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Geteiltes Leid

Geteiltes Leid

Machen wir gemeinsame Sache, anstatt weiter zu trennen und auseinanderzudividieren.

Hurra! Ich habe ihn, den Code, den Pass, das Sesam-öffne-dich für Kinos und Restaurants, Cafés und Konzertsäle! Ich kann wieder den Zug nehmen, ohne Testaufpreis und Warteschlangen, kann wieder reisen und sogar ein Flugzeug besteigen. Selbst eine Kreuzfahrt könnte ich machen, wenn ich das wollte. Das habe ich mir redlich verdient. Mit meinem Körper habe ich ihn bezahlt, den Pass in die Freiheit. Ich war positiv!

Nun kann ich nachfühlen, wie die Menschen leben, die von Anfang an nicht draußen bleiben mussten. Ich gehöre wieder dazu! Ich darf sogar meine Angehörigen im Krankenhaus und in den staatlich kontrollierten Einrichtungen besuchen! Jetzt endlich verstehe ich, wie es ist für all diejenigen, die nicht erfahren haben, wie es sich anfühlt, abgewiesen und ausgeschlossen zu werden. Ich habe einen Einblick in das Leben derer bekommen, die keine Diskriminierung erlebt haben, keine Ausgrenzung, keine Demütigung.

Um von meinem Code zu profitieren, muss ich mich allerdings beeilen, vor allem dann, wenn ich nach Deutschland reisen möchte. Drei Monate sind schnell vergangen. Dann geht die Klappe wieder zu, und der Freigang ist beendet. Dann bleiben mir wieder nur die privaten Treffen, die gegenseitigen Besuche, die selbst gemachten gemeinsamen Essen, die Garagenpartys, die Hauskonzerte, die Salonlesungen. Hier wird kein Pass verlangt. Man muss nichts vorzeigen. Niemand scannt eine Nummer ein. Keiner macht einen Abstrich. Alle dürfen rein — sogar Menschen mit Pass.

Freud und Leid

Hand aufs Herz — ich habe vor allem erkannt, wie schwer ihr es habt, ihr, die ihr euch von Anfang an den Maßnahmen gebeugt habt. Aber ganz ehrlich: Diese Art von Freiheit will ich nicht. Ich bedaure euch, die ihr nicht wisst, wie es ist, das Virus nicht mehr zu fürchten als eine Grippe. Ihr kennt nicht mehr das warme Gefühl, das uns durchflutet, wenn wir einander umarmen, bei den Händen halten und uns unmaskiert begegnen, wenn wir zusammen plaudern, lachen, weinen, singen, tanzen, in freundschaftlicher Runde zusammensitzen, aus demselben Topf essen. Ihr habt sie nicht erlebt, die Diskussionen, in denen mehr als eine Meinung gelten darf, und die herzliche Verbundenheit derer, die einander vertrauen und sich so zeigen, wie sie sich gerade fühlen.

Ihr wisst auch nicht, wie es sich anfühlt, beleidigt und beschimpft zu werden dafür, die Verantwortung für den eigenen Körper und die eigene Gesundheit behalten zu wollen. Ihr wisst nicht, wie es ist, sich nicht bevormunden zu lassen und sich eine eigene Meinung zu bilden.

Unsere Freuden kennt ihr nicht und auch nicht unser Leid. Könnt ihr euch vorstellen, wie es ist, wenn die Nachbarn plötzlich nicht mehr grüßen und die Kollegen sich abwenden? Wenn die Tür vor euch geschlossen wird? Wenn die eigene Familie euch zurückweist?

Könnt ihr euch den Schmerz vorstellen, den so viele empfinden mussten, als die Arbeit weg war? Kennt ihr die Ängste, die damit einhergehen, wenn jemandem die Existenzgrundlage entzogen wird, nur weil er selber über seinen Körper bestimmen will? Kennt ihr die Demütigung, wenn intimste Entscheidungen an den öffentlichen Pranger gestellt werden? Kennt ihr das? Habt ihr euch Gedanken darüber gemacht, wie es für diejenigen ist, die die Spritze nicht wollen? Könnt ihr euch vorstellen, welche Reaktionen die Aussicht auf einen Impfzwang in denen auslöst, die die Gefahren von Anfang an erkannt haben?

