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Friedensbewegung 2.0

Friedensbewegung 2.0

Durch Achtsamkeit gelingt es Daniele Ganser, angesichts des politischen Schreckens auf der Welt nicht den Mut zu verlieren.

Grüne Bäume säumen die Straßen. Die Sonne scheint und ich fühle mich ein wenig wie ein kleines Mädchen vor dem ersten Schultag. Als ich ankomme, stehen bereits einige Leute vor dem Gebäude, einer von ihnen ist Daniele Ganser.

Seit Monaten freue ich mich auf diesen Tag. Als ich las, dass mein Rubikon-Kollege Jens Lehrich zusammen mit Daniele Ganser einen Achtsamkeits-Workshop veranstaltet, meldete ich mich sofort an, denn ich wollte den Friedensforscher unbedingt einmal persönlich kennenlernen. In seinen Vorträgen erläutert er anschaulich, unaufgeregt und sehr integer die oft unglaublichen Zusammenhänge der jüngeren Geschichte. Er stellt wichtige Fragen und fordert seine Zuhörer zum Selberfragen auf. Ich bewundere seine mutige Haltung gegen die Kriegstreiber unserer Zeit.

Der Veranstaltungsort — ein Gebäude in einem Hinterhof mit lichtdurchfluteten, farbenfrohen Lofts auf drei Etagen, ist gemütlich mit Teppichen auf Sitzbänken, Sofas und Stühlen eingerichtet und sorgt für eine wohlige Wohnzimmeratmosphäre. Nach und nach nehmen die einhundert Teilnehmer ihre Plätze ein. Spannung liegt in der Luft.

Auch nur Menschen

Zuerst ergreift Jens Lehrich das Wort. Er erzählt von seinem Hauptberuf als Comedian, in dem er eine Rolle spielt, die ihm nicht immer leichtfällt. Zum ersten Mal spricht er auch öffentlich über seine persönliche Geschichte, von einer Zeit, in der er „konsumgeil“ viele Schulden anhäufte und sich über Autos und Uhren definierte bis hin zum Wendepunkt, als einer seiner Söhne erkrankte. Seine Stimme stockt. Da steht er nun vor einhundert fremden Menschen und zeigt sich in seiner Verletzlichkeit, die auch ihn selbst zu überraschen scheint.

Das Eis ist gebrochen. Am Ende seiner Einführung spielt Jens Lehrich ein selbst komponiertes Stück auf dem Klavier. Ich spüre, wie in mir etwas zu bröckeln beginnt. Warum bin ich noch einmal hergekommen? Um Daniele Ganser zu treffen? Das erscheint mir nun absurd. Denn darum geht es einem anderen Teil in mir überhaupt nicht. Ich fühle mich genau am richtigen Ort zur richtigen Zeit. Ich komme runter.

Als nun Daniele Ganser ins Mikrofon spricht, sehe ich den Menschen und nicht die öffentliche Person. Er strahlt Gelassenheit und Selbstbewusstsein aus, während er zugleich von eigenen Zweifeln erzählt. Es ist das erste Mal, dass er die Achtsamkeit zum Thema einer Veranstaltung macht, nachdem Jens Lehrich ihn dazu „anstiftete“. Denn am Ende seiner Vorträge über die illegalen Kriege seit der UNO-Gründung spricht er immer wieder davon, wie die Achtsamkeit ihm hilft, bei all dem Schrecken, mit dem er sich beschäftigt, nicht den Lebensmut zu verlieren.

Was ist Achtsamkeit?

Der Beamer wirft ein Bild von einer Schneeflocke an die Wand. „Etwas grüne Natur wäre schöner gewesen“, höre ich meine Gedanken klugscheißen. „Überall in der Natur können wir Symmetrie finden“, erklärt Daniele Ganser. Wenn wir uns vornehmen, Symmetrie in der Natur zu suchen, brechen wir aus unseren Grübeleien und Gedankenmustern aus und beginnen das zu sehen, was um uns herum ist, beschreibt er eine seiner „Techniken“. Eine Brücke ins Hier und Jetzt. Ein praktischer Einstieg in die Achtsamkeit.

