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Kampf ums Canceln

Kampf ums Canceln

Akademiker und Spitzenjournalisten wollen nicht sehen, dass es eine Kultur der Vernichtung gibt, und glauben weiter an die offene Gesellschaft.

Drei Bücher, drei Meinungen. Die Cancel Culture ist ein Gespenst, sagt Adrian Daub, ein Deutscher, Jahrgang 1980, der in Stanford lehrt und dort seit 2016 das Programm für Feminismus, Gender und Sexualität leitet. Die Panik, die aus den USA nach Deutschland geschwappt sei und ihre Geschichten einfach mit über den Atlantik gebracht habe, sei kein Gradmesser für die „objektive Verbreitung des Phänomens“ (1). Adrian Daub sagt: Lappalien. Nicht der Rede wert. Anekdoten allenfalls, schlecht belegt oder gut erfunden. So oder so ein Machtmittel der alten Eliten, die einfach nicht begreifen wollen, dass ihre Zeit vorbei ist und dass jetzt endlich auch die mitreden können, die früher keiner hören wollte. Die letzten beiden Sätze dieses Suhrkamp-Buchs haben es in sich: „Der Kampf gegen Cancel Culture mag sich als Speerspitze eines wehrhaften Liberalismus verstehen. In Wahrheit ist er Teil des Backlash, der die liberale Demokratie überhaupt erst bedroht“ (2).

René Pfister, sechs Jahre älter als Adrian Daub und gerade für den Spiegel in Washington, dreht den Spieß um. Auch Pfister schreibt im Namen von denen, die sich „immer“ und schon aus Prinzip für „die Guten“ halten (3), meint aber, „dass nur die Demokratiefeinde davon profitieren, wenn der offene Diskurs mit dem Vokabular der Empörung unterdrückt wird“ (4). Der Untertitel seines Bestsellers „Ein falsches Wort“ richtet sich direkt an Menschen wie Adrian Daub: „Wie eine neue linke Ideologie aus Amerika unsere Meinungsfreiheit bedroht“. René Pfister hat einige der Menschen besucht, die der Kollege für Anekdoten hält. Er hat die Bücher gelesen, die für die neuen Zensoren zu Bibeln geworden sind, und weiß, dass der Sturm der „Entrüstung“ erst abflaut, „wenn das Objekt seinen Job oder seine herausgehobene Sprecherposition verloren hat“.

Den Balken im eigenen Auge sieht er trotzdem nicht. Mit dem Spiegel jedenfalls ist alles okay. In vorderster Front sozusagen, wenn es gegen Donald Trump geht, diese „existenzielle Gefahr für die amerikanische Demokratie“, oder gegen „Figuren“ wie Björn Höcke, der für den Korrespondenten offenkundig ein vergleichbar großes „Unglück“ ist. Cancel Culture hin oder her: Glaubt man René Pfister, dann werden die Leitmedien und vor allem liberale Mahner wie er die „doktrinären Linken“ genauso stoppen wie die „populistischen Rechten“ und verhindern, dass all das auch hierzulande Fuß fasst (5).

Sabine Beppler-Spahl und das Novo-Team sind da schon einen Schritt weiter. Genauer: Sie schreiben nicht nur über den Abgrund, sondern sind schon selbst hinuntergeschubst worden. Ihr Buch über „Cancel Culture und Meinungsfreiheit“ musste gewissermaßen daheim erscheinen, weil der Verlag, der vorher zugesagt hatte, dann doch nicht zufrieden war mit dem, was er da drucken sollte — Texte, die zeigen, dass es keineswegs nur um Worte geht, sondern um die nackte Existenz, und die auch nach der Rolle fragen, die zum Beispiel Plattformbetreiber spielen, die großen Redaktionen, die Verlage oder die Wissenschaft und vor allem der Konkurrenzkampf zwischen den vielen jungen Leuten, die sich um die wenigen sicheren Stellen hier und dort balgen (6).

Drei Bücher, drei Meinungen. Wie kann das sein? Gibt es die Cancel Culture nun, oder ist das genau wie die Debatte um „Political Correctness“ nur ein „Popanz“, wie Martina Thiele meint, Professorin für Medienwissenschaft in Tübingen, ein „Kampfbegriff“, der denen in die Hände spielt, die nicht loslassen können von „Macht und Privilegien“ (7)?

Zunächst: Es ist nicht alles schlecht bei Adrian Daub und schon gar nicht bei René Pfister. Daub, der Stanford-Professor, hat vor Ort erlebt, wie sich die Zahl der Festanstellungen in US-Zeitungsredaktionen seit 2008 halbiert hat. Er weiß, dass der Nachwuchs nicht nur im Journalismus dazu gedrängt wird, sich auf den Digitalplattformen einen Namen zu machen, und dass das am besten funktioniert, wenn man „kontroverse Positionen“ vertritt (8).

Er ist dann trotzdem schnell wieder bei den „Rechten“, die einfach nicht aufhören können, über Cancel Culture zu reden — angeblich, weil sie wissen, dass solche Geschichten nicht nur Klicks bringen, sondern vor allem bezahlte Abos.

