Stellen wir uns vor: Wir wachen eines Morgens auf und haben keine Angst mehr. Keine Angst mehr vor Verlust, keine Angst vor Mangel, keine Angst davor, dass jemand uns angreift oder uns etwas wegnimmt. Stellen wir uns vor, wie es ist, sich nicht mehr verteidigen zu müssen, nicht mehr verstellen, nicht mehr verbiegen, um überleben zu können. Keine Angst mehr, nicht richtig zu sein, nicht schnell genug, nicht stark genug, nicht effizient genug. Wie fühlt es sich an, ganz echt zu sein, wahrhaftig, authentisch, so, wie wir einmal geboren worden sind?
Stellen wir uns vor, wie es ist, wenn das Leben kein Konkurrenzkampf mehr ist, kein gefährlicher Dschungel, in dem jeder jeden jagt und nur der Stärkere gewinnt, sondern ein fein verzweigtes Netz aus Kooperation und gegenseitiger Unterstützung. Stellen wir uns eine Welt vor, in der es keine Schädlinge gibt, kein Ungeziefer, kein Unkraut, nur Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will (1). Eine Welt, in der die Dinge an ihrem Platz sind, am rechten Ort, dort, wo man sie nicht verjagen oder ausrotten muss. Eine Welt, wie sie ursprünglich einmal gedacht war und wieder sein kann, wenn wir sie nur lassen.
Stellen wir uns eine Welt ohne Massentierhaltung vor, ohne Schlachthäuser, ohne Tierversuche. Stellen wir uns vor, wie es ist, gejagt, dressiert, gequält und geschlachtet zu werden — und lassen wir es sein (2). Stellen wir uns vor, dass etwas anderes möglich ist als ein ausbeuterisches und lebensfeindliches System. Tun wir es wirklich! Denn hiervon hängt es ab, ob eine lebensfreundliche Welt Wirklichkeit werden kann.
Ein Kurs in Wundern
Im Zentrum für Friedensforschung und -ausbildung „Tamera“ in Portugal können Menschen erfahren, was es bedeutet, mit den Wesen der Natur zusammenzuleben und mit ihnen zu kommunizieren und zu kooperieren (3). Es geht um mehr als um eine bloße Kenntnis der Natur. Es geht darum, im Wesen mit ihr in Verbindung zu treten und die zutiefst heilsame Erfahrung zu machen, dass wir ein Teil von ihr sind. Dieses Erfahren betrifft nicht nur Nutztiere wie Hunde, Pferde und Hühner, sondern alle Tiere; auch die, die uns stören und deren Existenz wir gerne den Sinn absprechen.
Ratten, Mücken, Wildschweine — mit ihnen leben wir ungern zusammen. Lebewesen, die den wirtschaftlichen Erfolg des Menschen schmälern, werden gemeinhin als Schädlinge bezeichnet (4). Sie sind zu nichts nutze. Man kann sie nicht ausbeuten. Sie müssen weg.
Dass sie, wie alles Lebendige, zu einem Gefüge gehören, dessen Gleichgewicht durch ihr Fehlen empfindlich gestört wird, bedenken wir meistens nicht. Wo der Mensch einmal begonnen hat einzugreifen, zieht er seine Finger nicht so schnell wieder aus dem Spiel.
Der Onlinekurs „Kontakt zwischen Mensch, Tier und Natur“ (5) sensibilisiert dafür, erneut eine beobachtende, nicht eingreifende Haltung einzunehmen. Was ist da? Wem begegnen wir, wenn wir uns in einen Garten setzen, einen Park, einen Wald, eine Wiese? Die kleinsten Tiere fürchten uns nicht und sind relativ leicht zu beobachten. Was krabbelt, huscht, hüpft, zirpt, brummt, singt und fliegt da? Wie fühlt und hört es sich an? Wer stört hier eventuell wen?