Es geht auch darum festzustellen, dass wir unseren Gedanken zuhören können. Dass ein Teil in uns völlig unabhängig von ihnen existiert und sie hören kann, dass wir somit nicht unsere Gedanken sind. Im Laufe des Workshops lesen verschiedene Teilnehmer Zitate aus Büchern mehrerer Achtsamkeitslehrer vor. Eines von Eckhart Tolle ergänzt diesen Gedankengang:

„Der nächste Schritt in der Evolution des Menschen ist der, über das Denken hinauszugehen. Das ist jetzt unsere vordringlichste Aufgabe. Es bedeutet nicht, dass wir zu denken aufhören sollten, sondern nur, uns nicht vollkommen mit dem Denken zu identifizieren, uns nicht vom Denken vereinnahmen zu lassen“ (1).

Achtsamkeit und die Friedensbewegung

Daniele Ganser verbindet das Thema Achtsamkeit mit seiner Arbeit als Historiker und Friedensforscher. Wie können wir all das Elend ertragen? Wie nicht verrückt und depressiv werden angesichts der Probleme, die vor uns als Menschheit liegen?

Er zeigt Zitate von amerikanischen Politikern, die nach dem 11. September Lügen erzählten, um in Afghanistan und den Irak einmarschieren zu können. Millionen Tote, Krieg und Verwüstung. Mir laufen die Tränen. Meine ständig unterschwellig vorhandene Traurigkeit bricht hervor. Der drohende Krieg gegen den Iran taucht in meinen Gedanken auf. Meine Schwester ist mit einem Iraner verlobt. Am Vorabend waren wir bei seiner Familie essen. Menschen zu kennen, deren Herkunftsland vom Unvorstellbaren bedroht ist, macht die Gefahr spürbarer. Hier geht es nicht um Zahlen — Millionen — sondern um Menschen — Tote und Verletzte, Vertriebene und Traumatisierte.

Die Friedensbewegung wird immer wichtiger — ohne jeden Zweifel. Doch was ich oft beobachte, sind Autoren und Aktivisten, die sich in Machtkämpfen und Rechthaberei verstricken, die ihre eigenen Trigger nicht kennen, sich spalten lassen und Andersdenkenden über den Mund fahren, sie verurteilen und anfeinden.

Genau hier kommt die Achtsamkeit ins Spiel: Jeder Mensch, der zum Frieden in der Welt beitragen möchte, kommt nicht umhin, sein eigenes Verhalten zu beobachten und zu hinterfragen.

Achtsamkeit im Alltag hilft uns dabei, uns selbst friedlicher zu verhalten. Uns nicht mehr spalten zu lassen und vor allem auch, Kraft zu finden.

Wenn wir uns daran erinnern, dass bei all dem Chaos in und zwischen uns Menschen in der Natur stets eine unzerstörbare Ordnung herrscht. Dass auch wir ein Teil dieser Natur sind und in uns eine unzerstörbare Quelle der Stille finden. Wir müssen nur lernen, diese Quelle hinter all den Gedanken und Grübeleien wieder wahrzunehmen.

Dann ist auch Raum für gemeinsames Trauern, für wirkliche Begegnung im Gefühl der Menschlichkeit anstelle eines Aufeinanderprallens verschiedener Ansichten im Eifer getriggerter Emotionen und kopfgesteuerter Überforderung.

Eine neue Bewusstseinsebene

Im Laufe des Workshops meldeten sich viele Teilnehmer zu Wort — erst zögerlich und nach und nach immer mutiger und offener. Persönliche Erfahrungen, Gefühle, Wahrnehmungen wurden preisgegeben und angehört.

Ein Teilnehmer hatte nicht genau auf den Namen der Veranstaltung geachtet und dachte, es würde auch diesmal um Kriegslügen und illegale Kriege gehen. Er wäre nie auf dieses Thema — Achtsamkeit — gestoßen und war nun sehr froh, hier zu sein: Es half ihm sehr. Dieser erste Schritt zu merken, dass sein Selbst nicht seine Gedanken sind, sondern dass er ihnen zuhören kann. In der Pause sprach ich ausführlicher mit ihm und war erstaunt über seine Offenheit.

Er hatte lange als Geschäftsführer in einem großen deutschen Unternehmen gearbeitet und erst vor einem Jahr gekündigt, als dessen Politik mit seinen Werten nicht mehr vereinbar war. Nun hat er vierzig Kühe und sucht nach einem neuen Weg für sein Leben. Er war mit seinem fast erwachsenen Sohn angereist, der ihn erst auf Daniele Ganser gebracht hatte. Und darauf, dass die Dinge nicht so sind, wie sie in unseren Medien berichtet werden. Dieser Mann wachte also im doppelten Sinne auf: zunächst in der „weltlichen Welt“ aus Nachrichten und Politik und nun auch in der geistlichen, wo er diese neue Bewusstseinsebene durch verschiedene Übungen entdeckte.

