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Frei von Sicherheit

Frei von Sicherheit

Wer uns zu unserem „Schutz“ einsperrt und von allen Risiken fern hält, von dem geht die größte Gefahr aus.

Als ich klein war, gab es keine Sicherheit. Das heißt: Manchmal sagte zwar ein Erwachsener etwas Hochgestochenes wie „Mit Sicherheit wirst du eine Watschn kriegen, wenn du so weitermachst!“, aber das war was anderes. Eine Ahnung dessen, was Sicherheit sein könnte, gab es höchstens medizinisch, weil wir als Kinder ja auch schon geimpft wurden, allerdings gegen Krankheiten, die es entweder gar nicht mehr gab oder von denen niemand wusste, was das eigentlich war, und insgesamt summierte sich diese vage Sicherheit auf ungefähr vier Impfungen, zu denen man immer irgendwie hingetrickst wurde, so ungefähr: „Komm, wir gehen ein Eis essen!“

Dann fand man sich plötzlich in der Praxis der Kinderärztin wieder, die wie üblich mit Zigarette im Mund eine Spritze aufzog — wozu sie ihr Cognacglas kurz abstellte —, und musste die Hose runterziehen, und dann tat es weh, und das Eis gab’s danach, das wollte ich aber nicht mehr, aus Trotz, weil das irgendwie Verrat war. Bei einer anderen Impfung musste man einen Zuckerwürfel lutschen, was mir noch mehr abverlangte, weil ich Zucker widerlich fand. Viele Kinder bekamen nach den Impfungen seltsame Krankheiten, Pseudokrupp und rätselhafte Allergien, aber das war auch nicht so wichtig, weil jeder irgend so was hatte. Und das Wort „Sicherheit“ wäre uns im Zusammenhang mit dem Schmarrn jedenfalls nie eingefallen.

Der letzten solchen Impfung — gegen Pocken, mit zwölf — entging ich, weil ich zwei Tage zuvor mit einem aufgemotzten Mofa gegen eine Betonwand geknallt war und eine ziemlich coole Riesenschürfwunde unter dem rechten Auge hatte. Der Nachholtermin fiel auch aus, weil es die Pocken ja, wie gesagt, nicht mehr gab und die Impfung deswegen abgeschafft wurde.
Andererseits war das mit dem Mofa vielleicht ein Hinweis. Damals kam nämlich gerade die Mode auf, dass manche Motorradfahrer einen Helm trugen. Nicht die Chicago-Rocker aus der Nachbarschaft, sondern eher Rennfahrer, die es berufsbedingt oft aus der Kurve schmiss, und ältere Herren aus Grünwald, die dreißig Jahre nach dem Krieg plötzlich Angst um ihre Sicherheit bekamen oder ausschauen wollten wie Rennfahrer.

Ansonsten aber war die Welt, wie gesagt, frei von Sicherheit. Wir Kinder kletterten in Kellergewölben auf Öltanks herum, kraxelten auf Bäume und krachten samt Ast in den Sandkasten, überstiegen Stacheldrähte, hüpften aus Fenstern, brachen in Schrottplätze und Baustellen mit metertiefen Kalkgruben ein, kletterten auf Bagger und Kräne, balancierten zur Mutprobe auf zehn Meter hohen Mauern, rasten zu fünft mit einem Kettcar den Giesinger Berg hinunter — auf der Straße selbstverständlich, weil das auf dem Kopfsteinpflaster so lustig ratterte —, und wer in der dritten Klasse noch nicht von einem Auto überfahren worden war, musste ein Feigling sein.

Wir kratzten uns in Brombeersträuchern blutig, spielten lustige Taschenmesserspiele, die ich lieber nicht näher beschreibe, ließen uns von Mäusen und Hunden beißen, bastelten an Neujahr aus Silvester-Blindgängern veritable Rohrbomben, fingen stachelige Igel, robbten durch die Lüftungsschächte des Neubaus einer Versicherung, schlugen uns auf Hartplätzen so ausdauernd die Knie auf, dass der Verdacht, der Kies sei vom Blut der vielen Fußballhelden so rot geworden, nicht von der Hand zu weisen war.

