attraktoren sich bilden können.

Vielleicht öffnen wir uns der Resonanz mit der Universalität, dem universellen Möglichkeitsraum, und spüren dabei die Verbundenheit aller Menschen, allen Lebens. Dies kann dazu beitragen, dass wir in den Fokus rücken, was die Menschen gemeinsam haben — und nicht was sie unterscheidet und trennt, wie es zum Beispiel der Neoliberalismus suggerieren will.

Aufgabe wäre es also, immer wieder Gegenwartsmomente zu finden und auszudehnen, die Spannung zu ertragen und uns nicht sofort in Sicherheit zurückzuziehen. Vielfältige Resonanzen zuzulassen, was passiert vom Gewahrsein ins Bewusstsein zu bringen, es vielleicht zu reflektieren und daraus zu lernen. Unser Leitbild kann kaum lauten: Richte deine Aufmerksamkeit ständig auf das Jetzt, sondern eher: Nutze Lehren aus den Erfahrungen — und komme immer wieder in die Gegenwart, um selbst neue Möglichkeiten zu finden und sie in den Erfahrungsraum einzubringen. Dann können Gegenwartsmomente zu Veränderungsmomenten werden.

Formen

Gegenwartsmomente können sich sicherlich auf vielfältige Weise einstellen. Betrachten wir zunächst individuelle und dyadische — zweipersonale — Situationen sowie Kollektive mit direktem, sinnlichem Kontakt. Hier wäre vor allem die Begegnung zu nennen.

Dabei ist nicht nur das Dritte, bereits Gewordene im Raum (wie zum Beispiel bei der Kommunikation über Medien, sondern es sind ganze Menschen, die in Resonanz gehen — mit dem Gegenüber und vielleicht auch den Übersystemen. In Begegnungen versuchen wir, die Intentionen des Gegenübers zu lesen; davon hängt es ab, ob wir ihm vertrauen oder misstrauen. Neues kann entstehen.

Wenn der Dialog nicht manipulativ, rechthaberisch, quasi als „Kampf“ stattfindet, in dem der jeweils andere zum Objekt werden soll, sondern kooperativ verläuft, stellen die Akteure vielleicht fest: Der Andere ist zwar anders, aber er will mich nicht dominieren. Dann lernen beide einander kennen und merken eventuell, dass sie sich bei allen Unterschieden respektieren können.

Andere Formen möglicher Gegenwartsmomente sehe ich in der Meditation, der Kontemplation (der versunkenen Betrachtung, zum Beispiel in der Natur), im Lernen — in Momenten, in denen wir etwas verstehen, in denen uns etwas klar wird („Gedankenblitz“) — sowie in kreativen Augenblicken des Schöpfens. Besonders wichtig sind Zwischenräume: zum Beispiel zwischen Menschen, aber auch solche des Denkens, vor der Begriffsbildung, bevor wir eine neue Idee in die Sprache bringen, wodurch sie zwar kommunizierbar, aber auch an das bereits Bestehende gebunden wird.

Gibt es auch kollektive und kulturelle Gegenwartsmomente? Michael Tomasello hat darauf hingewiesen, dass bei der Entwicklung gesellschaftlicher Kooperation und Wertvorstellungen sowohl dyadische als auch auf Gemeinschaft bezogene Interaktionen wichtig sind, wobei erstere die ursprünglichen seien.

Bemerkenswert ist beispielsweise, dass Staatsmänner in schwierigen, konfliktreichen Situationen Durchbrüche fast immer in persönlichen Begegnungen erzielen. „Reden statt schießen“ ist eine geflügelte Metapher. Liegt dies — neben dem intensiven kognitiven Austausch — vielleicht auch daran, dass dabei nicht nur das — in diesem Fall trennende — kulturelle Dritte im Raum ist, sondern ganze Menschen? Beeinflusst die mögliche Resonanz mit dem Universellen vielleicht das kulturelle Bewusstsein? Dann können wir die These wagen: In jeder Begegnung kann ein heilsamer Prozess beginnen, der auf verschiedene Dimensionen Einfluss nehmen kann.

Kohärenzübergang heute

Betrachten wir unter den Aspekten dieser Ausführungen noch kurz den globalen Kohärenzübergang, den wir heute vermutlich erleben. Das bisherige kulturelle Übersystem — die Staaten und die internationale Ordnung, die den in den letzten 40 Jahren herrschenden ökonomischen Prinzipien des Neoliberalismus gefolgt sind — ist offensichtlich an seine Grenzen geraten. Immer mehr Subsysteme klinken sich aus seiner Kohärenz aus, was sich zum Beispiel. in Protesten, Wahlveränderungen zeigt.

Ein Übersystem kann auf Inkohärenzen von Subsystemen unterschiedlich reagieren: Es kann sich öffnen, die neuen Schwingungen integrieren und in Kooperation die eigene Kohärenz weiterentwickeln. Oder es kann sich verhärten, die Veränderungen abwehren und bekämpfen. Heute dominiert über weite Strecken letzteres — womöglich mit ungünstiger Perspektive.