Der Schmerz der Schwurbler

Während ihr eure neue Normalität lebt, leide ich. Ich leide unter Beschränkungen, die ich als irrsinnig und gefährlich empfinde und die nur befolgt werden, weil sie beschlossen wurden. Ich leide unter dem Ausgeschlossensein, der Zurückweisung, dem Nichtdazugehören. Ich leide, wenn ihr mir nicht zuhört und kein Wort dafür übrighabt, dass ich meine Arbeit verloren habe und nicht mehr mit euch ausgehen kann. Es scheint euch gar nicht zu kümmern.

Ich leide unter der üblen Nachrede, der Zensur, der Hetze, der Gewalt. Ich leide darunter, weil ich ein Mensch bin. Menschen brauchen das Gefühl, von der Gemeinschaft angenommen zu sein und respektiert zu werden. Wir sind soziale Wesen und können nicht ohne einander leben. Für mich ist es unerträglich, dass ihr seit zwei Jahren beschämt zur Seite schaut. Ihr wollt nicht einmal wissen, welches die Gründe für meine Besorgnis sind.

Möglichst schnell wolltet ihr zu eurer Normalität zurückzukommen. Ihr habt eure Aufgaben zu erfüllen. Ihr kümmert euch um andere Menschen. Engagiert euch für einen guten Zweck. Versucht, euch nützlich zu machen. Wollt Gutes tun. Stellt euch vor: Das will ich auch! Auch mir liegt das Wohl der anderen am Herzen. Auch ich will der Gemeinschaft dienen, in der ich lebe. Auch mir ist daran gelegen, dass es uns allen zusammen gut geht.

Wir haben dasselbe Ziel. Doch wir haben verschiedene Wege genommen. Wie kannst du wissen, welcher der richtige ist und welcher der falsche, fragst du. Machen wir ein Gedankenspiel. Versetzen wir uns in die Lage des anderen. Versuchen wir, uns einen Augenblick in ihn hineinzufühlen. Wie würde ich es empfinden, wenn ich keinen Pass hätte, den falschen Code, nicht die richtige Identität? Was würde ich in dieser Situation tun? Dann fragen wir nicht mehr, was richtig ist. Dann wissen wir es.

Abgeschaltet

Als eine alte Widerstandskämpferin gefragt wurde, woran sie gemerkt hat, dass etwas nicht stimmte, antwortete sie: „Man merkte es nur, wenn man dagegen war.“ Um zu spüren, dass etwas nicht in Ordnung ist, müssen wir es wagen, uns betroffen zu fühlen.

Wer weiter seinem Alltag nachgeht und von seinen Privilegien profitiert, der ist blind für das Leid der anderen. Er kann es nicht sehen. Wie ein Schleier versperrt ihm seine Normalität die Sicht. So konnte es kommen, dass die Menschen, die in der Nähe der Konzentrationslager lebten, die Asche ignorierten, die auf ihre Felder fiel.

Die Sekretärin konnte Todesurteile tippen, ohne einen Zusammenhang zwischen ihrer Tat und dem Schicksal anderer Menschen zu erkennen. Sie hatte sich abgeschnitten von der Realität der anderen. Damit hatte sie nichts zu tun. Und hinterher, als alles rauskam, konnte sie von alldem nichts gewusst haben.

Das meinte sie ernst. Unser Gehirn blockiert die Informationen, die nicht zu unserem Weltbild passen. Was wir uns nicht vorstellen können, das gibt es für uns nicht. Manipulationsprozesse wirken nicht nur aufgrund unserer Neigung, uns hinter Autoritäten und ihren Befehlen zu verstecken, sondern auch dank einer biologischen Veranlagung: der selektiven Wahrnehmung. Um uns zu schützen und das Unbequeme, Unfassbare, Ungeheuerliche nicht an uns herankommen zu lassen, schalten wir einfach ab. Es sieht dann tatsächlich so aus, als würden diese Dinge nicht geschehen.

Kein Entkommen

Früher oder später jedoch kommen sie ans Licht. Das passiert gerade. Alles kommt hoch. Der ganze Müll aus unserer Vergangenheit, alle Lügen, alle Irrtümer, alle Verbrechen ergießen sich wie Gülle über den Erdboden. Es stinkt zum Himmel. Niemand kann es mehr ignorieren. Mögen manche noch Parfüm versprühen und sich Augen und Ohren zuhalten — das Übel wird enthüllt; was dann passiert, gleicht tatsächlich einer Apokalypse.

