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Falscher Stolz und Vorurteil

Falscher Stolz und Vorurteil

Ein Land, das die Beziehung zu seiner eigenen Kultur verloren hat, reagiert auf „fremde“ Einflüsse wahlweise mit Selbstaufgabe oder aggressiver Abwehr.

Wir haben es gesehen, und ich habe versucht, mich dem Thema in einem ersten Artikel zu nähern: Sich mit Migration zu beschäftigen gleicht einer Gratwanderung mit akuter Absturzgefahr nach links oder rechts. Viele, die dazu etwas zu sagen hätten, trauen sich an das Thema nicht heran. Oder es sind die Falschen, die lauthals immer wieder ins gleiche Horn blasen. Anekdotische „Beweise“, also Erzählungen, in denen Migranten wahlweise Täter oder Opfer schlimmer Taten sind, befriedigen allenfalls Menschen, die sich dadurch in ihrer vorgefassten Meinung bestätigt sehen wollen.

Im Folgenden werde ich versuchen, mit Logik und grundsätzlichen Überlegungen zum Thema weiterzukommen und so übliche Argumentationsfronten aufzuweichen. Hier sind acht Denkanstöße für einen vernünftigen und zugleich menschlichen Umgang mit dem Thema Migration.

1. Denkanstoß: Die Wahrheit muss auf den Tisch, ob sie uns gefällt oder nicht.

Was ist, wenn die Fakten nicht in mein vorgefertigtes Bild passen? Sollte ich dann mein Bild der Realität ändern oder lieber die Fakten manipulieren beziehungsweise ignorieren? Siegfried Walch, CSU-Landrat Landkreis Traunstein, ist einer von den vielen Regionalpolitikern, die in letzter Zeit mit Horrormeldungen über durch Flüchtlingszuzug überforderte Gemeinden an die Öffentlichkeit traten.

„Allein in meinem Landkreis müssten wir jede Woche 50 Personen aufnehmen“, erzählt er in Bild TV. „Wir haben 180.000 Einwohner. Wir haben jetzt aktuell 2.300 Flüchtlinge untergebracht. Jede Woche kommen 50 hinzu. Das heißt, Sie müssten jede Woche eine Unterkunft für 50 Personen bauen. Das schaffen Sie nicht.“

Schwierigkeiten gibt es nicht nur beim Geld, sondern auch beim fehlenden Personal, etwa für zusätzliche Kita-Plätze und Lehrkräfte für Deutschkurse.

Walchs Ausführungen zeigen eine gewissen Härte, wenn es um die Konsequenzen für die Schicksale vieler Zugewanderter geht. Weder seine Partei noch das Medium, in dem er redet, können mit einem Unfehlbarkeitsanspruch auftreten. Immerhin aber gibt der CSU-Landrat hier ein Beispiel geordneten Denkens. Seine Thesen sind:

  1. Die EU-Außengrenzen müssen geschützt werden. Dies ist Voraussetzung dafür, dass Binnengrenzen durchlässig bleiben.
  2. Wer auf der Flucht vor Verfolgung und Unmenschlichkeit ist, braucht weiter unseren Schutz.
  3. Wer keinen Anspruch auf Asyl hat, muss dieses Land auch wieder verlassen.

Siegfried Walch gibt an, in den Gemeinden sei viel guter Wille vorhanden, und vergangene Integrationsleistungen bewiesen dies. Allerdings nehme das Gefühl von Überforderung bei den Menschen zu.

Ist es „rechts“, so zu argumentieren? Ich denke, es ist legitim und im Interesse der Wahrheit sogar notwendig, wenn Gemeinden sagen: „Wir können keine weiteren Menschen mehr integrieren — zumindest nicht so viele in so dichten Abständen.“ Es ist auch legitim, wenn die Ursprungspopulation eines Landes darauf besteht, dass ihre eigenen Interessen bei wichtigen politischen Entscheidungen großes Gewicht haben. Dies ist weder extremer Egoismus noch Rassismus.

Politiker haben ihren Amtseid zunächst für das Wohl des „deutschen Volkes“ geleistet, wie es sich zum Zeitpunkt des Eids darstellte. Dies schließt Menschen mit Migrationshintergrund sowie ganz verschiedenen Körpermerkmalen und Überzeugungen mit ein, jedoch nicht grundsätzlich alle Menschen auf der Welt.

