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Im Fadenkreuz der Kategorisierung

Im Fadenkreuz der Kategorisierung

Die siebzehnjährige Autorin Lara Peters findet für ihre Zukunftsängste präzise Worte und schreibt eine gelungene Groteske.

The Box
von Lara Peters (17)

Die Bettlaken kleben nasskalt an seinen Poren, verschließen den Zugang zur Außenwelt. Das „Draußen“: Mensch, Beton, verblasste Farben, gehüllt in eine lärmenden Kulisse. Wo fängt die eigentlich an, diese Außenwelt? Seligman starrt seine frisch erworbene Star-Wars-Todesstern-Lampe an. Ein Produkt dieses schwedischen Konsumgiganten. Er ist doch gar kein Fan, eigentlich. Vor Urzeiten so kann er sich entsinnen, hat er den dritten Teil angeschaut. Nachts um zwei Uhr auf Tele 5. Damals, als Fernsehen noch eine adäquate Option war. Um loszulassen, einen Funken der Leichtigkeit aufflimmern zu lassen.

Warum zum Teufel hast du dir dieses Ding zugelegt, Seligman? Warum hast du das getan?

Ein weiterer überflüssiger Einrichtungsgegenstand. Deine Wohnräume mutieren zu einem Heim für abgegriffene Trends. Alles muss ständig erneuert werden. Immer am Wandel partizipieren. Er läuft diesen Marathon schon eine geraume Zeit, genaugenommen seit dem Tag seiner Geburt.

Er, Seligman, liegt in seinem gerade zwei Tage alten koreanischen Designer-Zen-Bett von dieser Öko-Tante mit ihrem Laden für asiatische Exportgüter. Eine Frau, nun ja, Traumtänzerin und Selbstverwirklichungskünstlerin gleichermaßen. Vor einem Jahr, eventuell auch vor 4 Jahren, oder waren es doch bloß 5 Monate, da eröffnete sie ihr Geschäft in den Hackeschen Höfen. Die muss eine ungeheure Summe umsetzen, die Mieten sind astronomisch. Seligman kam auf seinem Heimweg vorbei, kaufte spontan das Bett für völlig überzogene 4250 Euro brutto und während er die Kreditkarte in den Schlund des Kassengeräts steckte, erzählte die Öko-Tante ihm von ihrem Trip in den Iran. Danach ging es noch auf eine kleine Himalaya-Tour und erst vor drei Wochen kehrte sie offenbar aus der Arktis zurück, ein Angebot, welches ihr von einem Mitstreiter der Himalaya-Survival-Expedition gemacht wurde. Eine 5-Minuten-Bekanntschaft. „Life on the edge“, das sei ihr Credo. Seligman war wie gefesselt, ein Stück weit gelähmt. Faszination für den Freigeist dieser Frau packte ihn. Aber, unmöglich, unvorstellbar, nicht greifbar war für ihn diese abstrakte Lebensart. Auch er wollte einst rebellisch handeln, ein Bohemien sein. Die Sehnsucht aber wurde verdrängt. Es gibt da keinen konkreten Anhaltspunkt mehr.

Warum kann ich das nicht? Was hält mich? Seligmans Plauze lastet schwer auf seinen Organen, der Sauerstoff wird knapp. Seine Sehnen sind verknautscht, hat er doch noch keine Motivation finden können, die klitschnassen Laken von seinem Körper zu ziehen wie eine zweite unangenehme Haut, um sich strecken zu können. Den Körper mit dem Leben, dem Lebendigen zu verknüpfen. Eine dickflüssige, sich verfestigende Materie scheint die Kanten seines Bettes zu erobern. Strömt herauf zu ihm. Seligmans Atmung gerät in Not. Schwarz ist sie, ersticken will sie ihn, verschlingen, diese Masse.

Seligman erwartet Eintönigkeit in der Agentur. Er bedeutet denen doch nichts, sein Wert ist proportional zu seiner Effizienz. Wenn du raus bist, bist du raus. Da geht es ums nackte Überleben. Seligman wird verfeuert, jeden Tag. Ausgebrannt. Er ist Material, Part einer verschlissenen Generation. Da muss doch mehr sein? Dahinter, im Inneren. Kein Futter, kein Automatikgetriebe, ich bin Mensch. Ich will leben. Seligman befindet sich im Fadenkreuz der Kategorisierung, täglich wird sein Kurs kalkuliert. Profilieren muss er sich, alles ist in Bewegung, nichts steht still, bleibt. Der freie Fall.

