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Mit Brecht auf der Flucht

Mit Brecht auf der Flucht

Flüchtlinge — das sind heute nicht nur Menschen, die nach, sondern auch solche, die aus Deutschland flüchten. Ein Schriftsteller des 20. Jahrhunderts hat sich ihrer angenommen.

„Denk ich an Deutschland in der Nacht …“, dann erhebt sich schnell Delegitimierungsverdacht. Unruhige, schlaflose Nächte hatten viele seit 1844 der aus Deutschland vertriebene Heinrich Heine darüber schrieb. Auch Bertolt Brecht musste Deutschland fliehen. Und es war nie Deutschland, das sie fliehen mussten, es war immer ihre Regierung. Sie hatte falsche Ansichten, meinte die Regierung. Es war nicht nur die Androhung von Gewalt, die sie das Weite suchen ließ. Nicht selten waren auch Not und Armut im Spiel, kurz Elend, in das sie die Regierung stürzte oder darin beließ. Wer dagegen aufsteht, muss weg, jedenfalls wenn’s gefährlich zu werden droht. So hat das Bertolt Brecht erlebt und darübergeschrieben.

Brechts Flüchtlingsgespräche entstammen seiner eigenen Flüchtlingserfahrung. Es sind Gespräche, die er zwischen dem Physiker Ziffel und dem Metallfacharbeiter Kalle stattfinden lässt. Sie begegnen sich zufällig im Bahnhofsrestaurant von Helsinki und finden sich dann dort immer wieder zu gelegentlichem Gedankenaustausch ein. Brecht hat die Flüchtlingsgespräche 1940/41 in Finnland begonnen und dann 1944 in den USA fortgesetzt aber nie publiziert. Sie wurden dann 1961 aus dem Nachlass veröffentlicht. Meine Ausgabe (1) stammt aus dem Jahr 1975 und das heißt aus meiner Schulzeit. Sie war mit mir verschiedentlich umgezogen und musste in unterschiedlichen Regalen lange auf ihre zweite Lektüre warten.

Es stellt sich ja die Frage, was wir, die wir „im besten Deutschland, das es je gegeben hat“, leben, mit „Flüchtlingsgesprächen“ anfangen sollen — also solchen von Flüchtlingen aus und nicht nach Deutschland. Jetzt war’s dann so weit. Ich war reif dafür — wenn Sie verstehen, was ich meine. Mein Interesse war kein historisches. Es war das Geschrei nach der rechten Gesinnung, das mich zu den Flüchtlingsgesprächen trieb. Die Ampel stand auf Stopp, einfach mal raus, jedenfalls lesend, mal alles links liegen lassen und hören, was Deutschlandflüchtlinge so denken und weshalb sie meinen, dass es ihnen — mal wieder — an den Kragen geht.

Ordnung schaffen

Alles sieht gleich ganz anders aus, wenn man es aus anderer Perspektive betrachtet. „Einer hat einmal behauptet, Dreck sei überhaupt nur Materie am falschen Ort.“ Was im Blumentopf gewünscht ist, wird auf dem Teppich gerügt. Im staatlichen Garten gilt manche reiche Frucht als gefährlicher Bewuchs, weil sie die falschen Tierchen nährt und die Ordnung stört. Also immer schön ausjäten.

In einem Film von Charlie Chaplin, so Kalle, habe er „seine Kleider und so weiter in einen Koffer gepackt, das heißt hineingeschmissen und den Deckel zugeklappt, und dann war es ihm zu unordentlich, weil zu viel herausgeschaut hat, und da hat er eine Schere genommen und die Ärmel und Hosenbeine, kurz alles, was herausgehängt ist, einfach abgeschnitten“. Erkennen Sie ein Muster? Was weg muss, muss einfach weg, damit es ordentlich aussieht.

Dabei ist vieles kompliziert und nicht einfach zu verstehen. Man kommt nicht gleich dahinter, wie sich die Dinge verhalten. Ziffel ist ein Physiker. Er bereitet Experimente vor, um etwas anschaulich zu machen. Das bedarf genauer Überlegung und Vorbereitung. Vieles muss zusammengetragen, notiert und zur Präsentation vorbereitet werden. Wenn da nur nicht die fleißigen „Laboratoriumsdiener“ wären. Kaum verlässt man kurz den Raum, schaffen sie Ordnung. Jeden Morgen „sind die Tische blitzblank, das heißt die Zettel mit den Notizen [sind] für immer im Kehrichteimer verschwunden“.

Manchmal werden sie von anderen „Laboratoriumsdienern“ aus dem Verkehr gezogen, in die Archive genommen und auf „Desinformation“ und „Delegitimierung“ geprüft. Man will — im großen Maßstab — Ordnung schaffen — zum Wohl des Gemeinwesens oder des gemeinen Wesens: „Nirgends sieht man mehr auf Ordnung als im Gefängnis oder beim Militär.“ Aber während man im Geschäftsleben durch Ordnung etwas zu gewinnen hofft, entstehen im Krieg durch peinlichste Ordnung nur Verluste. Im Land „herrscht Knappheit. Man könnts natürlich auch Ordnung heißen, wenn aus dem Vollen gewirtschaftet wird, wie bei uns, wie gesagt, nur im Krieg“. Worauf Kalle einstimmt:

„Da geht’s aus dem Vollen. Hat man je eine Militärverwaltung erlebt, die gespart hätt? Die Ordnung ist nicht, daß gespart wird.“

Und dann bricht plötzlich ein Krieg aus

Apropos Krieg. Wissen Sie eigentlich, dass Kriege immer ausbrechen?