Ein gesunder Selbstbehauptungswille sollte ergänzt werden durch die bereitwillige Fürsorge für Schwächere. Finanziell ist es vernünftig, wenn jede Gruppe zunächst für sich selbst sorgt und dann von ihrem Überschuss an Bedürftige abgibt. Nicht praktikabel ist es, zu sagen: „Ich schaue mal, wie viele Bedürftige es gibt, und wenn alle, wirklich alle, bekommen haben, was sie brauchen, ist der Rest für mich.“ Es leuchtet ein, dass für mich, das heißt für die ursprünglichen Bewohner eines Gemeinwesens, dann nicht mehr viel übrigbleiben würde. Wer sich selbst derart geschwächt hat, hat auch nicht mehr die Kraft, anderen zu helfen.

Eine andere Frage ist natürlich, ob unser Reichtum, von dem wir Zugewanderten „gnädigerweise“ abgeben, nicht auf struktureller Ausbeutung der Länder des Globalen Südens beruht, also vieler der Ursprungsländer von Flüchtenden. Dieser Aspekt sollte bei allen Debatten berücksichtigt werden. Meine erste Forderung wäre trotzdem: Ausgangspunkt für eine Debatte muss immer die Situation sein, so wie sie ist. Weder Wünsche noch Ängste sollten dabei den klaren Blick trüben. Und auch nicht die Angst, interessierte Kreise könnten einen als „rechts“ beschimpfen.

2. Denkanstoß: Die Grundsätze einer weltoffenen, humanen Gesellschaft bleiben auch im Belastungsfall gültig.

Welche Grundsätze? Der wichtigste ist wohl: Wir müssen immer den Einzelfall betrachten. Nehmen wir an, in einem kurzen Zeitraum hätten neun Norweger in unserer Heimatstadt schlimme Straftaten verübt — wie wäre uns zumute, wenn wir einem zehnten begegneten? Das Beispiel ist rein fiktiv und so gewählt, dass klar wird: Um die Hautfarbe oder Religion geht es hier nicht. Die Antwort ist: Auch diesem Zehnten müssten wir offen und vorurteilsfrei begegnen, denn er könnte unschuldig sein. Nach rechts tendierende Journalisten wie Julian Reichelt verhöhnen gern die These, bei Verbrechen aus migrantischem Umfeld handele es sich um „Einzeltäter“. So viele Einzelne, suggeriert der migrationskritische Diskurs, ergäben eben ein Muster. Es ließen sich daraus Rückschlüsse auf ein generelles Problem mit dieser Personengruppe ziehen. Aber stimmt das? Und wie geht es uns als Deutschstämmigen und in Deutschland Aufgewachsenen mit Vorurteilen gegen uns?

Fangen wir gleich mit dem Klassiker an: der vermeintlichen Kollektivschuld aller Deutschen an den Verbrechen während der Hitler-Diktatur. Viktor Frankl, Psychotherapeut und Überlebender mehrerer Konzentrationslager der Nazis, sagte zu diesem Thema: „Eine Kollektivschuld gibt es nämlich nicht, und ich sage das nicht erst heute, sondern ich habe das vom ersten Tag an gesagt, an dem ich aus meinem letzten Konzentrationslager befreit wurde — und zu der Zeit hat man sich wahrlich nicht beliebt gemacht, wenn man es gewagt hat, öffentlich gegen die Kollektivschuld Stellung zu nehmen. Schuld kann jedenfalls nur persönliche Schuld sein — die Schuld an etwas, das ich selbst getan habe oder vielleicht zu tun unterlassen habe!“

Raymond Unger, aus dessen Buch „Die Heldenreise des Bürgers“ ich dieses Zitat entnommen habe, nimmt an, dass sich etwa „80 Prozent der erwachsenen Deutschen mittleren Alters, die in den Jahren 1933 bis 1945 gelebt haben“, mit Fragen persönlicher Schuld und Verantwortung auseinandersetzen müssten. In Anlehnung an Frankl argumentiert Unger jedoch: „Selbst wenn es nicht 80, sondern 95 Prozent wären, ist eine Pauschalisierung der Täterschaft immer unzulässig, da man einer nicht zu bemessenden Zahl von Opfern innerhalb dieser Gruppe gröbstes Unrecht antun würde.“

