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Lichtfülle des Lebendigen

Lichtfülle des Lebendigen

Der Sommer mit seinen Liedern ist ein Gipfelerlebnis, das wir genießen sollten, gerade weil sich in manchen bereits die Melancholie des nahenden Abschieds regt.

Der Sommer singt ein ganz eigenes Lied, wenn er das erfüllt, was mit ihm mehrheitlich in unseren Breiten verbunden und zum Sehnsuchtsort geworden ist: die Wärme, die Fülle des Lichtes und die Fülle der Farben und Formen, die vom Frühling herüberreichen und dann zunehmend verschwinden. Dieses ganz eigene Lied nimmt auch mich hinein, den auf der Höhe des Sommers Geborenen, singt es mir vor, regt mein Singen an. Beruhigt mich, belebt mich, lässt mich sein. Oder gewährt mir das Sein als tragenden Grund der Existenz. Ich fühle mich gehalten, „gemeint“ und eingebunden. In der Fülle und Weite um mich herum und in mir — oft kaum zu trennen — weitet sich der Geist, wird umfänglicher und zugleich rätselhafter. Und das meine ich primär ontologisch und nicht nur psychologisch.

Der Sommer und sein Ende

Der Sommer beginnt, wenn der Sonnenstand, Tag um Tag mehr, bereits abwärts zeigt, die Dunkelheit zunehmend näher rückt. Eigentlich seltsam. Die bekannte „Verzögerung der Extreme“. Aber sie erklärt das Phänomen nicht in der Tiefe. So wohnt in der Dichte und Schönheit des manifestierten Seins die Vergänglichkeit, das „Nicht mehr“, das dann wieder in Stufen zum „Noch nicht“ wird. Das Vergehen des Sommers und im Sommer wird besonders schmerzlich wahrgenommen.

Dem Sommer eignet etwas Lösendes, Ruhiges, Einbettendes, nichts Drängendes wie im Frühjahr.

Der Frühling sucht die Form, drängt nach der Form, sehnt sich nach der Form, während der Sommer sie souverän entfaltet und ausströmt. Und damit prunkt und glüht, und dies auch, wenn der Blütenzauber allmählich verlischt.

Und die Form: Was ist das? Wie entsteht sie? Aus welchen Tiefen quillt sie hervor? Die Naturwissenschaft jedenfalls weiß nichts davon. Vor dem Leben schlechthin kapituliert sie — obwohl oft das Gegenteil behauptet wird —, wie auch vor dem Bewusstsein.

Gibt es eine Musik des Sommers?

Oder ist die Frage schon unsinnig? Es gibt Lieder, die den Sommer besingen, wobei man hier zunächst vom Text ausgeht. Aber das ist erst einmal nicht gemeint. Es geht um die Musik selbst und ihre sprachlich nicht auslotbare Qualität. Es geht um Musik, die groß atmet und das Helle und Weite genauso einfängt wie die dunkle Tiefe und auch Traurigkeit, die fast allen Dingen als Schatten eingewoben ist, den auch die Sommerglut nicht zum Verschwinden bringen kann.

Schuberts große C-dur-Sinfonie gehört vielleicht dazu, in der auch die Landschaft um Wien herum mitschwingt und –klingt. Grinzing, der Kahlenberg und all das. Sommerhitze in den Gassen Wiens. Und am Kahlenberg kam ich einmal jäh und überraschend in einen anderen Bewusstseinszustand. Da glühte alles und zeigte sich als es selbst — ohne von Drogen induziert zu sein. Das war 1972 und dauerte nur Minuten. Ein Hauch gleichsam. Doch der Glanz, der sich zeigte, blieb unverlierbar für mich. Er war auch Klang.

Tiefste Augenblicke im Sommer

In den Bergen. Der Sternenhimmel, den ich anblicke und der mich anblickt. Sommer 1964. Die Schönheit der Sterne, die ihr Rätsel verbirgt und entbirgt. Die Horizonte aufreißt. Da hätte und habe ich viel zu sagen. Nüchtern und trunken zugleich. Da war mehrfach eine unfassbar große und strahlende Venus am Abendhimmel, wie ich sie seit diesem Sommer 1964 niemals wieder gesehen habe. Der große Unendlichkeitsphilosoph Giordano Bruno war mir da ganz nahe. Ich hatte erst angefangen, in seinen Schriften zu lesen.

