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Lebendige Dynamik

Lebendige Dynamik

Ein Ganzheitsmediziner verbindet zum Wohle aller Schulmedizin und Naturheilkunde miteinander.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO definiert Gesundheit als einen Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens. Nach dieser Definition dürfte sich kaum ein Mensch wirklich gesund fühlen. Stimmungsschwankungen zum Beispiel, Melancholie, Kopfschmerzen, ein Völlegefühl, Infekte, Suchtverhalten, Konflikte — ein hundertprozentiges Wohlergehen kann es nicht geben. So macht uns diese Definition gewissermaßen alle zu jedem Zeitpunkt unseres Lebens zu Kranken — und damit zu potenziellen Patienten.

In den westlichen Industriestaaten lassen sich die meisten Menschen per Schulmedizin behandeln. Auf Anatomie und Biologie basierend, wird der Gesundheitszustand eines Patienten durch körperliche Untersuchungen, im Labor und durch bildgebende Verfahren analysiert. Behandelt wird je nach Diagnose mit Operationen, pharmakologischen Therapien, Kuren oder Psychotherapie, und auch mit nicht invasiven Behandlungen wie zum Beispiel Physiotherapie.

Daneben gibt es naturheilkundliche Heilverfahren, die es jedoch in unserer Zeit nicht leicht haben. Heilpraktiker müssen aus eigener Tasche bezahlt werden, und Methoden wie Akupunktur, Homöopathie oder Osteopathie werden von vielen Krankenkassen nicht übernommen. Die traditionelle Kräuterheilkunde wurde von den Produkten der Pharmaindustrie verdrängt, und die alten und wirksamen Hausmittel kennen immer weniger Menschen.

Die Arroganz vieler Schulmediziner — das haben wir in den vergangenen Jahren deutlich erfahren — lässt oft nur eine Sichtweise zu und degradiert den Menschen zum Forschungsobjekt.

Zum Wohle des Menschen

Medizin kann anders sein. Einseitigkeit kann durch Multidimensionalität ersetzt werden. Der österreichische Arzt Leopold Spindelberger verbindet Schulmedizin und naturheilkundliche Verfahren. Er ist Arzt für Allgemeinmedizin und Traditionelle Chinesische Medizin (TCM), für Arbeits-, Umwelt- und Ernährungsmedizin, ausgebildet in Logotherapie und Existenzanalyse nach Viktor Frankl, in Manualtherapie, Neuraltherapie und Notfallmedizin. Ihm geht es darum, zum Wohle des Patienten moderne und traditionelle Methoden zusammenzubringen.

Kerstin Chavent: Lieber Leopold Spindelberger, wie machen Sie das?

Leopold Spindelberger: Ich finde beide Zugänge zum Thema Krankheit und Gesundheit hilfreich, und sie ergänzen sich für mich wie YIN und YANG. Beide Systeme haben ihre Stärken und Schwächen und beide können viel voneinander lernen, wenn es dafür die Bereitschaft gibt und Vorurteile abgebaut werden.

Aus meiner Erfahrung sind es oft nur Kommunikationsprobleme und Missverständnisse, weil auf beiden Seiten unterschiedliche Begriffe verwendet werden, die aber dasselbe meinen.

Ich möchte daher einige Beispiele bringen und so vielleicht dazu beitragen, dass es zu einer echten Zusammenarbeit auf Augenhöhe zwischen der westlichen modernen wissenschaftlichen Medizin und der TCM und anderen traditionellen Heilsystemen wie der Traditionellen Europäischen Medizin (TEM) oder Ayurveda kommt.

Die industrielle Medizin ist von der Pharmaindustrie abhängig und entsprechend auf Profit ausgerichtet. Im Gegensatz zu den naturheilkundlichen Methoden sieht sie den Menschen nicht als Ganzes, sondern fokussiert das Detail. Wo genau sehen Sie Überschneidungen und Gemeinsamkeiten?

Ich habe im Antiquariat ein Buch aus den fünfziger Jahren über das vegetative Nervensystem von westlichen Ärzten und Physiologen gefunden, die in der Einleitung schreiben, dass das vegetative Nervensystem die Wiederentdeckung das alten chinesischen YIN/YANG-Konzeptes ist. YIN entspricht dabei dem Parasympathikus und YANG dem Sympathikus. YIN steht im Zusammenhang mit Regeneration und dem anabolen (aufbauenden) Stoffwechsel und YANG mit Aktivität und dem katabolen (abbauenden) Stoffwechsel.