Laut Handelsblatt kommen rund 10 Prozent der in Deutschland aufgenommen Flüchtlinge einmal in die Situation, als tatverdächtig zu gelten. Von der Gesamtbevölkerung sind dies nur 2 Prozent. Das ist eine deutliche Differenz. Im Vergleich zu den 80 Prozent der Deutschen, die im Dritten Reich schuldig wurden, sind aber auch diese 10 Prozent wenig. Die Zahl würden nicht rechtfertigen, jedem Zugewanderten von vornherein reserviert zu begegnen. Denn man muss bedenken: „Verdächtig“ bedeutet noch nicht schuldig. Und Kriminalität bedeutet noch nicht gefährliche Gewalt. Nicht selten handelt es sich um spezielle Verstöße gegen das Ausländerrecht, etwa gegen die Melde- und Ausweispflicht.

Es mag in den Ohren jener, die eine harte Linie im Umgang mit Ausländerkriminalität fordern, langweilig oder zu weichlich klingen, aber es ist dennoch wahr:

Ob jemand eine schwere Jugend hatte oder biografisch selbst Gewalt erlitten hat, spielt eine Rolle bei der Beurteilung seiner Taten. Humane Grundsätze, die wir uns mit gutem Grund zu eigen gemacht haben, sollten wir nicht gleich über Bord werfen, nur weil uns ein paar besonders drastische Fälle von Flüchtlingskriminalität zu Ohren gekommen sind.

Man muss immer den Einzelfall und den Kontext sehen. Das ist keine „Sozialromantik“, sondern auch Usus bei gerichtlichen Verfahren. Vielfach können andere Gründe für eine Tat erwogen werden als das „Ausländer-Sein“ des Täters. Ursachen für nichtangepasstes Verhalten könnten sein: Armut, biografische Traumatisierung und eigene Gewalterfahrung, Desorientierung auf Grund der Konfrontation mit einer völlig neuen, überfordernden Situation, Enge und Frust in Flüchtlingsunterkünften und andere.

3. Denkanstoß: Es besteht in der Flüchtlingsfrage ein unauflösbares Grunddilemma — eine in jeder Hinsicht befriedigende Lösung gibt es oft nicht.

Wenn es bei einem Problem eigentlich keine gute Lösung, sondern nur zwei schlechte gibt, muss man sich nicht wundern, wenn es im Ergebnis auf etwas Schlechtes hinausläuft. Und zwar egal, wie man handelt. Auf der einen Seite ist eine Abweisung an den Grenzen oder eine Abschiebung, wenn jemand schon im Land ist, für viele Tausend Flüchtlinge mit großen biografischen Härten verbunden.

Es kann bedeuten, dass Menschen in Lagern auf unabsehbare Zeit unter unwürdigen Umständen dahinvegetieren oder in ihre Ursprungsländer zurückkehren müssen, wo ihnen Verfolgung, mindestens aber Not und Elend drohen.

Andererseits ist der von Konstantin Wecker geprägte Satz „Wir öffnen die Grenzen und lassen alle herein“ zwar ehrenwert, jedoch keine wirklich realistische Option. Es gibt objektive und materielle Kapazitätsgrenzen, wenn in einer Ortschaft zum Beispiel 100 Menschen eine Unterkunft suchen, jedoch nur 50 Plätze vorhanden sind.

Schneller sind mitunter die subjektiven und psychologischen Kapazitätsgrenzen vieler Bürger erreicht. So mancher fühlt sich schon durch den Anblick größerer Ausländergruppen überfordert, während ihm eine laut tönende deutsche Großfamilie auf dem Bürgersteig nicht einmal auffallen würde. Menschen aus einer rassistischen Grundhaltung heraus einfach loswerden zu wollen, ist kein legitimes Anliegen. Echter Rassismus allerdings ist seltener, als es uns der „woke“ Diskurs weismachen will. Man sollte Menschen, die über Kapazitätsgrenzen und die Schattenseiten von Migration berichten, zunächst zuhören, ihnen also nicht grundsätzlich ein Etikett wie „rechts“ ankleben.

4. Denkanstoß: Die meisten fühlen sich unter Menschen, die ihnen ähnlich sind, wohler als unter solchen, die sie als „ganz anders“ erleben.

