„Neue Sänger braucht das Land“ sang unlängst der Liedermacher Estéban Cortez. Mit den alten Recken ist er nicht ganz zufrieden. Er nennt sie „zahme Stubentiger“, die „den Buckel krumm“ gemacht hätten. Aber gibt es sie — diese neuen Sänger, die das Versagen der alten im Angesicht sich häufender Zumutungen und Menschenrechtsverletzungen aufwiegen könnten; die, was Engagement für die wirklich brennenden Themen unserer Zeit betrifft, in deren Fußstapfen treten könnten?
Wir finden die neuen im wahrsten Sinn des Wortes notwendigen Lieder in den letzten Jahren verstärkt im Einflussbereich des Ehepaars (Fischer) Rodrian, versehen mit dem einprägsamen Label „PROTESTNOTEN“.
Der erste unter diesem Titel herausgegebene Sampler mit Werken verschiedener Künstler stand noch ganz unter dem Eindruck der desaströsen Coronapolitik seit 2020. Der zweite war allein dem damals noch in Haft befindlichen Journalisten und Whistleblower Julian Assange gewidmet.
Niemals auf die Knie
Als ich von dem Projekt hörte, ein drittes Album zum Thema „Gaza“ zu machen, war ich zunächst skeptisch, ob es möglich sein würde, hierfür eine ausreichende Zahl von Liedern zu beschaffen. Zu speziell erschien mir das Thema „Bombardement des Gazastreifens durch die israelische Armee“. Auch zu düster. Und alles, was mit Kritik an Israel zusammenhängt, ist bekanntlich vermintes Gelände. Zu viele Medien und Meinungshüter wachen über die korrekte Auslegung der facettenreichen, an Tiefpunkten nicht armen jüdisch-palästinensischen Geschichte. Als sei das Durchwinken von Massenmord durch militärische Gewalt und Aushungern die einzig legitime Lehre aus der Geschichte, zu der gerade wir Deutschen verpflichtet seien.
Liedermacherkunst — in dieser Branche dominieren derzeit kleinmütige Größen wie der DDR-Veteran Wolf Biermann, der sich an seine eigene Aufforderung „Lass dich nicht verhärten“ heute selbst nicht mehr zu halten vermag und der den Palästinensern kurzerhand die Schuld an ihrem eigenen Ermordetwerden in die Schuhe schob. Was ist es anderes als Verhärtung, was Menschen dazu bewegt, das tausendfache Leid der Gaza-Bewohner — Männer, Frauen und Kinder — auch nur zu ertragen, geschweige denn, ihm — wie es nur zu oft geschieht — selbstgerecht zuzunicken? Eher als zur Staatstreue Spätberufene wie Biermann könnte ein anderer prominenter Künstler als Leitbild der vorliegenden Aufnahme gelten: der inzwischen verstorbene Mikis Theodorakis, von dem eine Komposition, „Jannis Zotos“, hier enthalten ist. Der Vater der griechischen Musik ging in Faschismus wie Fassadendemokratie „niemals auf die Knie“ — um eine Textzeile von Jens Fischer Rodrian zu zitieren.
Singen und Helfen
Das Gaza-Album ist somit auch eine Ermutigung, wieder weicher zu werden, indem es uns in teils poetischen, teils drastischen Bildern auffordert, gleichsam in die Augen der leidenden Kinder in den Trümmerwüsten der zerbombten Stadt zu schauen und uns nicht mit überfliegerhaften Analysen über diese zu erheben.
Zugegeben, diese CD tut weh. Aber doch nur, weil wir unsere Menschlichkeit noch nicht haben überschreiben lassen durch beflissene Korrektheit, die nur den Mördern hilft.
„Solang du frieren kannst, bist du noch nicht erfroren“, sang Udo Jürgens, der natürlich nicht Teil dieses Samplers ist. Und solange du Trauer und Entsetzen fühlen kannst, bist du noch nicht gestorben.