Ähnliches gilt auch für Säuren und Basen, eines der wichtigsten Gleichgewichte in unserem Körper, das für das Wohlbefinden und die Funktionstüchtigkeit unserer Zellen von größter Bedeutung ist. YIN entspricht dabei den Basen und YANG den Säuren, und es gibt Krankheiten, die auf eine Übersäuerung in unserem Körper zurückzuführen sind, wie zum Beispiel Entzündungen. Bei solchen Erkrankungen wird eine basenreiche Ernährung empfohlen, und die richtige Ernährung ist die Grundlage jeder Therapie in der TCM. Denn mit unseren täglichen Essgewohnheiten schaffen wir die Grundlage für unser YIN/YANG-beziehungsweise Basen/Säure-Gleichgewicht.

Das Konzept der Salutogenese, der Gesundwerdung, sieht Gesundheit nicht als einen statischen Zustand, sondern als ein lebenslanges dynamisches Spiel verschiedener Wechselwirkungen. Solange die Dinge sozusagen im Fluss des Lebens sind, ist alles in Ordnung. Eventuelle Störungen werden integriert und behoben. Wenn jedoch das Gleichgewicht gestört wird, kommt es irgendwo zu einem Stau. Dann entsteht auf der einen Seite ein Zuviel und auf der anderen ein Zuwenig. Wie erkennt ein Arzt, wo das Gleichgewicht gestört ist, wo es also nicht mehr fließt?

Niemand ist zu hundert Prozent gesund oder krank. Wir befinden uns in einem labilen Gleichgewicht zwischen den beiden.

Krankheiten gehören zum Leben und können für unsere Entwicklung und Reifung von entscheidender Bedeutung sein.

Ich spreche gerne von heilsamen Erkrankungen und ich habe es oftmals in meiner 40-jährigen Praxis erlebt, dass Menschen nach überstandenen Krankheiten und Krisen anschließend stabiler und gesünder sind als zuvor.

Voraussetzung dafür ist, dass wir die Symptome und Botschaften unseres Körpers richtig interpretieren und daraus die entsprechenden Konsequenzen ziehen. Als die größte Kunst der Ärzte gilt daher die Differenzialdiagnose, das Erkennen der wahren Ursache einer Erkrankung. Ich persönlich habe erst durch die TCM gelernt, unterschiedliche Ursachen hinter ähnlichen Symptomen zu erkennen.

Dazu ein aktuelles Beispiel für die kalte Jahreszeit: Husten. Die Ursache für Husten kann eine Erkältung sein, und die TCM spricht dann von einer Kälteerkrankung oder eingedrungener Kälte. Aber auch eine Entzündung wie zum Beispiel eine Bronchitis oder eine Lungenentzündung kann zu Husten führen. Für die TCM ist das dann eine Hitzeerkrankung und braucht eine völlig andere Behandlung als ein Husten, der durch Kälte ausgelöst wird.

Eine weitere Ursache für Husten kann ein zu dicker und zäher Schleim in der Lunge sein, und die Ursache dafür liegt nach den Erfahrungen der TCM in einer Überernährung mit zu viel Eiweiß und Zucker. Beides zusammen wirkt schleimbildend, und dieser zu viele Schleim im Körper wird oft über die Lunge ausgeschieden und ausgehustet, was zu einer Reinigung der Lunge und des gesamten Körpers führt. Früher nannte man eine solche Erkrankung auch Katarrh; dieser Begriff kommt aus dem Altgriechischen und heißt „Reinigung“.

Eine vierte Ursache für Husten kann eine Trockenheit der Schleimhäute sein. Diese Form des Hustens ist ganz charakteristisch, nämlich ein trockener, krampfartiger und bellender Husten. Auch diese beiden letzten Arten von Husten brauchen eine völlig unterschiedliche Behandlung. Was dem einen guttut, kann dem anderen schaden und die Symptome verschlechtern. Ich nenne das die Relativitätstheorie der Medizin.

In meinem ganzen Leben hat mich noch kein Arzt so sorgfältig untersucht. Nach manchmal Stunden im Wartezimmer und ein paar Minuten „Sprechstunde“, während der vor allem der Arzt sprach, wurde ich in die nächste Apotheke geschickt. Was sollte Ihrer Meinung nach ein Arzt können?