Heute nicht. Heute ertrüge er den Anblick dieses anthrazitfarbenen Schreibtisches nicht. Ausgeschlossen. Seligmans Fasern sträuben sich mit aller Macht. Kraftlos. Ausgesogen.

Jahre der Einsamkeit. Wenn er so durch den Alnatura-Markt unten im Haus zieht, meist gegen 21.00 Uhr, sofern er es überhaupt noch schafft, dann erblickt Seligman all diese gelangweilten Mienen. Ausdruckslos eigentlich. Nicht einmal die Langeweile lässt sich ablesen. Schlaffe Gesichtszüge, von Gestik ganz zu schweigen. Rau und kühl ist die Luft in diesem Markt. Die sind doch alle so wie ich. Die sind ich; das bin ich. Je länger er die Bio-Cracker in Gang 2 betrachtet - sollen es die klassischen Karg‘s oder doch die „Sonnenschein komm heim“-Cracker werden, originelle Sprüche auf dem Etikett, recyclebare Umverpackung, signiert von dem sympathischen independent-Getreidebauer Tobi, Seligman grübelt. Unmerklich steigt die Panik in ihm auf. Seligman spürt die nichtvorhandenen Blicke auf sich. Er ist geisterhaft, transparent. Ebenso substanzlos wie die trüben Augen, die an ihm vorüberziehen und durch ihn hindurchblicken. Als würden sein Fleisch und Blut aufgelöst, seine Physis in der Folge des Verschwindens, des sich Auflösens seines Geistes gleichsam bedeutungslos geworden. Irgendwie nicht existent. Seine Zellen sind im Kern gebrochen, die Information gelöscht. Keine Identität.

Er verlässt zügig wie ein Dieb, ein Geheimnisträger das Geschäft. Das Interesse von außen hält sich in Grenzen. Seligman ist Masse, wie jeder. Er ist sich im Klaren hierüber. Sein Bewusstsein für seine Irrelevanz für diese Welt ist so groß, es wächst mit jedem Tag. Da ist niemand, der dagegen anarbeiten könnte. Keine Umarmung, kein Lächeln, kein Vertrauen. Das braucht eine soziale Bindungsfähigkeit, eine Bereitschaft. Die habe ich doch, die muss da doch irgendwo in mir sein. Alleinsein ist keine Lebenseinstellung, nein. Das Loch will er doch auch stopfen. Ob Döner, Edelporno oder verchromte Wasserhähne („und der Kalk ist Geschichte“, wie es der animierte Werbeträger auf dem Teleshoppingkanal verspricht) - immer scheint das ausgegebene Geld seinen Zweck zu verfehlen. Und es, diese eindimensionalen Spiegelungen seines Körpers in den Scheiben der Schaufensterläden, dieses Leben, diese Leere wird nicht weniger. Auch gestern Abend war das so.

Seligman investiert. Er investiert in Gegenstände, Ernährungsmüll, Vitaminpillen, Designerjogginghosen. Ersatzbefriedigungen. Da ist niemand, das Geld ändert es nicht. Es ist schlichter Selbstbetrug. Ein Mensch, mit dem er schweigen kann, ohne dieses unbehagliche Gefühl. Eine Berührung. Bin ich ein neutraler Mensch? Alles kriegt er alleine hin. Aber das will er nicht. Seligman will das nicht. Er friert, das Zittern lässt ihn flackern wie ein Fernsehbild bei schlechtem Empfang, jeden Moment könnte es endgültig weg sein, der Empfang abbrechen. Dann ist da nichts als das Testbild. Niemand könnte sagen, was für eine Sendung zuvor lief, nichts erinnerte an die Charaktere aus dem Film, die Einrichtung des Studios. Alles vergessen, das Bild weg. Als sei es nie gewesen. Seligman will Spuren hinterlassen. Jemanden, der an seiner Existenz festhält, wenn sie Vergangenheit ist. Das Flackern verstärkt sich. Die Wände vibrieren. Sein Schädel dehnt sich aus, ein schriller Ton setzt ein. Jetzt.

