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Grausames aus alten Wunden

Grausames aus alten Wunden

Trauma und Krieg bilden einen scheinbar unentrinnbaren Teufelskreis, aus dem heraus jedoch eine Befreiung möglich ist.

Mein Name ist Morgaine — vielleicht kennt mich der eine oder die andere schon als Musikerin oder Aktivistin aus der Friedensbewegung.

Das Thema Krieg und Frieden — außen wie innen — begleitet mich schon sehr lange. Besonders der Zusammenhang zwischen kollektiver Gewalt und persönlichen Traumata ist für mich zentral.

Meine eigene Familiengeschichte ist voll davon: Transgenerationales Trauma in fast allen Facetten. Ich bin die Erste, die diesen Kreislauf von Täter und Opfer durchbrechen konnte — und damit der Heilung eine Tür geöffnet hat.

In dieser Erzählung will ich Sie, liebe Leserinnen und Leser, mitnehmen. Ich möchte zeigen, wie Trauma entsteht, was es mit uns macht, wie tief Kriege ins Persönliche reichen — und warum unsere Gesellschaft, so wie sie gerade ist, den Boden dafür bereitet, dass Gewalt und Krieg überhaupt möglich sind. Denn: Damit das immer wieder passieren kann, braucht es eine zutiefst kranke, traumatisierte Gesellschaft. Eine, die wie gelähmt ist und nicht mehr in ihre eigene Schöpferkraft findet.

Seit frühester Kindheit trug ich eine tiefe Sehnsucht nach Frieden und Harmonie in mir. Doch meine Realität sah anders aus.

Als Scheidungskind erlebte ich über viele Jahre hinweg sexualisierte Gewalt, Misshandlungen und Vergewaltigungen — beginnend im Alter von etwa zwei oder drei Jahren bis zu meinem siebzehnten Lebensjahr. Täter waren mein Großvater, der Erzeuger meiner Mutter, sowie weitere Personen.

Es war kein Krieg mit Bomben – aber ein Krieg im Verborgenen. Einer, der sich ins Unsichtbare zog, in die Haut, ins Nervensystem, in die Seele.

Wenn ein Kind in so jungen Jahren Grausames erlebt, reagiert das Gehirn mit einem Schutzmechanismus: Es spaltet die Erlebnisse ab — ein Vorgang, den man Dissoziation nennt. Je häufiger solche Traumata geschehen, desto mehr zerfällt das „Ich“ in viele kleine Fragmente. Diese Abspaltung hilft beim Überleben, doch sie hat langfristige Folgen.

Viele Überlebende erinnern sich lange Zeit nicht oder nur bruchstückhaft an das Geschehene. Der Körper aber erinnert sich oft früher: durch psychosomatische Symptome, wiederkehrende Ängste oder chronische Krankheiten.

Auch das Unterbewusstsein spricht — in Form von Verhaltensmustern, Bindungsschwierigkeiten oder psychischen Erkrankungen wie Depressionen und posttraumatischer Belastungsstörung. Fakt ist: Trauma prägt unser ganzes Wesen — körperlich, emotional, seelisch.

In meinem Heilungsprozess kam irgendwann der Moment, an dem ich mich dem Haupttäter stellen musste — meinem Großvater.

Lange empfand ich nur Hass. Für mich war er ein Monster: Cholerisch, machthungrig, hochrangiger Polizeichef mit einem makellosen äußeren Ruf. Doch hinter dieser Fassade: Ein Mann, der seine Frau, seine Tochter und auch mich missbrauchte und misshandelte.

Seine Motivation war in meinen Augen weniger pädophil als zutiefst machtbesessen. Heute sehe ich mehr: Ich sehe auch das Opfer in ihm. Nicht als Entschuldigung, nicht als Verharmlosung — aber als Teil eines größeren Zusammenhangs.

Die meisten Täter waren zuvor selbst Opfer. Das entschuldigt gar nichts, aber es erklärt etwas.

Ich bin überzeugt: Niemand wird als Täter geboren. In den allermeisten Fällen steht am Anfang ein tiefes eigenes Trauma. Und wenn dieses nicht erkannt oder gefühlt wird — dann kann daraus Gewalt entstehen.

Man hat immer eine Wahl. Aber eine aufgespaltene Psyche hat es schwer, sich dieser Wahl überhaupt bewusst zu sein. Der Kreislauf geht so lange weiter, bis ihn jemand stoppt. Ich habe ihn gestoppt.