Aus meiner Sicht sind wir Menschen mehrdimensionale Wesen mit einem materiellen Körper, Gefühlen und Emotionen, mit einem Verstand und einer Verbindung zu einer geistigen Dimension.

Die fachlichen Begriffe dazu lauten Soma, Psyche, Ratio und Spiritus. Daher muss für mich ein Arzt ganzheitlich agieren. Er muss sich gut mit dem physischen Körper auskennen, über die Psyche Bescheid wissen und sich mit den philosophischen und spirituellen Fragen des Menschseins beschäftigen. Er sollte Schulmediziner, Psychotherapeut, Philosoph und Priester in einem sein. Alle Bereiche können Ursachen für Krankheiten oder Faktoren für den Heilungsprozess sein.

Eine Alternative dazu ist es, in entsprechenden fachübergreifenden Teams zu arbeiten, in denen alle Kompetenzen vertreten sind. Alles auf eine einzige Ursache zurückführen zu wollen, halte ich für eines der größten Probleme in der gesamten westlichen Kultur. Das monokausale Denken in Wissenschaft und Medizin geht an den wahren Ursachen oft vorbei und führt nicht zu dauerhaften Lösungen und stabiler Gesundheit.

Auch bei Infektionskrankheiten, einem der erfolgreichsten Kapitel der modernen Medizin, erkranken nicht alle Menschen beim Kontakt mit Viren oder Bakterien. Das Immunsystem als innerer Faktor spielt eine ebenso entscheidende Rolle wie die äußeren Krankheitserreger. Das Immunsystem hängt wiederum mit der Ernährung zusammen, mit dem Mikrobiom, also der Darmflora, und auch der Psyche. Das zeigen eindrucksvolle Forschungen aus dem Bereich der Psychoneuroimmunologie.

Das Leben ist eine komplexe Angelegenheit, wo alles mit allem verbunden ist, und dasselbe gilt auch für uns Menschen. Albert Einstein hat einmal gesagt, dass einfache Erklärungen zwar schön, aber meistens falsch sind. Unser Verstand aber liebt einfache und simple Erklärungen. Doch was für ihn einleuchtend und logisch ist, muss noch lange nicht richtig und wahr sein.

Auf allen Seiten gibt es viel zu tun, wenn wir uns der Komplexität und Multidimensionalität des Lebens gegenüber öffnen und die Einseitigkeit überwinden wollen, die uns letztlich krank macht. Was stellen Sie sich für die Zukunft vor?

Meine Vision für eine Medizin der Zukunft ist es, ein mehrdimensionales Menschen- und Weltbild zu entwickeln, das sowohl auf den neuesten Erkenntnissen der modernen Wissenschaft als auch auf den jahrtausendealten Erfahrungen traditioneller Heilsysteme beruht.

Es verbindet das Beste aus beiden Welten miteinander und stellt so eine Synthese aus beiden dar. Ich wünsche mir, dass neben der evidence based Medizin gleichberechtigt auch eine experience based Medizin anerkannt wird. Beide haben ihre Berechtigung und Gültigkeit.

Dafür ist es notwendig, Vorurteile abzubauen und sich füreinander zu öffnen, zum Wohle unserer Patienten und unseres Gesundheitswesens, das ja derzeit eigentlich ein Krankenmanagementsystem ist. Es wird immer kranke Menschen geben, und dafür bietet gerade in der Akutbehandlung die moderne wissenschaftliche Medizin effiziente Hilfe. Aber jeder kranke Mensch hat immer auch gesunde Anteile. Um diese zu stärken, gibt es reichhaltige Erfahrungen in den traditionellen Gesundheitssystemen, die sich an der Gesundheit orientieren und nicht nur gegen Krankheiten kämpfen. Erst wenn sich beide Systeme wie YIN und YANG zu einer Ganzheit verbinden, kommen wir zu einer ganzheitlichen Medizin, die diese Bezeichnung auch wirklich verdient.

Lieber Leopold Spindelberger, ich danke Ihnen für dieses Gespräch und möchte mit Ihren Worten schließen: Jeder Mensch ist ein Künstler. Jeder trägt die Anlage in sich, sein Leben zu einem Kunstwerk zu machen, einem dynamischen Prozess, der aus sich heraus immer wieder ins Gleichgewicht findet. Ärzte wie Sie sind hierbei eine wunderbare Unterstützung und Hilfe.


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