Wir rauchten, wenn Zigaretten nicht verfügbar waren, Jutenstrick, tanzten um brennende Müllhalden, liefen in den Sommerferien im Staubsturm hinter dem Mähdrescher her, fuhren infolge einer Verwechslung der Pedale den Bulldog in den Mühlbach, ließen uns im Schweinestall die Sandalen anfressen, bohrten Faschingsrevolver auf, um sie zu Kartoffelpistolen umzuwandeln, schlossen mit metzgermäßigen Ritualen Blutsbrüderschaft, bewunderten die Quaddeln, die einer davontrug, den wir in die Brennnesseln geschmissen hatten, konstruierten spannende elektrische Konstruktionen, sägten Löcher in Ruinendächer, veranstalteten Wetten, bei denen man Reißnägel, Rasierklingen, Biergläser und andere Gegenstände verzehren musste, schmissen uns Flaschen an den Kopf, beschossen uns mit Pfeil und Bogen und auf Baustellen geklauten Betonsprengkartuschen, und in demselben Sommer mit dem Mofaunfall bekamen wir von einem Hausmeister ein Auto geschenkt, das wir auch ohne die ausgebaute Batterie mit acht Kinderstärken auf zehn km/h beschleunigten, um auszuprobieren, wie weit einer, der auf dem Dach stand, bei einer Vollbremsung fliegen konnte. Von dem, was wir so alles im Wald fanden und pflückten und verzehrten, will ich gar nicht reden, von Experimenten mit Chemikalien und gegrillten Kaugummis lieber auch nicht.

Genau betrachtet gab es damals allerdings schon eine Sicherheit, aber von der erfuhren wir erst mit etwa vierzehn Jahren: Nämlich war ganz Europa und speziell Deutschland gespickt mit Atomraketen, die laut den Propagandaleuten im Fernsehen „unsere Sicherheit garantieren“ sollten.

Das war uns aber erst einmal egal, und später machte es uns zu Punkrockern, weil wir einsehen mussten, dass es in einer Welt, in der jederzeit wegen eines kleinen Versehens der endgültige Untergang losbrechen mochte, keine Zukunft geben konnte. Das andere Lager behauptete, lieber tot als rot sein zu wollen, aber mit Sicherheit hatte das auch nicht viel zu tun.

Das mit der Sicherheit begann erst später, und es folgte einer seltsamen Logik: Plötzlich durfte man dies und das und bald ganz vieles nicht mehr, wegen der Sicherheit. Auf einmal war es im Schwimmbad verboten, vom Beckenrand ins Wasser zu hüpfen, weil das unsicher war. Kaum waren ein paar Jahre vergangen, durfte man praktisch überhaupt nichts mehr, wegen der Sicherheit. Und da trat die große Paradoxie des Sicherheitstheaters zutage: Kaum war eine Sicherheitslücke geschlossen, hatte sich schon wieder eine neue geöffnet. Als ich in die Schule kam, besuchte uns am ersten Tag ein Polizist, der uns einschärfte, auf Landstraßen solle man links gehen, und uns die Grundregel auswendig lernen ließ: „Schau links, schau rechts, schau gradeaus, dann kommst du sicher gut nach Haus!“

Dazu bekamen wir einen Aufkleber, den wir uns auf den Ranzen bappen durften: „Sicher zur Schule, sicher nach Hause“. Das alles kümmerte uns nicht sonderlich; wir rumpelten weiterhin als wilde Horde mit Schrottfahrrädern und reifenlosen Tretrollern durchs Viertel. Zwanzig Jahre später sahen Schulkinder aus wie außerirdische Roboter in futuristisch blinkenden Raumanzügen, und noch mal zehn Jahre danach waren die Bürgersteige leergefegt, weil man die Bamsen lieber mit dem SUV direkt an die Schleuse lieferte, wo sie auf Waffen kontrolliert und unter Hochsicherheitsbewachung in die Lehrräume geleitet wurden, wo man ihnen beibrachte, wie man sich die Hände wäscht, Masken ins Gesicht schnallt und Kondome richtig abrollt, um in jeder Lebenslage an nichts anderes mehr denken zu können als an Sicherheit.

Ähnlich lief das in fast allen anderen Bereichen. Aus den drei oder vier Impfungen unserer Kindheit wurden im Lauf der Zeit zwanzig oder dreißig und in Amerika angeblich ganze fünfzig oder achtzig oder vielleicht schon hundert.

Dann kam ein irres Riesenbaby mit größenwahnsinnigen Ambitionen daher und wollte sieben Milliarden Menschen per Drei-, Vier-, Fünffachspritze in eine Art Genmais verwandeln, zur Sicherheit, freilich.

Sein Untergebener bei der sogenannten Weltgesundheitsorganisation, seit deren Gründung sich die Zahl der kranken Menschen auf der Welt ungefähr verzehnfacht hat, tönte dazu, niemand sei sicher, solange nicht alle sicher seien, und pumpte das Menschenvieh solcherart restlos mit dem voll, was ihnen sowieso schon bei den Ohren herauskam: Angst, Scham, Schuld, Hilflosigkeit und Hass auf die, die den Irrsinn nicht mitmachen wollten. Gleichzeitig wurden die Waffen und Massenvernichtungsmittel, die „die Sicherheit sichern“ sollten, immer brutaler, aberwitziger und tödlicher, die Autos verwandelten sich in ferngesteuerte und dauerüberwachte Hi-Tech-Panzer, die Wohnungen wurden gespickt mit Messgeräten, Rauchmeldern und Kontrollstationen; aus dem freundlichen Schutzmann wurden militärisch gedrillte Sondereinsatzkommandos, die pausenlos durch die Städte patrouillieren, die davon aber nicht etwa sicherer, sondern immer noch prekärer werden, weshalb die Sicherheitssoldaten immer brutaler auf ihre Schutzverpflichteten einprügelten, wenn diese zum Beispiel verbotenerweise auf einer Parkbank ein Buch lesen wollten.