Ich sah die Sterne einmal auch, ohne sie direkt zu sehen. Ich wohnte für Wochen auf einem Bauernhof in den Dolomiten. Plötzlich, in den frühen Morgenstunden, wirkte die Decke meiner Kammer, in der ich schlief, wie aufgeklappt, und ein blendender und betäubender Sternenhimmel zeigte sich, oder besser: brach jäh herein, wie eine gewaltige kosmische Vision. Es war eine Art Vision. Am Tage dann fühlte ich mich unabsehbar geweitet, groß in einer nicht der Messbarkeit unterliegenden Ausdehnung. Das habe ich später, im Sommer 1986, auch im Transhimalaya (Nepal, Tibet) erfahren. Doch anders im Grundton. Zurück in Berlin, wirkte das dann lange nach. Es veränderte mich.

Weltseele als lebendiger Raum

Wir sind auch Raumwesen. „Weltraum ist Weltseele“, sagt der große Naturphilosoph und Kosmologe Helmut Krause. Ein wunderbares Wort, kaum auslotbar. Ein Mantram vielleicht. Wenn sich das Tor zum Weltseelenraum einmal geöffnet hat, und sei es nur einen Spalt weit, ist es nicht wieder zu schließen. Irgendwie hat das auch mit dem Sommer der Seele zu tun. „Sommer der Seele“? Ist das mehr als eine blumige Metapher? Ich glaube schon. Das rührt an das Problem der Sprache. Wie weit reicht sie, was vermag sie oder eben nicht? Das lässt sich nicht zu Ende sinnen.

Einverstandensein mit sich selbst

Das ruhige Währen, das Einverstandensein: Im Sommer kann es sich leichter entfalten. Einverstanden womit? Mit sich selbst zuerst. Das steht wohl am Anfang, aus dem alles andere folgt. Aus der Tiefe des Selbst-Seins entfaltet sich die Welt um uns herum.

Je tiefer wir uns selbst begreifen und ergreifen, um so welthaltiger werden wir. Damit wird das sattsam bekannte, aber doch so abgründige Ego überschritten und zugleich bewahrt.

Indem ich mein Ich in die Welt strömen lasse, steigere ich es und öffne es zugleich zum höheren, ja kosmischen Wir, ohne das es in sich und an sich selbst kollabiert. Das Ich ohne höheres Wir und Du ist pathologisch und wird zur Tonnenlast für den Einzelnen, die ihn erdrückt und ruiniert.

Die Mitte des Sommers

„In deiner Brust sind deines Schicksals Sterne“, heißt es etwas pathetisch bei Schiller. Da scheint gleichwohl etwas erfasst und getroffen zu sein. Wir sind hier und zugleich draußen, eingekapselt sozusagen in uns selbst und zugleich strömend weltverbunden. In unaufhörlichem, lebendigem Wechselspiel. In jenem Sommer 1964 habe ich das zum ersten Mal erfahren und dann auch begriffen, was es heißt, kosmisch-geistig verbunden zu sein, nicht getrennt, kein seins-blindes Ich, das ja immer trostlos ist und vergeblich.

Als in der Mitte des Sommers Geborener war und ist für mich der Sommer — und gerade dessen Höhe und Mitte — immer auch eine Herausforderung, weil meine Geburt und die Spanne seitdem ins Spiel kommen. Das hat mit Besinnung auf das mir Wesenseigene zu tun, die am Tag der Geburt unabweisbar im Seelenraum steht. Die alten Fragen suchen dann stets nach neuen Antworten. Das ist auch sonst oft der Fall, aber die Tage um meinen Geburtstag herum, den ich oft auf Reisen verbringe, sind doch besonders aufgeladen, was gelegentlich auch schwierig sein kann, wie man begreifen wird. Ich grüble dann mehr, als mir guttut.

Weite und Nähe

Der Sommer weitet die Seele — wenn nicht eine extreme Wetterlage vorliegt, die den Leib gefährdet —, aber er lenkt den Blick auch auf das Nahe und Kleine, das in der Sonnenfülle mehr als sonst erkennbar ist. Die Formensprache der Naturdinge ist nicht auszuschöpfen. Das Nahe und Kleine korrespondiert mit dem Fernen und Großen. Eines bedingt das andere, spiegelt sich im anderen, ja ist das andere.

Die Weite wird zur Nähe, und die Nähe wird weit, unermesslich, rätselhaft. Alles rückt gleichsam in das eigene Sein, aus dem es dann in die offene Weite hinausstrahlt, die uns umfängt und auch trägt.

Noch einmal: Der Mensch ist auch ein Weitewesen, aber das Nahe macht die Weite erträglich. Er braucht beides.