Es gibt Gefühle der Überforderung und eine Abwehrhaltung dagegen, auf engem Raum mit Menschen zusammenzuleben, deren Mentalität und Lebensgewohnheiten sich von unseren sehr unterscheiden. Jeder kennt solche Gefühle mehr oder minder, und sie betreffen nicht nur „Ausländer“, sondern auch Landsleute, die aus irgendwelchen Gründen „ganz anders“ sind: zu laut, zu reserviert, zu spießig, zu unordentlich, zu unintelligent, zu überheblich und so weiter.

Man spürt das in der Nachbarschaft sehr schnell. Wohlmeinende argumentieren hier, verschiedene Kulturen könnten sich gegenseitig gerade durch ihre Unterschiede bereichern. Der Urdeutsche lädt seinen türkischen Nachbarn zum Sauerkrautessen ein — dieser revanchiert sich mit einer Nachmittagseinladung zu Blätterteig-Honiggebäck und türkischem Kaffee. Solche Fälle gelungenen Austauschs, die mehr sind als bloß Toleranz — also das Ertragen des anderen —, gibt es zum Glück häufig. Demgegenüber gibt es aber auch die Realität gegenseitigen Störens und Befremdens.

„Rassismus“ ist vermutlich nur selten der Grund dafür. Man stelle sich vor, in einer Gemeinde, die ursprünglich nur 2.000 Einwohner stark war, würden sich 1.000 christliche Fundamentalisten niederlassen. Sie wären alle weiß, sprächen unsere Landessprache und wären äußerlich unauffällig. Aber bei Diskussionen über Religion mit den Neuankömmlingen stieße man immer wieder rasch an Grenzen. Das glaubensstarke Gegenüber würde alle Argumente mit dem Satz „Es steht in der Heiligen Schrift“ vom Tisch fegen. Wer schon einmal mit Zeugen Jehovas auf der Treppe diskutiert hat, kennt das Phänomen.

Würden also sehr viele Fundamentalisten in kurzer Zeit zuwandern, so könnte es sein, dass sich die Altbevölkerung unter Druck gesetzt fände, sich der Mentalität der „Neuen“ anzupassen. Es gäbe zum Beispiel Debatten über die angemessene Bekleidung der Kinder im Sport- und Schwimmunterricht, die man im Ort früher nicht gekannt hatte. „Gemischte“ Freundschaften und Partnerschaften unter Jugendlichen würden von den Eltern der Zuwanderer unterbunden werden. Sicher könnte man sich vielleicht arrangieren. Einheimischen könnten aber denken: „Mir war es lieber so, wie es früher war.“ Wäre ein solches Gefühl völlig illegitim? Mit Einwanderern aus der arabischen Welt oder aus Afrika treten solche Probleme schon jetzt vielerorts auf. Damit ist von meiner Seite kein Werturteil verbunden, welche der Lebensweisen „besser“ ist. Fest steht aber: Große Verschiedenheit der Grundüberzeugungen erzeugt Stress.

5. Denkanstoß: Die Zuwanderungsdynamik ähnelt in ihrer Struktur früheren inszenierten Krisen, weshalb sie von vielen Menschen ähnlich „gelesen“ wird.

So manchem genügt es schon, wenn ein Vorschlag aus dem links-grünen Milieu kommt — und sie sind prompt dagegen. Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht. Und von wem man sich dreimal verraten fühlt, von dem nimmt man auch einen vierten Vorschlag nicht mehr so ohne Weiteres an. Vergleichen wir eine Phase intensiver Zuwanderung mit der Coronakrise. Es gibt zweifellos strukturelle Ähnlichkeiten, so verschieden beide politischen Themen auch inhaltlich sein mögen.
Gemeinsame Elemente sind:

  1. Schockartige Überforderung der Menschen.
  2. Disruption und ein von den Medien ausgegebenes autoritär auftretendes Narrativ: „Alles ist ab jetzt ganz anders. Passt euch gefälligst an!“
  3. Von der Politik inszenierte spürbare Nachteile für die Bevölkerung, verbunden mit der Aufforderung, diese als unvermeidlich hinzunehmen.
  4. Vorteile für eine kleine Elite, die jedoch verschleiert werden; bei Corona etwa die Riesengewinne der IT- und Pharmabranche, beim Thema Migration Vorteile für Firmen durch ein neues „Heer“ von Arbeitskräften, die auch miese Arbeitsbedingungen in Kauf nehmen.
  5. Die Diffamierung und Ausgrenzung der Kritiker dieser Vorgänge, zum Beispiel als „rechts“.
  6. Der kalkulierte Missbrauch der Geduld und des anfänglichen Wohlwollens der Mehrheitsbevölkerung, man denke etwa an die vielfach ehrlich empfundene Solidaritätswelle der anfänglichen Coronaphase und an die „Willkommenskultur“ zu Beginn der Flüchtlingskrise 2015.
  7. Die Folgen des schockartigen Geschehens werden in den gehobenen Milieus, in denen sich die politischen Entscheider bewegen, kaum gespürt, umso mehr dagegen bei Geringverdienern und prekär lebenden Menschen.

Es ist rational nachvollziehbar, dass Menschen, die durch andere Krisen misstrauisch geworden sind, Absicht und eine „Verschwörung“ seitens der Eliten wittern und demgemäß eine Abwehr gegen Zuwanderung entwickeln.

Wenn Personen und Parteien, die sich in der Vergangenheit als komplett unglaubwürdig erwiesen haben, ausnahmsweise die Wahrheit sagen, wird diese mitunter von den traumatisierten Bürgern nicht mehr akzeptiert. Selbst eine humane und richtige Grundposition wie etwa „Man muss Menschen in Not helfen“ wird dann, wenn sie aus dieser Ecke kommt, neben „Ungeimpfte sind gefährlich“ und „Waffenlieferungen sind alternativlos“ unter der Kategorie „Üblicher Mainstream-Bullshit“ verbucht.

Die Leidtragenden sind jene Zuwanderer, die wirklich in Not sind. Sie werden von Einheimischen mitunter als Vorhut einer Strategie der Überforderung, gar der Zerstörung Deutschlands abgelehnt.

Welche Vorwürfe man auch immer gegen mögliche Regisseure des Migrationsgeschehens erheben mag — die Einwanderer selbst treffen diese nicht. Wichtig ist festzustellen: Migranten sind keine Viren („Welle“), sie sind kein Hochwasser („Flut“) und keine kriegerischen Eroberer („Invasion“). Sie haben die Umstände, die sie zu ihren Fluchtbewegungen getrieben haben, überwiegend nicht selbst erzeugt. Ihr Wunsch nach einem besseren Leben ist verständlich.

Es gibt problematische Migrationsfolgen: Fachkräfte werden aus ihren Herkunftsländern abgezogen, die Arbeits- und Wohnungsmärkte der Zielländer werden zum Schaden der einheimischen Bevölkerung übermäßig belastet. Falls hier aber ein böses Spiel im Gange ist, sollte sich unsere Kritik gegen die Spieler richten, nicht gegen die Spielfiguren.

6. Denkanstoß: Islam-Debatten werden häufig ohne Islam-Kenntnis geführt.

Wozu überhaupt Feindbilder? Die Antwort ist nicht neu: Feindbilder schweißen zusammen, was eigentlich nicht zusammengehört: Arm und Reich, Ausgebeutete und Ausbeuter. Sie dienen der Ablenkung von anderen brisanten Problemen, von denen Herrschende nicht wollen, dass sie im öffentlichen Raum diskutiert werden.

Kennzeichen von Islam-Debatten ist häufig auch mangelndes Wissen über den Islam. Muslime sind ein Feindbild, auf das sich Teile der „konservativen“ und der „alternativen“ Kultur mühelos einigen können. Patrioten sehen das Fremde generell überhandnehmen; Feministinnen und auch religionsferne Menschen pflegen das Feindbild des spießigen, frömmelnden, frauenfeindlichen muslimischen Patriarchen. Im Gegensatz dazu stehen Muslime wie alle Menschen mit Migrationshintergrund oft unter dem besonderen Schutz „woker“ Kreise. Kritik an Zuwanderern gilt per se als rechts. Keines der genannten Klischees ist jedoch geeignet, zu einem gedeihlichen Zusammenleben beizutragen.