Die gute Nachricht ist: Es gibt nicht nur genug Material für eine Gaza-CD, vielmehr reicht das hier versammelte Liedgut sogar, um deren zwei zu füllen. Auf der speziell dafür kreierten Webseite wird die mit dieser Musikproduktion verbundene Absicht wie folgt beschrieben:
„Das dritte PROTESTNOTEN-Album verleiht dem Schicksal der Menschen in Palästina eine Stimme. Der Erlös des Projektes geht zum einen an die Hilfsorganisation Barakah Charity, die Hilfsgüter nach Gaza liefert, wie auch an Familien, mit denen der Initiator des Albums, Jens Fischer Rodrian, durch seine Frau Alexa Rodrian in Kontakt steht. Alexa Rodrian hat in Berlin bereits im September 2024 das Benefiz-Konzert „Voices for Gaza“ organisiert und 10.000 EURO gesammelt und gespendet.“
Die Künstler verarbeiten für diese „Compilation“ also auch ihre Eindrücke aus erschütternden Kontakten mit direkt Betroffenen, die wie Ibrahim Massri teilweise bis heute unter schlimmen Umständen in Gaza ausharren. Sie sehen das Album auch als ein Mittel, um — wenn auch mit begrenzten Möglichkeiten — das Elend nicht nur zu beschreiben, sondern es auch lindern zu helfen.
Who's who der kritischen Musikszene
Natürlich ist Kultur vor allem dazu da, Bewusstsein zu schaffen, anstatt — wie es bei angepassten Künstlern heute nur allzu oft der Fall ist — nur kollektive Bewusstlosigkeit zu verstärken und sich damit bei den Mächtigen anzubiedern. Und das gelingt „Gaza“ glänzend.
Die Liste der Mitwirkenden ist eindrucksvoll, und nicht nur Szene-Insider werden den einen oder anderen Namen wiedererkennen. Wer bisher relativ unbekannt gewesen ist, war dies zu Unrecht, denn das künstlerische Niveau ist durchweg hoch — keine Selbstverständlichkeit bei einer Aufnahme, die vor allem der Vermittlung einer wichtigen politischen und humanen Botschaft dient.
Dabei sind: Dieter Hallervorden, Purple Schulz, Michael Barenboim, Tino Eisbrenner, Nina Maleika, Alexa Rodrian, Isi Reicht, Jakob Heymann, Markus Stockhausen, Lou Rodrian, Lapaz, Bustek, Diether Dehm, Sanam, Sabrina Khalil, Hannes Kreuziger, Ibrahim Massri, Mohannad Nasser, Nirit Sommerfeld & Orchester Shlomo Geistreich, Kilez More, Jens Fischer Rodrian, Morgaine, Äon, Wolfgang Wodarg, Jeff Quay, Benedikt Schnitzler, Thea Hann, Rabih Lahoud, Peyoti for President, Martin Kelly, Sisters for Palestine.
„Wo die Erde Blut inhaliert“
Mit dem jungen Palästinenser Ibrahim Masri begann Alexa Rodrian 2024 über WhatsApp eine intensive Kommunikation begann. Sie berichtete darüber auch auf Manova. In ihrer Übersetzung des englischsprachigen Textes heißt es:
„Gaza
da komm ich her,
da wo die Erde Blut inhaliert,
da wo in der Ruhe der Nacht Kugeln den Friedenssong singen,
wo die Sonne über namenlosen Gräbern aufgeht, unter denen Geschichten verbrennen und jeder Traum sich verliert.
Gaza
da komm ich her,
da wo Flugzeuge emporsteigen und kreisen,
da wo ich nun auf den Scherben der Zerstörung schlafe,
wo unter unseren Füßen die Erde jedes Leben schluckt,
wo wir genötigt auf den Wegen unseres Leides reisen.“
Solidarität, egal woher jemand kommt
Es spricht sehr für das Konzept dieses Albums, dass sowohl Menschen mit Wurzeln in der muslimischen Welt als auch Juden hier zu Wort kommen.
Gerade das unfassbare Leid der Menschen lässt die Unterschiede zwischen den Religionen und Kulturkreisen unwichtig erscheinen.
Da sind Menschen, denen Furchtbares angetan wird, und da sind andere, die dies mitzufühlen vermögen und ihre Stimme gegen das Morden erheben. Es gilt für Menschen jeder Herkunft, was William Shakespeare seine jüdische Figur Shylock in „Der Kaufmann von Venedig“ sagen lässt: „Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht?“
Etliche der Künstler auf diesem Album erklären glaubwürdig, dass ihnen auch der Massenmord der Hamas an Israelis am 7. Oktober 2023 nahegehe, so Dieter Hallervorden und Alexa Rodrian. Leider ist einseitige Berichterstattung aber in der Mainstream-Presse eher die Regel als die Ausnahme. So wird etwa von den Ereignissen des 7. Oktober unmittelbar zu Krawallen propalästinensischer Demonstranten in Deutschland übergeleitet, ohne als Zwischenschritt auch den Vernichtungskrieg gegen den Gazastreifen zu erwähnen.