Seligman streckt seinen Arm gen Eschenparkett, wo er den Philipshörer packt. Gänsehaut erscheint flüchtig auf seiner Haut. Der Schweiß trifft auf die äußere Kühle. Seligman tätigt einen Anruf.

„Chausseestraße 10, 10115, ja, nein, ja, bitte beeilen Sie sich.“

Er lässt sich ins Krankenhaus einliefern. Einfach so, aus dem Affekt. Eine Art Wärme zu verspüren, danach verzehrt er sich.

Die Wärme kommt von einer Krankenschwester, die sich nach seinem Wohlbefinden erkundigt und ihm dann ganz sanft einen Einlauf verpasst. Herrlich ist das.

„Arbeiten Sie hier schon lange?“, lautet seine unbeholfene Frage.

„Nächsten Monat sind es 11 Jahre.“, entgegnet sie abwesend, erschöpft.

In dem Versuch sie zumindest noch für 3, 4 Minuten in seinem Universum zu halten, bemüht er sich, seine Fragen mit diesem sympathischen Ausdruck in der Mimik zu stellen. Das hat Seligman gestern bei „Gute Zeiten Schlechte Zeiten“ gesehen. Immer wenn er diese Serie schaut, fühlt er sich geradezu antiquarisch, mumifiziert. Doch wer will ihn schon mumifizieren, konservieren, aufbewahren, behalten, gar festhalten?

„Trinken sie viel Kaffee auf der Station?“ Sein Gesicht hat etwas Bettelndes an sich.

„Gehört dazu.“ Die Stimme ist kühl, aber das Wort wendet sich an Seligman, gibt ihm etwas.

Bleiben darf er nicht. Regelrecht rausgescheucht wird er, nachdem sein wahres Motiv auffliegt. Trotz Privatversicherung, jegliche Zusätze von Zahn bis Prostata selbstverständlich inbegriffen, und der Bereitschaft, für einen Aufenthalt selbstständig aufzukommen, gibt es kein Erbarmen. Um vier Uhr nachmittags zieht Seligman seine porösen Glieder über die rauen Gehwegplatten.

„Lass mal nen Penny rüberwachsen! Ick kann‘s jebrauchen.“

Seligman kramt nach einem zwei Eurostück.

„Großzügig, großzügig.“

„Gerne, gerne.“

Seligman lächelt. Er lässt sich nieder. Der Penner schaut ihn ungläubig an. Das Gespräch beginnt.

„Recyclen Sie regelmäßig?“, fragt der Penner mit halb offenem Mund.

„Macht man ja so.“

„Was fürn Arschloch“

„Verzeihung?“

Als Seligman die Emotionen in seiner eigenen Stimme registriert, erscheint sie ihm fremd.

„Det is men Jehalt, dat Se da so freimütig bei Rewe einlösen.“

„Das ist keine Absicht.“

„Nee, ick meen ja nur, könnt’s jebrauchen.“

Stille. Kurze Blicke. Eine gute halbe Minute lässt Seligman seine Gedanken sich absetzen, wie es der zähe Kaffeesatz morgens in seiner French-Press tut.

„Wünschen Sie sich etwas vom Leben?“

„Hab ick jetz noch nich so drüber nachgedacht“

„Ich auch nicht.“

„Ick bin müde“

Seligman steht auf.

„Auf Wiedersehen.“

„Bis denne, viel Glück, alles Gude und so, ne“

Seligman nickt. Seligman ist nicht müde.

Er geht. Er läuft. Das Tempo nimmt zu. Das hat er lange nicht verspürt. In ihm braut sich etwas zusammen. Ein wundervoller Sturm. Da ist er. Er will den Bahnhof neben sich ganz und gar Pink, Knallpink streichen, die aufgehende Sonne zerschießen. Wer tut ihm das jeden Tag aufs Neue an? Wer ist das? Wer ist da federführend in diesem System? Da muss es jemanden oder etwas geben. Seligman brennt, dieses Feuer soll sich ausbreiten, das System einnehmen. Den Himmel hinabreißen, das begehrt er. WER? Diese Linien und Schranken und Wände. Schema, Schema F, Schema A. WAS? Diese Monotonie; krampfhafte, falsche Suche nach Individualität. Alles künstlich, alles vorgegeben, alles gleich. Um Seligman tobt es. Sein Innen verlagert sich nach außen. Der Mensch kann sich nicht emanzipieren von sich, dem Menschen. Seligman erträgt es nicht.