Mein Großvater war nicht der Anfang. Sein Vater — mein Urgroßvater — war SS-Obersturmbannführer, stationiert in Auschwitz. Ein Mann, der vermutlich an der Ermordung und Folter unzähliger Menschen beteiligt war.

Zu Hause war er brutal. Seine Kinder erzog er nach dem Prinzip: Nur die Stärksten überleben. Babys wurden im Winter ans offene Fenster gelegt. Es gab keine Nähe, keine Liebe, kein Mitgefühl. Nur Härte und Gewalt — und dazu die tägliche Nazi-Ideologie, die alles vergiftete.

Auch meine Urgroßmutter war vermutlich traumatisiert — selbst Opfer von der Gewalt des Ehemanns, aber zu schwach (oder zu gebrochen), um ihre Kinder vor ihm zu schützen.

Ich glaube, das alles hat im Kopf meines Großvaters etwas geformt: ein Frauenbild voller Verachtung. Frau = schwach. Frau = unterlegen. Frau = Objekt.

In vielen Fällen geht es bei sexualisierter Gewalt nicht um Sexualität — sondern um Macht. Täter wollen Kontrolle, wollen Überlegenheit spüren.

Und viele von ihnen wurden selbst genau da verletzt, wo sie dann später angreifen: Sie holen sich ihre „Macht“ zurück — auf grausame Weise.

Ich weiß nicht, was mein Urgroßvater als Kind erlebt hat. Aber ich sehe, wie sich Gewalt weitervererbt, wenn sie nicht gefühlt und geheilt wird. Vieles bleibt im Dunkeln. Aber für mich ist klar: Unverarbeitetes Trauma, ideologische Verblendung, Machtmissbrauch und Gewalt bedingen sich gegenseitig.

Wenn Menschen nie lernen, Mitgefühl zu empfinden — für sich und für andere —, dann entsteht ein Kreislauf aus Ohnmacht, Machtmissbrauch, Gewalt, Hass. Und das ist nicht nur ein privates Thema. Das ist ein gesellschaftliches Problem.

Denn solange unsere Welt in „Mächtige“ und „Machtlose“ eingeteilt ist, in Herrschende und Beherrschte, in wertvoll und wertlos — so lange wird es auch Krieg geben. So lange wird Gewalt nicht enden. Denn sie ist in der Struktur drin. Eine gesunde, friedliche Welt entsteht nicht auf dem Boden von Unterwerfung, Entmenschlichung und Angst.

Trauma pflanzt sich fort — von Generation zu Generation. So lange, bis jemand hinschaut. Bis jemand bereit ist, den Schmerz zu fühlen und den Kreislauf zu durchbrechen.

Ich habe diesen Schritt gemacht. Nicht, weil ich besonders stark bin — sondern weil ich nicht mehr anders konnte. Ich will meine Geschichte heilen. Für mich. Für meine Ahnen. Für die, die nach mir kommen.

Seit über elf Jahren engagiere ich mich in der Friedensbewegung, weil ich mir der Verantwortung bewusst bin, die ich aufgrund meiner Familiengeschichte habe.

Für eine Gesellschaft und eine Welt mit mehr Achtsamkeit, für Gerechtigkeit und für ein Bewusstsein, das tiefer geht. Ich möchte, dass wir offen und ehrlich über Trauma sprechen und dass wir heilen — nicht verdrängen. Und ich wünsche uns allen eine Welt, in der es um Liebe, um Mitgefühl und um Menschlichkeit geht.

Eine traumatisierte Gesellschaft bringt neues Trauma hervor. Und Trauma formt eine Gesellschaft, in der Gewalt immer wieder passieren kann. Doch: Es geht auch anders. Heilung ist möglich. Sie ist kein einfacher Weg, aber sie ist real.

Und sie beginnt mit dem Mut, hinzuschauen. Mit der Entscheidung, nicht in der Ohnmacht zu bleiben. Mit einem offenen Herzen.

Lassen Sie es uns anders machen, als unsere Vorfahren die es nicht geschafft haben, den Trauma-Kreislauf zu verlassen. Wir sind eine Menschheitsfamilie und global schon so sehr miteinander vernetzt — lassen Sie uns jetzt auch unsere Herzen miteinander verbinden und in Frieden zusammenleben.


MORGAINE x PATA59 — WURZELN (Official Video)

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