„Genug ist genug“ — eine deutsch-israelische Künstlerin klagt an
Hinter einer ganzen Reihe von Songs stehen Geschichten, erlebte, erlittene Biografie. So erzählt die deutsch-israelische Musikerin Nirit Sommerfeld — seit Jahren tapfere Akteurin auf dem schwierigen Terrain der Israel-(Selbst-)Kritik — von der Entstehungsgeschichte ihres Lieds „Alles Schein“, in dem sie ihr Ursprungsland direkt wie eine Person adressiert:
„ALLES SCHEIN ist der Titel eines Songs, den ich vor etwa zehn Jahren geschrieben habe, nachdem ich Israel den Rücken gekehrt hatte und wieder nach Deutschland zurückgezogen bin. In dem Lied hatte ich meine Wut auf die israelische Politik verarbeitet, aber auch die Liebe zu dem Land und die Enttäuschung, die es mir bereitet hatte. Damals schon schrieb ich diese Zeilen an den Staat meiner Geburt:
Du bist zu weit gegangen in deiner Gier nach Macht und Land …
Genug ist genug!
Es hat über ein Jahrzehnt und Tausende palästinensische und Dutzende israelische Menschenleben gekostet, bis sich endlich auch in Israel eine kritische Masse von Menschen auf die Straße oder mit Petitionen an die Öffentlichkeit wendet und schreit: Genug ist genug!“
„Viel Wahn, wenig Sinn“
Alexa Rodrian, Mitinitiatorin des CD-Projekts und stimmlich definitiv die Tina Turner der deutschen Opposition, wendet sich in „Eye for an eye“ speziell an die Mütter aller Länder, die sich dagegen erheben sollten, dass Kinder — egal welcher Nationalität — abgeschlachtet werden. Rund die Hälfte der Opfer des Gaza-Bombardements sind bekanntlich noch nicht volljährig. Hier ein Ausschnitt in deutscher Übersetzung:
„Mütter erhebt eure Stimmen
Steht auf und trefft eine Wahl
Wie können wir’s ertragen den Gedanken
Kinder anderer Mütter in solch einer Qual
Im Namen der Selbstverteidigung
Lassen sie ihre tödlichen Schwerter klingen.“
Ihr Mann, Jens Fischer Rodrian, der der Hauptmotor des Projekts war und bei etlichen Liedern anderer Künstler als Komponist, Arrangeur und Gitarrist mitgewirkt hat, singt in „Aisch, sie leben!“:
„Viel Wahn, wenig Sinn —
Sie Leben Noch
Neue Wunden, alter Kampf — Sie Leben Noch
Leeres Haus, halbe Wand, müde Beine, kalte Hand
Sie Leben Noch
Verstörter Geist — Verlorene Seelen
Sie überleben, Noch!“
Jens singt auch mit Tino Eisbrenner zusammen das brandneue, auf Straßenkundgebungen bewährte Lied „Frieden mit dem Frieden schließen“. Mit dem Namen Eisbrenner weitet sich der Blick auf den Frieden ganz allgemein, denn bekanntlich stand dieser Künstler bisher vor allem für Aussöhnung mit Russland, was unter anderem ein Duett mit der russischen Sängern Zara dokumentiert.
Vertreten ist auf der CD sogar noch ein viertes Familienmitglied, Lou Rodrian, die einen Text der Maßnahmenkritiker-Legende Wolfgang Wodarg vorträgt und zusätzlich ein eigenes Gedicht. Thema ist auch hier ein brutaler Kindermord. Lou Rodrian hat somit — ähnlich wie Felix Neureuther — die besonders schwierige Aufgabe bewältigt, beiden Eltern in deren ureigener Domäne nachzufolgen.
Nonsens-Vorwürfe gegen Hallervorden
Besonders viel Wirbel machte schon im Vorfeld der Schauspieler und Theaterleiter Dieter Hallervorden („Sein letztes Rennen“). Er trat in einem Video auf, in dem er — vor eingespielten, grausamen Filmszenen aus Gaza — ein von dem Linken-Veteranen Diether Dehm geschriebenes Gedicht vorträgt:
„Grausamkeiten haben meist Vorgeschichten
Und kein Mensch wird als Terrorist geboren.
Gaza Gaza
Ein Mann drückt zerfetzte Fingerchen
An seinen Bart beim Flüstern fest dran.
Was haben denn die zarten Dingerchen
Den Herren Generälen getan?