Seligmans inkorrekte Ledersohlen tragen ihn über die Schwelle des Portals zum Alexianer Sankt Hedwig-Krankenhaus. Zurück. Voran. Durch sämtliche Flure. Dieser scharfe, penetrante Geruch. Er atmet das Desinfektionsspray, dessen Partikel in den Quadern dieses Zufluchtsortes für die Invaliden, die Gebrochenen mit jeder Operation, mit jeder Wunde mehr und mehr Platz einfordern. Ätzend. Es tötet ab. Ein echter Killer, ein Könner. Die chemische Bindung hält dagegen, immer wieder kämpft, bekämpft sie. Es zerstört, was schwächt. Es lässt nichts an sich heran. Seligman will resistent sein, wahrgenommen werden.

Seligman betritt irgendeinen Raum. Er entledigt sich seiner Kleidung. Er nimmt die 1,5 Liter Flasche Sterilium von einem stählernen Tisch und lässt auf seinem behaarten Korpus den tieftürkis Strahl sich ergießen. Er suhlt sich. Absorbieren. Er muss diese Haltung in sich aufnehmen. Sich befreien vom Virus der Gesellschaft. Sich von ihr desinfizieren. Seligman reibt die Flüssigkeit tief in die Textur seiner Haut. Er will größer sein als der Mikroorganismus, zu dem das System ihn macht. Stark. Pure Widerstandshaltung. Lautes Lachen ertönt aus seinem Halse. Gellendes Gelächter. Lächerlich ist das alles. Seligman stürzt von Seite zu Seite. Seine Tränendrüsen befeuchten die aufgequollenen Wangen. Er wiegt sich. Wimmernd liegt er da, in Embryonalstellung.

Ein gleißender Strahl erleuchtet sein Gesicht. Die Dame in Weiß tritt ein, verschwindet erneut mit verstörter Miene. Mehrere Menschen hieven den erschlafften Seligman aus dem Raum. Ihm wird die passive Rolle zugeteilt. Machtlos.

Man wäscht ihn, man kleidet ihn. Seine verschwitzte Kleidung hat den Geruch des Linoleums angenommen. Man drückt ihm eine Visitenkarte in die Hand: „Prof. Dr. Med. Ostendahl – Facharzt für Menschen in besonderen Lebenslagen“.

„Nehmen Sie die Hilfe bitte in Anspruch.“

Seligman erfasst diesen letzten Rat der Krankenschwester, bevor er ruhig nach draußen schreitet. Es zerreißt ihn beinahe. Er spürt die Blicke der Security-Männer. Wen oder was schützen die hier eigentlich? Sicherheit. Kontrolle. Bewachung. Überwachung.

Wird das Leben in mir noch einmal so aufflammen?

Zurück im 3. Stock, in seiner Wohnung. Es ist spät. Seligman zieht die Vorhänge zu, legt sich gerade und ordentlich auf die Matratze, zieht die Leinenbettwäsche exakt bis zu den Achseln. Er dämmert weg.

Die grellen Töne des Weckers seines Nachbarn rieseln durch die Wände des urbanen Verlieses. Sie lassen ihn funktionieren. Sie geben den Rhythmus vor, die Automatik setzt ein. Die gläserne Dusche nimmt ihn in Empfang. Punkt 07:30 Uhr sitzt er in seinem Eames-Chair, bereit zur Koffeinaufnahme. Seligman wird sich gleich auf den Weg in die Agentur machen. Seligman, 34 Jahre, Produktdesigner, Wohnsitz in Berlin-Mitte.


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Lara Peters, geboren 1999, lebt in Hamburg und besucht derzeitig das Gymnasium Eppendorf. Ihre privaten Leidenschaften sind das Theater, die moderne und performative Kunst sowie die Literatur. Diese möchte sie später auch zum Inhalt ihrer beruflichen Laufbahn machen. Die Autorin ist Teil einer performativen Jugendgruppe und schreibt aktiv Texte. Außerdem begeistert sie sich für die Kunst- und Literaturszene der 1920er Jahre. Nach dem Abitur plant sie nach Berlin überzusiedeln und dort ein Studium zu beginnen.


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