Berührungsängste
Mit den größeren Tieren wird es schwieriger. Mäuse, Ratten, Spinnen, Schlangen — sie gehören zu den ungeliebten Mitbewohnern und rufen in vielen von uns Ekel und Abscheu hervor. Während wir Insekten oft einfach nur lästig finden, fürchten wir heute gerade die Tiere, die in vergangenen Zeiten als Krafttiere verehrt wurden (6). Zu den Tieren, die in der freien Wildbahn leben, haben wir den Kontakt verloren. Schnecken und Würmer stoßen uns ab, Wildschweine und Füchse, so wir sie überhaupt zu Gesicht bekommen, machen uns Angst, und Frösche sind nicht zum Küssen da, sondern bestenfalls zum Essen.
Tauben gelten vielen als die Ratten der Lüfte. Die meisten anderen Vögel kennen wir nicht, ebenso wenig wie die Fische, abgesehen von denen, die auf unserem Teller landen oder die als Filmmonster herhalten müssen. Ebenso wenig sehen wir das Rind, das Schwein und das Huhn, die unter abscheulichsten Bedingungen für uns ihr Leben lassen. Allein das vorbeihuschende Eichhörnchen kann uns in Entzücken versetzen, oder das Reh in der Abenddämmerung.
Die meisten von uns haben keinen Kontakt mehr zu Tieren, außer zu Hund und Katze, die uns das Leben schöner machen sollen. Alle anderen Tiere sind uns fremd. Hier setzt der Kurs an. Er lädt dazu ein, genauer hinzuschauen. Wie nehmen wir die Tierwelt um uns herum wahr? Wo gibt es Berührungsängste? Wie und wo sind die Feind- und Angstbilder entstanden, die wir mit gewissen Tieren assoziieren? Wie könnte ein Umfeld aussehen, das auch Raum für die Tiere bietet, die wir zunächst ablehnen?
In Interviews, Gesprächen, Meditationen und gemeinsamen Übungen wird dafür sensibilisiert, dass Tiere wie Menschen beseelte Wesen sind, die im Kern aus der gleichen Quelle kommen. Wir können mit ihnen kommunizieren, sie fragen, wer sie sind, was sie wollen und warum sie sich an einem bestimmten Ort aufhalten. Über das Hineinfühlen in andere sensible Wesen können wir die Verbindung erfahren. Mein Leben wird besser, wenn deines besser wird. Das ist der Beginn des Aufbaus einer Friedenskultur.
Wunden heilen
Wenn wir uns hierfür öffnen, werden die Antworten kommen. Machen wir uns auf alles gefasst — vor allem darauf, zu erkennen, was wir den Tieren angetan haben.
Doch Friedensarbeit bleibt nicht in Reue und Schuldgefühlen stecken. Sie legt die Liebe zu anderen Lebewesen frei, das Gefühl einer tiefen und unauslöschlichen Verbundenheit. Allein die Liebe hat die Macht, Angst, Ekel und Gier zu überwinden und in ein gegenseitiges Vertrauen zu finden.
Wir spüren: Wir alle sind Teile eines einzigen großen Organismus. Die größte Wunde, die wir uns zugefügt haben, ist die, dieses ursprüngliche Gemeinschaftswissen zerstört zu haben. Diese Wunde darf jetzt beginnen zu heilen. Über den Kontakt mit den Tieren mit ihrem durch und durch authentischen Wesen erkennen wir unsere eigene Authentizität und Wahrhaftigkeit. So führen die Tiere uns zu uns selbst. Wir können damit aufhören, das zu tun, was der Ausgangspunkt jedes Konfliktes, jedes Krieges ist: uns ständig miteinander zu vergleichen.
Ein Vogel vergleicht sich nicht mit einem Hund. Er fragt nicht, wer besser singt. Der Igel käme nicht auf die Idee, so schnell rennen zu wollen wie der Hase, und der Fisch würde nicht versuchen, sich eine Löwenmähne wachsen zu lassen. Nur wir kommen auf den Gedanken, so sein zu wollen wie andere, oder das zu bekommen, von dem wir meinen, es stünde uns zu. Wenn uns das nicht gelingt, dann packt uns die Eifersucht, die zu Beginn unserer Kultur zu einem Brudermord führte.