Dann hebt er den Rumpf seiner Kleinen zu Allah, in die Sonne, zum Mond
Sich bloß in keinem Wort zu verfehlen, das antisemitisch erscheint?
Sie geloben Apartheid die Treue, von Ampel bis AfD.
Sie liefern Granaten aufs Neue,
Bittend, zart damit umzugehen,
Bei Menschen, wie Viecher vertreiben,
Mit Hunger und mit Drohnen.
Dieser Kinderfriedhof wird bleiben,
Als Albtraum für Generationen.“
Leider reagierten etablierte Presseorgane auf diese eindringlichen und nur zu berechtigten Worte mit dem pawlowschen Reflex wohlfeiler Antisemitismusvorwürfe. Manche machten gleich die Entrüstung selbst zur Nachricht, ohne sich mit dem Inhalt von Dehms und Hallervordens Anklage auseinanderzusetzen.
Nicht Völkermord wird skandalisiert, sondern der Protest dagegen — in einer Art Querfront der Ignoranz gegenüber palästinensischem Leid, das von den Grünen bis zur AfD, vom Spiegel bis zu nius.de reicht.
Überall, wo man hinschaut: „Voices against Gaza“. Trauriges Deutschland!
Frieden weltweit!
Eine solche Anzahl und Qualität von Darbietungen konnte nur in das Projekt einfließen, weil die Organisatoren einige Künstler darum baten, auch ältere Beiträge zu Palästina verwenden zu dürfen. Veraltet sind sie deshalb ja leider nicht. Wenn sich überhaupt etwas verändert hat seit den Tagen von Busteks mittlerweile als Klassiker des engagierten Rap geltenden Songs „Free Palestine“, dann zum Schlechteren.
„Kein Strom und kein Wasser, kein Essen und kein Internet.
Palästina abgeriegelt, keine Spur von Menschenrecht.
Humanitäre Hilfen werden einfach abgeschottet.
Selbst die Juden sagen: Wir müssen endlich diesen Wahnsinn stoppen.
Free, free, free Palestine!
Lasst den Terror endlich enden, wir wollen Frieden weltweit!“
„Wir gehen nicht kampflos unter“
„Voices for Gaza“ ist auch durchaus ein internationales Projekt. Neben Deutsch und Griechisch ist auch das Englische immer wieder vertreten. So in der Mut machenden, ursprünglich von Michael Heart gesungenen Hymne „We will not go down“, welche die unter anderem durch die Corona-kritische Aktion #Alles auf den Tisch bekannt gewordene deutsch-ägyptische Sängerin Nina Maleika vorträgt:
„We will not go down in the night without a fight.
You can burn up our mosques and our homes and our schools
But our spirit will never die.“
Kann auf einer ebenso mitfühlenden wie schonungslosen musikalisch-literarischen Klageschrift wie „Voices for Gaza“ überhaupt begründete Hoffnung Platz finden? Diese Hoffnung gibt es zumindest andeutungsweise — als Utopie oder als Verweis auf den unzerstörbaren menschlichen Kern in uns, der selbst in Trümmerwüsten von Zeit zu Zeit hervorleuchtet. So haben die Rapper Kilez More und ÄON und die Artpopsängerin Morgaine in ihrem Lied „Wir könnten“ durchaus den Versuch unternommen, ein neues „Imagine“ zu erschaffen.
„Wir könnten so leicht die Welt ein bisschen besser machen
Wer Frieden will, verkauft keine Waffen
Wir könnten uns alle die Hände reichen
Wir setzen ein Zeichen.“
Und als Resümee:
„Wir könnten das ‚t‘ streichen, denn wir können.“
Das Ende des Wegschauens
Freilich werden sich manche hier an die enttäuschten Hoffnungen erinnert fühlen, die ein Barack Obama („Yes we can“) oder eine Angela Merkel („Wir schaffen das“) zu verbreiten suchten. Aber eines kann man den auf diesem Doppelalbum versammelten Künstlern niemals absprechen: ihre ehrliche Absicht und ihr Mitgefühl mit den Opfern. Die klare Wahrnehmung des Istzustands und der Protest dagegen ist ein Anfang, aus dem mehr wachsen kann. Denn Hörer des Albums werden ihren Verstand und ihr Herz von nun an nicht mehr wegwenden können von dem, was sie als die Wahrheit über die Geschehnisse in Gaza erkannt haben.
Hier können Sie das Album bestellen: „Voices for Gaza“

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