Daub beruft sich hier zwar auf nicht genannte Redakteure, die ihm das im Vertrauen gesteckt haben, aber ich habe keinen Zweifel: Verspricht ein Teaser „Aufregerthemen“ wie Gendern, Wokeness oder Trans, dann schicken zum Beispiel bei der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) mehr Leser ihre Kreditkartennummer an den Verlag als sonst (9). Und Opfer wie Wolfgang Thierse oder Uwe Tellkamp? Ach du grüne Neune, sagt Adrian Daub. „Profilschärfend“ statt „existenzbedrohend“. „Verletzlichkeit ist für sie schlicht keine relevante Variabel“ (10).

René Pfister würde bei diesem Satz vermutlich den Kopf schütteln. Pfister kennt seine Pappenheimer. Vor allem kennt er seinen Berufsstand, in dem sich „Aktivismus“ und Digitallogik „gegenseitig verstärken“ und der zudem gerade von einer Generation übernommen wird, „die ideologisch so gefestigt aus den Universitäten“ kommt, dass selbst gestandenen taz-Redakteuren „unheimlich“ werde. 2005, sagt Pfisters Gewährsmann an dieser Stelle. Damals seien „Identität, Repräsentation und Privilegien zu den zentralen Begriffen“ der akademischen Lehre in vielen Geistes- und Sozialwissenschaften geworden. Wie das passieren konnte? Die „Dogmatiker“ hätten dort angefangen, „wo es nicht unbedingt Mehrheiten braucht, um den Ton anzugeben — in Schulen, Universitäten und den Medien“ (11).

Der Spiegel-Mann Pfister sitzt an der Quelle und ist durch Arbeitgeber und Karrierestufe gewissermaßen sakrosankt. Er kann die „Diversitäts-Statements“, die an manchen US-Hochschulen zur Bewerbung gehören, mit „Gesinnungstests“ vergleichen und die „Feigheit“ von „Personalabteilungen“ genauso geißeln wie Kollegen, die sich „von einer politischen Lobbyorganisation den Griffel führen lassen“ oder durch „gendergerechte Sprache“ ihr Publikum verschrecken. Auch die Unternehmen bekommen ihr Fett weg. Pfister spricht von einer „Melange aus öffentlichem Weltrettungspathos und kaltem Geschäftssinn“ und verweist auf den Deal, den zum Beispiel Digitalkonzerne wie „Apple, Facebook oder Google“ direkt oder indirekt mit den Demokraten gemacht haben: Wir geben uns ein „diverses Image“ und ihr lasst uns mit dem Wettbewerbsrecht in Ruhe (12). Eine klassische Win-Win-Situation sozusagen: Die einen sparen Geld, weil Sternchen, Doppelpunkte und Pronomen deutlich günstiger sind als ein ordentlicher Tarifvertrag, und die anderen bekommen kostenlos Werbung für ihre Gesinnung.

Trotzdem. Auch jemand wie René Pfister mag nicht sehen, was im Novo-Buch von Sabine Beppler-Spahl von vielen Seiten beleuchtet und seit 2020 auf einer Webseite auch für den deutschsprachigen Raum breit dokumentiert wird. Wie ist das möglich? Was bringt Professoren wie Adrian Daub oder Martina Thiele dazu, all das zu übersehen oder kleinzureden? Sind Stanford und Tübingen tatsächlich so weit weg von der Realität?

Antwort eins: ja. Wenn ich meinen Studenten jeden Tag erzähle, dass die Welt aus Sprache besteht und dass Sprache Gewalt ist (13), dann verliere ich irgendwann aus dem Blick, wie sich der Widerstand anfühlt, den die Materie zum Beispiel im Garten leistet, und was einen Faustschlag von einer Mikroaggression unterscheidet.

Die Akademiker reproduzieren sich außerdem inzwischen selbst. Das heißt: Studenten haben heute eher selten Zugang zu Milieus, in denen das Geld mit den Händen verdient wird, und gehen nach der Schule eher auf Reisen als in die Armee oder einen Pflegedienst wie einst viele Verweigerer.

Und Studenten haben viele Konkurrenten, gerade in Disziplinen, die auf alles vorbereiten und damit eigentlich auf nichts. Folgen: siehe oben.

Das führt direkt zu Antwort zwei. Der Kampf um Zeitverträge und erst recht der um Dauerstellen an den Universitäten zwingt zu Konformität. Bloß nicht ausscheren, bloß nicht am Pranger landen. Was René Pfister über den Generationswechsel und den Aktivismus in den Redaktionen sagt, gilt so auch in den Studierstuben. Dass Männer mitspielen und entweder wegschauen, wenn zum Beispiel der Feminismus ruft, oder sich sogar selbst an die Spitze der Bewegung stellen, hat Markus Theunert, 2012 kurz Männerbeauftragter im Kanton Zürich, plausibel begründet. Co-Feminismus. Sich selbst vor Attacken schützen und nebenbei Frauen fördern, die für die eigene Position eher ungefährlich sind (14). Dazu kommen Überzeugungstäter, männlich und weiblich. Menschen, die wissen, dass sie junge Leute beeinflussen und damit irgendwann alle, und die das ausnutzen, indem sie das Verhältnis von Forschung und Ergebnis einfach umdrehen. Die „Wahrheit“ steht fest, bevor die Recherche beginnt. Alles für die richtige Sache. Es kann doch niemand wollen, dass die alten Machtverhältnisse bis in die Ewigkeit bestehen bleiben. Dass von „unten“ kaum jemand an die Uni kommt, lässt sich leicht übersehen. Und dass Leistung einfach durch Kriterien ersetzt wird, die man nicht beeinflussen kann, auch. Hilft ja bei der eigenen Karriere.