Es geht mir nicht darum, die „dunklen Seiten“ des Islam, etwa die Unterdrückung der Frau in islamistisch geprägten Ländern, zu beschönigen. Es kommt nur darauf an, dass wir uns eine gewisse geistige Freiheit bewahren und die von interessierten Kreisen verbreiteten Halbwahrheiten über den Islam ergänzen zu einem vollständigeren Bild, das die Schönheit und Würde dieser Religion zur Kenntnis nimmt. Wer sich umfassender informiert, vorzugsweise auch aus Quellen, die von Muslimen selbst stammen, immunisiert sich gegen einen Hass, der sich durch Provokation und Gegenprovokation zu einem neuen Kulturkampf aufschaukeln könnte.

Positiv im Koran sind zum Beispiel die vielen explizit toleranten Stellen: „All denen — seien es Gläubige, Juden, Christen oder Sabäer —, wenn sie nur an Gott glauben, an den Jüngsten Tag und das Rechte tun, wird einst Lohn von ihrem Herrn, und weder Furcht noch Traurigkeit wird über sie kommen“ (Sure 2, 63). Der islamische Mystiker Ibn Arabi (12./13. Jahrhundert) sagte:

„Mein Herz hat sich allen Formen geöffnet, es ist eine Weide für die Gazellen und ein Kloster christlicher Mönche, es ist ein Götzentempel und ist die Kaaba des Pilgers und die Tafeln der Thora und das Buch des Koran. Ich übe die Religion der Liebe aus, in welche Richtung seine Karawanen auch ziehen mögen.“

Es kostet nur wenig Mühe, in der islamischen Kultur viel Liebe, Weisheit und gedankliche Weite aufzuspüren, vorausgesetzt, man ist dafür offen. Bequemer ist es natürlich, die „schlimmen“ Stellen des Koran wiederzukäuen („Tötet die Ungläubigen, wo ihr sie findet“).

Der mir persönlich bekannte Sufi-Lehrer André Ahmed al Habib schrieb zum Thema Koran-Exegese: „Dunkle Charaktere lesen im Koran die Aufforderung zu Engstirnigkeit und Fanatismus, wohingegen helle Charaktere im Koran die Aufforderung zu Toleranz, zu aktiver Gottes- und Nächstenliebe sowie zur unmittelbaren Erkenntnis der Schöpfung und des höchsten Seins erkennen.“ Daran gemessen sieht es momentan düster aus: in den Köpfen von Islamisten, aber auch in denen vieler Integrationsdebattierer.

Natürlich muss man, worauf auch Raymond Unger in seinem Buch „Die Wiedergutmacher“ hinwies, fragen, wie viele geistig derart offene Muslime es gibt und wie viele in fundamentalistischen Positionen steckengeblieben sind. Wenn die Realität in den Brennpunkten deutscher Städte eine ganz andere ist, hilft es nichts, von den poetischen Ergüssen des Mystikers Ibn Arabi zu schwärmen. Es hilft aber, sich klar zu machen, dass es innerhalb des Islams sehr viele verschiedene Richtungen gibt, die auch in ihrer Haltung bezüglich Toleranz und in der Gewaltfrage differieren.

7. Denkanstoß: Die westliche „Leitkultur“ pflegt zum großen Teil ein idealisiertes Selbstbild.

Auch ich bin dafür, dass möglichst viele Migranten möglichst gut Deutsch lernen. Das ist besser für die Mehrheits- wie für die Minderheitsgesellschaft. Ich kritisiere aber, dass der öffentliche Diskurs weitgehend darum kreist, wie man den Willen von „Integrationsunwilligen“ brechen kann. Weder wird nach den Ursachen dieser Unwilligkeit gefragt, noch gibt es irgendwelche Zweifel an der Qualität der „Leitkultur“. Von der Mehrheitsgesellschaft, für die angeblich Christentum und Aufklärung prägend sind, wird gerade von konservativen Politikern gern ein idyllisches Bild gezeichnet, das von verzerrter Selbstwahrnehmung zeugt.

Statt das christliche Abendland zu bemühen, wie es etwa die Pegida-Bewegung getan hat, sollten wir ehrlich sagen, dass wir in einer Profit- und Sachzwang-Gesellschaft leben, in der überholte Kleriker-Privilegien gepflegt werden.

Die Entscheidung, dem „Herrn oder dem Mammon zu dienen“ ist im christlichen Kulturkreis längst zugunsten des Letzteren ausgefallen. Und den „Ausgang aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit“ — Immanuel Kant über die Aufklärung — drehen wir gerade zurück, indem wir uns von Verdummungsmedien auf eine „alternativlose“ Politik für Konzerninteressen einschwören lassen.