Es gibt Sommerstunden, die sich endlos dehnen, wie jeder weiß. Gelegentlich kann dann der Leib wie aufgelöst erscheinen, fast verschwunden im Flirren des Lichtes und der Luft. In einer Zen-Meditation im Freien während des Sommers bin ich mir einmal sozusagen abhandengekommen. Ich hatte das Gefühl, dass der sanfte Wind durch mich hindurchwehte, dass ich ihm keinen Widerstand bot, dass ich – als konturierte Selbstheit – verschwand, einfach verschwand, ganz unspektakulär, als könne es nicht anders sein. Und doch war es unbegreiflich, ein Rätsel, für das ich keine Erklärung hatte. Verschwinden, ohne zu verschwinden, Da-Sein und zugleich für die leibliche Selbstwahrnehmung „einfach mal weg sein“ ... Ich habe es stets vermieden, hier eine Erklärung zu suchen oder das Ganze mystisch-spekulativ zu überhöhen. Wozu auch?

Der Sommer hat unzählige Gesichter und Facetten. Und doch gibt es etwas Durchtragendes, Elementares, den Einzelnen in Gänze Ergreifendes, dem sich der Mensch „im Normalfall“ nicht entziehen kann und auch nicht will. Aber genau dieser Normalfall ist es, um den es geht, wenn man denn zulässt und zulassen kann, was innen und außen geschieht, wenn man sich einschwingt in den großen Atem, der den Sommer bestimmt. Was voraussetzt, dass nicht, wie meistens, hemmende Faktoren das Feld bestimmen, sodass bestimmte Grundwahrnehmungen gar nicht zur Geltung kommen können. Was ich hier schreibe, kann dann leicht als schöngeistiges und irgendwie unverbindliches oder quasipoetisches Gerede aufgenommen werden, das sich entbunden glaubt von der Not und Wirrsal des Alltäglichen. Ich erlaube mir trotzdem, hier einige philosophisch-meditative Überlegungen vorzutragen, jenseits des allenthalben herrschenden und monströs zelebrierten Irrsinns, der diese Erde fast flächendeckend im Griff hat, wie wir wissen.

Der Sommer und der Tod

„Das Schlimmste: /Nicht im Sommer sterben, /wenn alles hell ist/ und die Erde für Spaten leicht“, heißt es in einem Gedicht von Gottfried Benn. Warum eigentlich? Weil das Helle den Tod verdeckt, der doch überall herausbricht, unerbittlich, streng, der Ananke (= Notwendigkeit) folgend? Gibt es nicht auch eine Lichtfülle, die den Tod enthält, ja ihn geradezu einlädt?

Nicht nur der Frühling ist eine Herausforderung, wie ich früher schon geschrieben habe, auch der Sommer ist es, nur anders.

Das Pflanzenwerden und -weben des Frühlings in seiner drängenden, erwartungsvollen Spannung ist nun gleichsam und vorübergehend zum Seinszustand geworden. Die Formenvielfalt ruht mehr oder minder, verharrt in der Fülle, als hätte es nie etwas anderes gegeben.

Die Naturdinge sind bei sich selbst angekommen, und als solche wirken und strahlen sie. Bald, sehr bald überzogen von ersten Zeichen des Vergehens, die dann immer stärker werden.

Die Macht des Seins

Aber dieses Strahlen und Wirken hat eine eigene Seinsmacht, was viele auch spüren, in unterschiedlichen Graden, und was mit Sinn und höherer Ordnung verbunden ist. Sinn und höhere Ordnung im natürlichen Sein ganz aufzugeben, in der transhumanistischen Utopie eines technisch verschalteten Menschseins im Dienst des megatechnischen Pharaos, ist eine wirkungsstarke Ideologie heute, die fundamentalistische Züge trägt.

Da erscheint der Rückbezug auf das natürliche Sein geradezu verdächtig und wird mit negativen Begriffen belegt. Das tritt offen genug und häufig rabiat zutage und gehört zu den Kampffeldern, in die wir alle heute verstrickt sind. Ob wir es wollen oder nicht, werden wir hier zu Kombattanten. Natürliches Sein, gesteigert auch zum geistig-kosmischen Sein, versus technisches Sein als Ab- und Auflösung des eigentlichen Menschen als schöpferisches Ich-Wesen. Das sind die Frontlinien.

Die hier vorgetragene kleine Sommer-Meditation ist auch eine Art Bekenntnis, ein solches zum Lebendigen und seiner geistig-kosmischen Verankerung. Und diese „Konfession“ unermüdlich vorzutragen fühle ich mich aufgerufen, auch wenn ich manchmal das Gefühl habe, der berühmte „Prediger in der Wüste“ zu sein.


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