Eine einfache „Achtsamkeitsmethode“, zu der Daniele Ganser uns anregte, bestand darin, in unserem Inneren „Hallo“ zu rufen. Also „Hallo“ zu denken:

„Da Sie die Stimme sprechen hören, sind offensichtlich nicht Sie diese Stimme. Sie sind derjenige, der die Stimme hört. Sie sind derjenige, der wahrnimmt, dass sie spricht.

Sie hören die Stimme, wenn sie spricht, stimmt‘s? Bringen Sie sie jetzt dazu ‚Hallo‘ zu sagen. Lassen Sie sie das mehrere Male wiederholen. Und nun lassen Sie es in sich drin rufen! Können Sie sich selbst hören, wie Sie da drin ‚Hallo‘ sagen? Natürlich können Sie das“ (2).

So einfach kann jeder selbst erfahren, dass er nicht seine Gedanken ist, sondern der Zuhörer.

Ein anderer Teilnehmer erzählt von seiner Zeit als Soldat bei der Bundeswehr. Staunen geht durch den Raum. Da spricht ein Mensch, der wirklich weiß, was Krieg bedeutet, der ihn hautnah erlebt hat.

Er berichtet, dass es Daniele Gansers Vorträge waren, die dazu führten, dass er die Bundeswehr und seine Arbeit als Soldat hinterfragte und letztendlich kündigte. Daniele Ganser ist sichtlich gerührt zu sehen, wie seine Arbeit das Leben seiner Zuhörer und Leser real beeinflusst. Auf seine Frage, wie die Kollegen des Exsoldaten denken und wie sie diesen Job aushalten, beschreibt er, dass viele nicht hinterfragen möchten, da sie bei der Bundeswehr ein sicheres Einkommen haben, das ihre Familien ernährt. Sie haben Angst — wie jeder Mensch. Existenzängste bringen uns dazu, vieles auszuhalten.

Auch hier hilft die Achtsamkeit, um diese Ängste ins Bewusstsein zu holen, ihnen zuzuhören, sie anzunehmen und nach Lösungen zu suchen, anstatt in das Unbewusste und die Ablenkung zu flüchten und bis zum Burnout weiter für dieses zerstörerische System zu funktionieren, das man selbst gar nicht will.

Ich fühle große Dankbarkeit gegenüber diesem Teilnehmer, da er mich daran erinnert, dass auch all diese Soldaten Menschen sind. Wie oft verurteile ich sie in meinem Kopf. Oder anders: Wie oft verurteilen meine Gedanken sie. Wie oft wünschte ich, es würde sich einfach keiner mehr als Soldat melden. Jetzt fühle ich Traurigkeit und Betroffenheit, aber immerhin keine Spaltung mehr zu diesem Teil der Menschheitsfamilie.

Hoffnung und Zuversicht

Am Ende teilen wir unsere Visionen miteinander, in Zweiergesprächen oder am Mikrofon vor allen. Ein junger Mann fand seine Bestimmung darin, etwas gegen den Welthunger zu unternehmen, was ihm im Gefühl der Machtlosigkeit und Depression hilft, neuen Lebensmut zu fassen und seinem Leben einen Sinn zu geben. Andere Teilnehmer möchten sich mehr in Achtsamkeit üben und ihr Umfeld damit anstecken. Manche arbeiten Traumata durch verschiedene Therapieformen auf und stellen sie vor, damit andere inspiriert werden können und wir uns von einer „traumatisierten Gesellschaft“ zu einer gesunden wandeln.

Humorvoll warnt Daniele Ganser jedoch davor, andere Menschen „bekehren“ zu wollen. Natürlich können wir von dem erzählen, was uns hilft, und Impulse geben, aber wenn man dabei nicht achtsam ist, neigt man schnell zu einem überheblichen Ton, der andere eher nervt oder abstößt.

Denn Achtsamkeit kann am Ende nur jeder Mensch für sich selbst entdecken, üben und leben.

„Was ist eure Vision“, fragt eine Stimme aus dem Publikum.

„Mehr Menschlichkeit“, sagt Jens Lehrich. „Die Friedensbewegung mit Achtsamkeit weiter zu stärken“, antwortet Daniele Ganser.