Ich sehe massive Versuche, unsere Möglichkeitsräume einzuschränken: Zum einen die realen Spielräume, etwa durch Gewalt und Konfrontation nach innen und außen sowie die Verengung des Meinungsspektrums in den Mainstream-Medien.

Grundformen einer Propaganda, wie wir sie aus der Erfahrung früherer Kriegsvorbereitungen kennen, sind sichtbar geworden, etwa der Aufbau von Feindbildern nach dem Muster: „Wir sind die Guten, die Anderen die Bösen“ (7).

Zugleich erkenne ich den Versuch, Möglichkeitsräume in unseren Köpfen einzuschränken. Das äußert sich im inflationären Gebrauch von Begriffen in den Medien, die in der Linguistik als „Frames“ diskutiert werden: Worte, die von vornherein die gewünschte Richtung der Bewertung festschreiben und insinuieren, dass diejenigen, die so bezeichnet werden, aus dem jeweiligen kollektiven Subjekt (Gesellschaft, Wissenschaft et cetera) ausgeschlossen sind — und dass dieses Verdikt auch diejenigen trifft, die sich von deren Meinung nicht abwenden.

Dabei werden alle wichtigen Sprachelemente genutzt: Substantive — zum Beispiel „Verschwörungstheoretiker“, „Esoteriker“, „Populist“, Links-/Rechtsextremist, Terrorist, zunehmend leider auch „Antisemit“, Adjektive — zum Beispiel „alternativlos“, „umstritten“ und Verben — zum Beispiel „wettern“ statt „sagen“. Damit werden Automatismen angestrebt, die die Freiheit des Bewusstseins, des Denkens und Entscheidens einschränken sollen.

Oben haben wir herausgearbeitet, dass die Überwindung von Mustern ein Merkmal der Reifung ist — des individuellen und kollektiven Erwachsenwerdens. Ich sehe deshalb in den aktuellen Verengungen den Versuch einer antievolutionären kulturellen Regression.

Die Wirkung solcher Begriffe erfolgt allerdings nicht linear, sondern hängt von der Resonanz des Empfängers ab. Wir haben die Chance, Formierungsbestrebungen — zum Beispiel dem immer wieder postulierten „TINA“ („There is no Alternative“) — unsere eigenen Attraktoren entgegenzusetzen: Wie will ich leben? Und da sich kollektive Probleme nicht allein durch die Selbstoptimierung Einzelner lösen lassen: Wie wollen wir leben — als Gesellschaft, als Menschheit?

Es ist Zeit für ein neues Wir, eine neue kulturelle und globale Kohärenz. In ihr können wir vielleicht neue Möglichkeiten und Subattraktoren finden und versuchen, uns ihnen — im Prozess der Selbstregulation immer wieder überprüft — gemeinsam anzunähern.


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Rolf Bastian arbeitete nach einem Studium der Politologie/Soziologie (mit Abschluss Diplom) sowie Wirtschaftsgeschichte und Philosophie viele Jahre als Manager und Selbständiger im Bereich Kommunikation. Heute ist er als Salutoge-netisch orientierter Coach tätig. Außerdem schreibt und veröffentlicht er Texte.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Thilo Hinterberger, Bewusstseinserfahrungen in Übergängen: Schlüssel zur Lebensgestaltung. Der Mensch 2017, 54, Seite 9 bis 12.
(2) Klaus Grawe K (2004), Neuropsychotherapie. Göttingen: Hofgrefe, Seite 233.
(3) Vergleiche Gerd Gigerenzer (2008), Bauchentscheidungen. München: Wilhelm Goldmann Verlag.
(4) Vergleiche Daniel N. Stern (2005),Der Gegenwartsmoment. Frankfurt am Main: Brandes & Apsel.
(5) Vergleiche Stern 2005; Michael Tomasello (2014). Naturgeschichte des menschlichen Denkens. Berlin: Suhrkamp.
(6) Daniel N. Stern (2005), Der Gegenwartsmoment. Frankfurt am Main: Brandes & Apsel.
(7) Vergleiche Ulrich Teusch (2019), Der Krieg vor dem Krieg. Frankfurt am Main: Westend Verlag.

Weiterführende Literatur:

George Lakoff, Mark Johnson (2003). Leben in Metaphern. Konstruktion und Ge-brauch von Sprachbildern. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag.
Norbert Neuß N (2001). Phantasiegefährten. Weinheim: Beltz Verlag.
Theodor Dierk Petzold (2017). Schöpferische Kommunikation. Bad Gandersheim: Verlag Gesunde Entwicklung.
Albert Schweitzer (1966/2013). Die Ehrfurcht vor dem Leben. München: Verlag C.H. Beck.
Elisabeth Wehling (2016). Politisches Framing. Köln: Herbert von Halem Verlag.

Redaktionelle Anmerkung: Dieser Artikel ist erstmals erschienen in „Der Mensch — Zeitschrift für Salutoge-nese und anthropologische Medizin“, Heft 58, 2019.


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