Die Freiheit, die westliche Regierungen gern als Markenkern und Exportschlager zu vermarkten suchen, die „freie Welt“, haben die „Eliten“ wie auch die meisten Bürger in den besagten Ländern faktisch fallengelassen, haben sie durch eine Gehorsams-, Bevormundungs- und Überwachungsgesellschaft ersetzt. Für ein falsches Wort kommt man in Deutschland zwar nicht wie im Iran ins Gefängnis, die Phalanx aus Politik, Medien und eingebetteten Institutionen sorgt jedoch wirksam dafür, dass man das „Falsche“ gar nicht mehr zu denken, geschweige denn öffentlich zu sagen vermag. Mich in diese Gesellschaft zu integrieren, fällt auch mir schwer, obwohl ich über einen kernig-deutschen Namen und garantiert migrationsfreien Stammbaum verfüge.

Bei der derzeitigen Integrationsdebatte greift der Vorwurf der Doppelzüngigkeit, den Jean Ziegler in seinem Buch „Hass auf den Westen“ erhebt. Der Westen, der den Sklavenhandel auf dem Gewissen hat und wieder dabei ist, die Völker des Südens mittels Schuldendienstes zu knechten.

Der Westen, der Kriege für Öl und Absatzmärkte anzettelt und Tausende von Zivilisten im Bombeninferno sterben lässt, dieser Westen versäumt keine Gelegenheit, um sich als Sachwalter der Menschenrechte aufzuspielen. Die Wut darüber wächst in der „Dritten“ und der islamischen Welt. „Schon lange macht sich der Westen nicht mehr klar, wie viel Ablehnung er hervorruft“, schreibt Ziegler.

„Ob bei Abrüstung, Menschenrechten, Kontrolle von Atomwaffen, globaler sozialer Gerechtigkeit — der Westen spricht fortwährend mit gespaltener Zunge. Und der Süden reagiert mit abgrundtiefem Misstrauen. Er hält diesen Westen, der in seiner Praxis ständig die von ihm verkündeten Werte Lügen straft, für schizophren“ (Ziegler).

Ein Problem sehe ich darin, dass viele Westler nicht ausreichend in ihrer eigenen Kultur verwurzelt sind, ja diese nicht einmal gut kennen. Dadurch fühlen sie sich angesichts selbstbewusster Muslime leicht verunsichert oder lassen sich selbst von einem zarten Windhauch aus Osten oder Süden umblasen.

Als „Lösungen“ wählen viele dann entweder die Kapitulation im Sinne von Michel Houellebecqs Roman „Unterwerfung“, oder sie wollen die fremdländische Provokation am liebsten ganz aus ihrem Gesichtsfeld entfernen.

8. Denkanstoß: Die allgemeine Aversion gegen „Parallelgesellschaften“ resultiert aus einer Angst der Eliten vor Machtkonkurrenz.

Es macht Politikern offenbar Angst, dass sich Menschen in ihrem Machtbereich nach Regeln richten könnten, die nicht von ihnen erschaffen und kontrolliert werden. Tiefgläubige Menschen sind ihnen insofern ein Dorn im Auge. Der Gott der großen christlichen Kirchen diente der Politik zur Stabilisierung ihrer Macht. Ein vermeintlich fremder Gott wird als Machtkonkurrenz gefürchtet. Deshalb wird auch gebetsmühlenhaft beschworen: „Hier gilt das Grundgesetz, nichts anderes.“

Es ist eine fast kindlich-trotzige Bekräftigung des eigenen Machtanspruchs: „Wir bestimmen hier, sonst niemand.“ Dabei sagte schon Jesus: „Und fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, die Seele aber nicht zu töten vermögen.“ Dies kann als Aufforderung gelesen werden, die weltliche Obrigkeit nicht so furchtbar wichtig zu nehmen.

Erschafft Religiosität eine noch tyrannischere geistliche Obrigkeit, so können wir getrost auf diese verzichten; verweist sie den Menschen dagegen auf sein Innerstes, sein Gewissen, kann sie befreiend wirken. Und welcher Machthaber ist schon an wirklicher, innerer Freiheit seiner Untergebenen interessiert? Vielleicht ist auch dies ein Grund dafür, dass die islamische Religion gern als irrational und fundamentalistisch abgekanzelt wird.