Gegen Ende erzählte der Historiker auch seine eigene Geschichte — von den Ungereimtheiten bei seinen Nachforschungen zu Nine Eleven über den Mut, dank der Ermutigung durch seine Frau, nicht einzuknicken und andere Menschen weiter für diese Ungereimtheiten zu sensibilisieren, bis hin zu den Verleumdungen seiner Person in den Medien. Ohne die Anwendung von Achtsamkeitsübungen, ohne die Beobachtung seiner Gedanken, ohne die Besinnung auf die Ordnung der Natur, die immer gleichzeitig zu all dem Chaos und Schrecken existiert, würde er wohl nicht so gerade und stark vor uns stehen und seinen Weg der Aufklärung über Kriegslügen gehen können.

Der Beamer wirft einen Zeitungsartikel mit den Schreckensbildern vom 11. September an die Wand. Dunkler Rauch, Feuer, Zerstörung, dazu eine hetzerische Überschrift gegen den Schweizer Historiker. Bedrückung macht sich in mir breit. Und dann auf einmal wieder die Schneeflocke. Erleichterung. Diese zarte, klare, symmetrische Schneeflocke. „Welch eine schöne Bildwahl“, flüstern meine Gedanken.

Gestärkte Friedensbewegung

Nach dem Workshop stehen wir alle noch in Grüppchen zusammen und tauschen uns aus. Ich geselle mich zu einer Herrenrunde im Innenhof und staune. Die Männer sprechen über ihre Gefühle, ihre Kindheit, ihre Verletzungen und über die verschiedenen Möglichkeiten, damit umzugehen. Mitgefühl, Zuhören und Vertrautheit herrschen zwischen uns. Überhaupt war ich überrascht, dass ungefähr die Hälfte der Teilnehmer Männer waren. Obwohl die Themen ans Eingemachte gehen, lachen wir und umarmen uns zum Abschied. Ein solcher Umgang miteinander schweißt uns zusammen. Hier fühle ich mich in der Tat als Mitglied einer starken Friedensbewegung.

Auch mit Jens Lehrich und Daniele Ganser setze ich mich noch einmal in Ruhe zusammen, um diesen Tag Revue passieren zu lassen.

„Ich habe mich das erste Mal so auf einer Bühne geöffnet“, sagt Jens Lehrich, „das hat mich ganz schön Überwindung gekostet. Doch ich glaube, es hat dazu geführt, dass diese offene, herzliche Atmosphäre entstand und auch andere ihre persönliche Geschichte erzählten.“

„Bisher habe ich diesem Thema am Ende meiner Vorträge immer nur ein paar Minuten gewidmet“, so Daniele Ganser, „doch ich denke, es ist wichtig, der Achtsamkeit mehr Raum zu geben, um die Friedensbewegung zu stärken.“

Mit seiner Dauer von zehn Stunden allein für dieses Thema war der Workshop ein guter Anfang. Jetzt liegt es an uns allen, die Kraft der Achtsamkeit im Alltag zu nutzen, uns immer wieder darin zu üben und einander als Menschen zu begegnen.

Fazit

Achtsame Menschen sind nicht mehr steuerbar. Wenn wir unser Bewusstsein zentrieren und aufgeklärt sind, ohne uns von unseren eigenen Gedanken und Emotionen lenken zu lassen, können wir selbst friedlich bleiben in all dem Chaos.

Achtsamkeit ist somit das stärkste Werkzeug, das wir haben, um uns immun gegen die Propaganda der Kriegstreiber zu machen. Eine friedliche Revolution durch Achtsamkeit.


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Jens Lehrich am Klavier. Foto: Dirk Wächter.

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Daniele Ganser über Nine Eleven. Foto: Dirk Wächter.

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Jens Lehrich, Daniele Ganser und Schneeflocke. Foto: Dirk Wächter.

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Daniele Ganser, Elisa Gratias und Jens Lehrich. Foto: Dirk Wächter.


Quellen und Anmerkungen:

Veranstaltungshinweis: Nach dem positiven Feedback der Teilnehmer steht bereits fest, dass der nächste Achtsamkeits-Workshop am Samstag, dem 13. Juni 2020, in Hamburg am selben Ort stattfinden wird.

(1) Eckhart Tolle, „Stille spricht. Wahres Sein berühren“, Arkana Verlag 2003. Von Daniele Ganser ausgewähltes Zitat aus dem Workshop.
(2) Michael Singer, „Die Seele will frei sein. Eine Reise zu sich selbst“, Ullstein 2016. Von Daniele Ganser ausgewähltes Zitat aus dem Workshop.


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