Die Ketten ablegen
Wenn wir uns auf die Tiere einlassen, können wir uns nicht nur aus dem Mangeldenken lösen, das uns immer wieder zu Lüge, Betrug, Ausbeutung und Gewalt verführt. Wir entdecken unsere eigene Wildnatur. Wir versuchen nicht mehr, unser Sehnen und Wünschen zu unterdrücken und lassen unsere Liebe nicht mehr hinter Zwang und gesellschaftlichen Konventionen verkümmern. Wir lösen uns vom Ideal einer scheinheiligen Treue, die uns immer wieder in Zerrissenheit und schlechtes Gewissen führt und unsere Sexualität und unser Denken blockiert.
Nur wer sich selbst unterdrückt, der scheut auch nicht davor zurück, anderen Wesen Leid anzutun. Unterdrückte Lebensenergie sucht immer ein Ventil. Daran, auf wie bestialische Weise wir in unserer Kultur die Tiere behandeln, können wir auch das eigene Leid erkennen.
Wenn es uns gelingt, ein Bewusstsein für die eigenen Energien aufbauen, dann müssen wir unsere Mitgeschöpfe nicht mehr quälen und töten. Wir müssen nicht mehr andere Wesen einsperren und in Ketten legen, wenn wir uns selbst befreien.
Wir müssen nicht mehr kompensieren, sondern können leben. Nicht mehr Konkurrenz, sondern Ergänzung, nicht mehr Dominanz, sondern Kooperation, nicht mehr blinde Nachfolge, sondern Selbsterkenntnis, nicht mehr Krieg, sondern Frieden, nicht mehr Angst, sondern Liebe.
Diese Liebe beschränkt sich nicht mehr auf nur einen Partner, auf eine Familie, auf eine geschlossene Gesellschaft. Sie schließt alle Lebewesen mit ein. Die Tiere lehren uns, die kleinliche, exklusive, besitzergreifende Liebe, die immer wieder in einem „Wir gegen die“ mündet, durch eine großzügige und allumfassende Liebe zu ersetzen. Wirkliche Liebe. Kosmische Liebe.
Schlüssel zum Glück
Heilung beginnt, wenn wir nicht mehr wegschauen und uns bewusst machen, in was für einer Situation wir leben. Im Verständnis der Verbundenheit sind wir nicht mehr nachhaltig, weil man es uns sagt, oder vegan, weil es gerade „in“ ist, sondern ändern grundsätzlich unsere Haltung. Wir kaufen keine Produkte mehr, für deren Herstellung Tiere leiden mussten. Niemand muss uns dazu zwingen. Wir tun es aus uns heraus.
Immer mehr lösen wir uns aus den alten Konditionierungen, die uns in der Angst gefangen hielten, und beginnen, Heilungsbiotope aufzubauen, autonome, dezentrale, mit dem Leben verbundene Orte, von denen aus Frieden in die Welt strahlt. Zögern wir nicht, klein anzufangen. Schaffen wir in unseren eigenen vier Wänden eine Wirklichkeit, in der die Verbindung die Spaltung ablöst.
Pflegen wir den Kontakt: zu den Tieren, zu den Lebewesen, die uns begleiten, und zu uns selbst. Es wird uns nichts kosten: keine Anstrengung, keine Zeit und kein Geld. Davon profitieren nicht nur die anderen. Wer sich dem Verbindenden widmet, der bekommt, ganz umsonst, den Schlüssel für das eigene Glück in die Hand gelegt.
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Quellen und Anmerkungen:
(1) https://albert-schweitzer.ch/index.php/ehrfurcht1/1-100-jahre-ehrfurcht-vor-dem-leben
(2) https://www.youtube.com/watch?v=iSfr85v4ZV0
(3) https://www.tamera.org/
(4) https://de.wikipedia.org/wiki/Sch%C3%A4dling
(5) https://terra-nova.earth/kontakt-mensch-tier-natur/
(6) https://www.manova.news/artikel/verlorene-macht