Ein weiteres Mantra der Politiker ist: „Es darf keine Parallelgesellschaften geben.“ Ich selbst beschäftige mich schon lange mit dem Gedanken, wie eine postkapitalistische, sozial ausgewogene, liebevolle Parallelgesellschaft aufgebaut werden kann. Diese sollte weitgehend unbehelligt vom organisierten Irrsinn des Mainstreams gedeihen, diesen aber mit ihren Ideen inspirieren. Gedacht werden könnte zum Beispiel an eine „alternative“ Szene, deren Mitglieder sich unsinnigen und demütigenden Regeln wie im Fall der Coronamaßnahmen zu entziehen versuchen. Eine islamische Parallelgesellschaft wäre nicht die meine. Es fasziniert mich aber, dass dergleichen möglich ist und offenbar vielerorts gut funktioniert.

Die Ablehnung von Parallelgesellschaften zementiert den Anspruch der kapitalistisch-materialistischen Leitkultur, jeden Winkel eines Staatsgebiets regulierend zu durchdringen.

Ich möchte nicht missverstanden werden: Wenn es um Menschenrechte geht, ist das Grundgesetz noch immer verlässlicher als seine Alternativen, etwa die Scharia. Andererseits ist das Niveau der politischen Klasse, die heute Gesetze macht, nicht derart hoch, dass man sich nach deren alleiniger kultureller Dominanz sehnen würde.

Letztlich ist die Alternative zwischen Scharia und einer Plutokratie mit demokratischen Restinstitutionen nur eine scheinbare. Sie ist uns aufgeschwatzt worden, um unsere Solidarität mit dieser Herrschaft der Reichen zu stärken. Was ich mir wünschen würde, ist ein dritter Weg. Um ihn zu finden, können uns die positiven Aspekte der islamischen Kultur wertvolle Anregungen geben. Ebenso wie die der jüdischen Kultur, der Buddhisten, der Indigenen in Südamerika und anderer. Schon die indische Schriftstellerin Arundhati Roy machte darauf aufmerksam, „dass die Völker der Welt nicht zwischen einer böswilligen Mickymaus und wild gewordenen Mullahs zu entscheiden brauchen“. Von diesen falschen Extremen Abschied zu nehmen, heißt, zu gesunden.


Am 27. März erschien „Strategien der Macht“ von Roland Rottenfußer. Hier können Sie das Buch bestellen: als Taschenbuch oder E-Book.


Klappentext:

Wenn jetzt nicht etwas Grundlegendes geschieht, dann war’s das mit der Freiheit. Und nicht die Angriffe ihrer Gegner werden ihr den Garaus machen — die Gleichgültigkeit derer, die sie so lange genossen, wird es tun.

Pandemien, Weltkrieg, Klimanotstand: Die Freiheit schwebt in höchster Gefahr. „Freiheitsgesäusel“? „Mehr Diktatur wagen“? Was ist kaputt in den Herzen und Köpfen der vielen, dass sie sich selbst und ihre Freiheit so geringschätzen, ja regelrecht verachten? Warum stimmen sie ihrer eigenen Entrechtung zu und scheinen in ihre Ketten geradezu verliebt?

Roland Rottenfußer zeigt: Wir sind Gefangene unserer Illusionen, Gefangene der Lügen und Strategien der Macht. Doch der Kaiser ist längst nackt, der Zauberer von Oz nur ein größenwahnsinniger Zwerg, der an Hebeln zieht. Erkennen wir, dass unsere Angst grundlos ist, fällt der Bann von uns ab und finden wir zurück in unsere Wahrheit und Kraft:

„Wäre die Freiheit eine Person, eine schöne Göttin — was würde ich ihr sagen? Vor allem eines: Verzeih uns! Verzeih uns diesen erbärmlichen, unwürdigen Verrat. Es wird nie wieder vorkommen. Von nun an werden wir besser für dich kämpfen.“

Rottenfußers Buch ist eine Liebeserklärung an die Freiheit und individuell-kollektive Revolutionsanleitung zugleich. Der Weg liegt vor uns, wir müssen ihn nur noch gehen. Ganz nach der Devise von Bertolt Brecht: „Wenn die Wahrheit zu schwach ist, sich zu verteidigen, muss sie zum Angriff übergehen.“


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