Welche Wirkung wird es auslösen, wenn der Vorhang fällt und die gesamte Bühne sichtbar wird? Wie werden die reagieren, die andere Menschen wegen ihrer individuellen Impfentscheidung verspottet und diskriminiert haben? Was spielt sich in denen ab, die andere zu Verhaltensweisen gezwungen zu haben, die schädlich für sie waren, sogar tödlich? Wie werden sich die im Spiegel in die Augen blicken, die gespritzt haben, Kinder und Jugendliche gequält, alte Menschen alleine sterben gelassen? Was passiert mit denen, die nun mit dem konfrontiert sind, was sie weggeschaltet haben?

Wem das eigene Versagen mit einem Schlag bewusst wird, der riskiert, unter dem Druck zu zerbrechen. Wer jetzt weiter an seinen Illusionen festhält, den werden sie nach unten ziehen. Es wird die Hölle sein — eine Hölle, in der wir ganz alleine sind mit dem Feuer unseres Gewissens und der Schuld, die wir auf uns geladen haben.

Ob wissentlich oder unwissentlich — Wissen ist eine Holschuld. Es wird kein Entkommen geben. Denn dieses Mal kann sich niemand verstecken. Jeder Einzelne von uns wird mit der Frage konfrontiert sein: Und du, was hast du getan?

Ent-Schuldigung

Doch wir müssen nicht untergehen. Wir haben wie immer die Wahl. Wir können in die Reue kommen. Das ist heute unmodern. Doch es gibt noch das tiefe Bedauern über eine als übel, unrecht und falsch erkannte Handlungsweise. Nicht die selbstmitleidige Beweihräucherung mit den eigenen Schwächen, nicht die gnadenlose Anklage der eigenen Schuld, die den Täter zum Opfer zu machen versucht, sondern ehrliche, aufrichtige Reue: Ich habe mich in die Irre führen lassen. Ich habe das Problem nicht erkannt. Ich werde mich darum kümmern, dass das nicht noch einmal passiert.

Wenn wir die niederschmetternde Selbstanklage überwinden und in echte Reue finden, dann muss sich die Geschichte nicht wiederholen. Wir erheben uns aus dem Sumpf des Geschehenen und lassen ihn hinter uns. Diese Chance haben wir jetzt. Alle stehen sie da, die Opfer der vergangenen Zeiten, die keine Ruhe finden können, solange wir nicht die Verantwortung für unser Handeln übernehmen. So lange werden sie uns in unseren Tag- und Nachtträumen verfolgen, bis wir den Ballast loslassen, der uns alle nach unten zieht.

Ja, ich habe das getan. Ich übernehme die volle Verantwortung für mein Handeln. Es tut mir leid. Ich bitte dich um Entschuldigung. Bitte sage mir, was du jetzt brauchst. Wie kann ich dir helfen? Was geschehen ist, ist geschehen. Vergangenes Leid kann nicht wieder gutgemacht werden. Doch gegenwärtiges und zukünftiges Leid können gemildert und verhindert werden, wenn wir bereit sind, um Verzeihung zu bitten.

Für das Ganze

Damit können wir wieder aufeinander zugehen. Wie gut es tut, sich nach so langer Zeit wieder zu umarmen! Wie erleichternd es sich anfühlt, wie beglückend! Gehen wir zusammen weiter und machen die Solidarität wieder zu dem, was sie eigentlich ist: ein unbedingtes Zusammenhalten nicht nur unter denen, die die gleiche Meinung teilen, sondern mit allen Menschen.

Ursprünglich kommt der Begriff von dem französischen Wort solidaire – solide: für das Ganze. Wirkliche Solidarität betrifft uns alle. Wird nur ein Teil des Ganzen herausgegriffen — seien es die Alten und Kranken oder Menschen einer bestimmten Hautfarbe oder sexuellen Orientierung — verkehrt sich die Solidarität in ihr Gegenteil und kann zur Waffe werden. Wird sie selektiv benutzt, führt sie zu Uneinigkeit und Zwietracht: wir gegen die.

Diese Kriegslist wird jetzt offensichtlich. Durch das Erkennen wird es möglich, das Verdrehte aufzulösen und den Dingen wieder ihren ursprünglichen Wert zurückzugeben. Die Größe dieser Aufgabe ist so gigantisch, dass wir es nur zusammen schaffen können. Teilen wir. Nicht, indem wir weiter trennen und auseinanderdividieren, sondern gemeinsame Sache machen, als unaustauschbare Teile eines großartigen Gesamten, in dem jeder seinen Platz und seine Aufgabe hat.


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