Antwort drei liegt auf der Hand. Akademiker wie Adrian Daub oder Martina Thiele und selbst ein gestandener Reporter wie René Pfister haben verinnerlicht, dass es „rechts“ etwas gibt, was mächtiger ist als alles andere. Björn Höcke. Donald Trump. „Die größte Bedrohung für unsere Demokratie ist der Rechtsextremismus“, hat Olaf Scholz in seiner ersten Regierungserklärung im Dezember 2021 gesagt. Dass eine „offene Gesellschaft“ „Feinde“ hat, die es zu bekämpfen gilt, ist seit Karl Popper kein Paradox mehr, sondern ein Glaubenssatz, der vor allem dort heruntergebetet wird, wo man etwas zu verlieren hat (15).

„Rechts“ ist dann schnell alles, was die eigenen Pfründen bedroht. Weg damit, was sonst. Sollen die Thierses und Tellkamps dieser Welt doch heulen. Undenkbar, dass man selbst das gefährdet oder verletzt, was man ständig im Mund führt. Demokratie. Gerechtigkeit. Toleranz. Undenkbar auch, dass die Gefahr von den Institutionen ausgeht, die man selbst vertritt. Universitäten. Leitmedien. „Wir sind immer die Guten“ (16). Wir können deshalb Amazon mal eben auffordern, bestimmte Bücher nicht mehr zu bewerben oder ganz oben zu ranken (17). Wir können den C.H.BECK-Verlag nötigen, sich von seinem Autor Hans-Georg Maaßen zu trennen (18). Weg mit Querdenkern, Corona-Leugnern, „Verschwörungsrentnern“.

Die Cancel Culture geht von denen aus, die die Definitionsmacht haben. Deshalb ist sie nur von denen zu sehen, die nicht dazugehören.


Adrian Daub„Cancel Culture Transfer: Wie eine moralische Panik die Welt erfasst | Das Phänomen ‚Cancel Culture‘ verstehen


René Pfister „Ein falsches Wort: Wie eine neue linke Ideologie aus Amerika unsere Meinungsfreiheit bedroht —Ein SPIEGEL-Buch


Sabine Beppler Spahl „Cancel Culture und Meinungsfreiheit:
Über Zensur und Selbstzensur


Quellen und Anmerkungen:

(1) Adrian Daub: Cancel Culture Transfer. Wie eine moralische Panik die Welt erfasst, Suhrkamp, Berlin 2022, Seite 39
(2) Ebenda, Seite 341
(3) Vergleiche Mathias Bröckers, Paul Schreyer: Wir sind immer die Guten. Ansichten eines Putinverstehers oder wie der Kalte Krieg neu entfacht wird, Westend, Frankfurt/Main 2019
(4) René Pfister: Ein falsches Wort. Wie eine neue linke Ideologie aus Amerika unsere Meinungsfreiheit bedroht, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2022, Seite 20
(5) Ebenda, Seiten 15 und 16, 140, 232 und 233
(6) Vergleiche Sabine Beppler-Spahl: Cancel Culture und Meinungsfreiheit. Über Zensur und Selbstzensur, Edition Novo, Frankfurt/Main 2022
(7) Martina Thiele: Political Correctness und Cancel Culture — eine Frage der Macht!, in: Journalistik 4. Jahrgang (2021), Nummer 1, Seiten 74, 76, 77
(8) Adrian Daub (Anmerkung 1), Seiten 333, 337
(9) Ebenda, Seiten 308 bis 310
(10) Ebenda, Seite 339
(11) René Pfister (Anmerkung 4), Seiten 105, 110, 113
(12) Ebenda, Seiten 94, 121 bis 123, 142, 147, 184
(13) Vergleiche Kolja Zydatiss: Cancel Culture — eine Begriffsbestimmung. In: Sabine Beppler-Spahl (Anmerkung 6), Seite 60
(14) Vergleiche Markus Theunert: Co-Feminismus: Wie Männer Emanzipation sabotieren — und was Frauen davon haben, Verlag Hans Huber, Bern 2013
(15) Vergleiche Karl Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Zwei Bände, Routledge, London 1945
(16) Mathias Bröckers, Paul Schreyer (Anmerkung 3)
(17) Benedikt Fuest, Philipp Vetter: „Medizin“-Bestseller? Wie Amazon das Weltbild radikaler Impfgegner verstärkt, in: Die Welt vom 14. Dezember 2021
(18) Ronen Steinke: Im Bund mit dem Verschwörungsrentner, in: Süddeutsche Zeitung vom 8. Januar 2023


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