Aus Angst vor einer Erkältung ließen sich Millionen Menschen gleich ganz einsperren, wochenlang, verkümmerten bei dreißig Grad mit mumifizierten Gesichtern in ihren Wohnzellen, um sicher zu sein, und wurden täglich kontrolliert, ob sie auch brav drinnen saßen, zu ihrer eigenen Sicherheit.

Überhaupt werden wir ununterbrochen kontrolliert, überwacht, müssen uns ausweisen, einfügen, unterwerfen, beim Essen auf „Nutriscores“ und MHDs achten und nichts verzehren, was nicht in Plastik verpackt und dreifach gewaschen ist, und das auch nur mit frisch desinfizierten Händen. Jeder Dachziegel ist zertifiziert, jede Steckdose fünffach gesichert, jede Tüte mit ausführlichen Warnhinweisen bedruckt, nichts mehr erlaubt, was nicht mindestens fünf Siegel irgendwelcher „Zertifizierungsstellen“ trägt, und neuerdings kommt der durchgeknallte Pharmakasperl mit den kaputten Zähnen und dem irren Blick daher und behauptet, der Sommer sei überhaupt die größte Gefahr aller Zeiten, noch viel schlimmer als damals die grauenhafte Pseudopandemie; drum müsse man unbedingt von März bis Oktober in dunklen Kellern ausharren und den ganzen Tag Wasser trinken, sonst gebe es Millionen Hitzetote, weil man sich gegen schönes Wetter leider nicht gentechnisch behandeln lassen kann.

Als nächste Schritte in diesem unfassbaren Affentheater kann man eigentlich nur noch das Atmen komplett verbieten und die Menschen intravenös füttern oder gleich in Kunstharz eingießen.

Und zwar, ich wiederhole mich, ausschließlich zu ihrer eigenen „Sicherheit“. Die dadurch, wie erwähnt, paradoxerweise immer mehr schwindet, weil mit jedem neuen „Check“ automatisch eine neue Gefahr daherkommt, so dass insgesamt alles immer schlimmer wird. Inzwischen kann der westliche Mensch kaum noch ein Eis essen, ohne sich die Zunge zu brechen, und kein klassisches Buch mehr lesen, ohne „getriggert“, empört und mit „Mikroaggressionen“ überschwemmt zu werden, während gleichzeitig der Kriegsminister und seine Fernsehpropagandaplapperer den Zweiten Weltkrieg studieren, um herauszufinden, welche damaligen Fehler man beim nächsten Mal ab 2029 vermeiden muss. Sogar dieser geplante Massenmord und Massenselbstmord dient selbstverständlich dem gleichen Zweck, dem alles dient, was Herrscher heute mit ihren Untertanen anstellen zu dürfen glauben: der Sicherheit!

Das ist übrigens der nicht zu überbietende Gipfel der Paradoxie: dass wir damals – im Schatten der drohenden atomaren Apokalypse – irgendwie doch recht fröhlich und vor allem friedlich vor uns hin leben konnten. Heute können wir keinen Schritt mehr tun, ohne irgendwie mit dem Bemühen des totalitären Regimes um unsere Sicherheit konfrontiert, terrorisiert und gefoltert zu werden.

Und gleichzeitig fordert dasselbe Regime, wir müssten „kriegstüchtig“ werden, um den Russen und womöglich auch noch den Iraner und den Chinesen zu vernichten, uns also begeistert und heldenhaft hineinwerfen in die absolute Unsicherheit, in deren Konsequenz nur eines sicher ist: die totale Vernichtung von allem und jedem.

Ja, das ist schon alles irgendwie sehr widersinnig, finden Sie nicht? Mir drängt es die Frage auf, was eigentlich an der Welt so schlimm ist, dass man ihr unbedingt entgehen und sie am besten komplett zerstören möchte. Und was an einem Leben, das sowieso unausweichlich mit dem Tod endet, so beängstigend sein soll, dass man es um jeden Preis vermeiden möchte, um „sicher“ zu sein. Möglicherweise steckt dahinter ein Plan, der irgendwas mit Ausbeutung und Profit, mit Angst und Wahn, Verblendung, Verblödung, Hetze und Massenpsychose zu tun hat. Aber darüber dürfen Sie gerne selber nachdenken. Ich werde jetzt mein Hirn ausschalten und den Sommer so erleben, wie er ist: gefährlich, wild, schön, absolut unsicher. Aber jedenfalls friedlich.


Belästigungen #37 - Niemand ist sicher, wenn alle sicher sind - von Michael Sailer

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