„Das Wort [‚ausbrechen‘] besagt alles. Man gebraucht es hauptsächlich für Seuchen, und es liegt drin, daß sie keiner gemacht hat und nur keiner hat verhindern können.“

Das ist nicht ganz richtig. Denn es sind immer die Anderen, die Bösen, die ihn ausbrechen ließen, während man ihn selbst nicht verhindern konnte.

„Kriege brechen aus, hör ich, wenn ein Staat […] besonders kriegerisch ist. Das heißt, wenn er eben zur Gewalt neigt.“

Hier fällt das Aggiornamento leicht, gell? Sie wissen schon, wer gemeint sein muss — ist in der Süddeutschen nachzulesen.

Kalle aber zweifelt:

„Aber da hab ich mich oft gefragt, wie das bei einer Überschwemmung ist. Für gewöhnlich wird der Fluß als ‚reißend‘ hingestellt und das Flußbett als vollkommen friedlich, zusammen mit seinen malerischen Faschinen (2) und Zementkonstruktionen, und dann kommt der Fluß und reißt alles nieder, und da ist er natürlich der Schuldige, er kann noch so laut schreien, daß es im Gebirg zu stark geregnet hat und daß alles Wasser in ihn hineinstürzt und er kommt nicht mehr aus mit dem Bett.“

Manchmal sind fünf Osterweiterungen mit acht neuen Zuflüssen einfach zu viel?! Aber das ist ein anderes Thema.

Zurück zur Ordnung. Man kann’s, meint Kalle auch „so ausdrücken: Wo nichts am rechten Platz liegt, ist Unordnung. Wo am rechten Platz nichts liegt, ist Ordnung“. Und Ziffel bestätigt im Sinne auch uns heutiger Leser: „Ordnung ist heutzutage meist dort, wo nichts ist. Es ist eine Mangelerscheinung.“

Wir sind alle … gegen schlechten Geschmack!

Apropos Mangelerscheinung.

Es gibt schon mehr oder weniger Mittellose, damals wie heute. Die sind gefährlich, denn die werden zu Faschisten, sagt man. Das ist natürlich schlecht. Sieht jeder ein. Die Mittellosen delegitimieren. Mittellosigkeit aber ist keine Legitimation zum Faschismus. Das müssen wir mit aller Härte klarstellen, sagt so mancher Regenbogenbindenträger. Deshalb müssen wir gegen die Mittellosen vorgehen.

Gegen Mittellosigkeit kann man schließlich nichts machen, die ist ökonomisch und nicht politisch — und „im Land herrscht Knappheit“ — außer im Krieg, damit müssen wir alle klarkommen.

Kalle sagt: „Wir brauchen nicht den Appetit, wir haben den Hunger.“ Aber das ist natürlich verkürzt. Man hat ja doch Hunger auf dies oder das und als kultivierter Mensch eher auf so was und nicht auf das da. Gut, der Hunger ist einfach da. Da kann man nichts machen. Nicht der Hunger wird deshalb bekämpft, sondern die Art, ihn stillen zu wollen. Esst nichts, was nicht koscher ist oder irgendwie rechts außen riecht.

„Man könnte glauben, es sind nur zwei Sorten von Leuten in Deutschland, Pfaffen und Pfaffengegner. Die Vertreter des Diesseits, hagere und bleiche Gestalten, die alle philosophischen Systeme kennen; die Vertreter des Jenseits, korpulente Herren, die alle Weinsorten kennen. Ich hab einmal einen Pfaffen mit einem Pfaffengegner streiten hören. Der Pfaffengegner hat dem Pfaffen vorgeworfen, er denkt nur ans Fressen, und der Pfaff hat geantwortet, der Herr Gegenredner denkt nur an ihn.“

Ja, Atheismus und Freidenkerei sind ziemlich zeitraubend. Man kommt zu kaum etwas anderem mehr.

Wie gut, dass die Pfaffen und ihre Regierung die Freidenker heute dabei unterstützen, ihre Kraft dem Kampf gegen den falschen Geschmack zu widmen. Der Hunger ist gewissermaßen vorpolitisch. Wäre er politisch, müsste ihn die Regierung ja verantworten und die Pfaffen sich darum kümmern.

Die Zeit, die uns bleibt nach dem workin‘ all day / Overtime hours for bullshit pay, wird also „für die Entlarvung der Heilsarmee verwendet und die Propaganda für Verbrennung nach dem Tode“ muss man sich „von der Essenszeit absparen“. Das würden wir heute natürlich anders sagen, aber wir folgen — sinngemäß — den Pfaffen und ihren Regierungsorganen und kritisieren, dass zu viel Geld für Alkohol und Zigaretten, Fleisch und Fast Food ausgegeben wird. Kultivieren wir den guten Geschmack, auf dass sich der Hunger der Mittellosen, an dem wir nichts machen können, daran das richtige Maß nimmt. Die Pfaffen wissen schließlich, was gutes Essen ist. Das ist natürlich alles sehr derb formuliert — vor allem für meine katholischen Ohren. Brecht war halt ein Marxist und so kam er — da muss man sich nicht wundern — ins Exil.

Im Exil

Und was macht man nun im Exil? Seine Memoiren schreiben. Muss man dazu nicht ein „bedeutender Mensch“ sein, fragt Kalle. Nur weil man auf der Flucht ist, ist man nicht bedeutend. Und doch kann man darüber schreiben und seine Leser finden, weil die Mehrheit ja doch zwangsläufig aus unbedeutenden Menschen besteht. Wie lauten die Fragen des lesenden Arbeiters, die Brecht in Versform gebracht hat?

Wer baute das siebentorige Theben? […] Und das mehrmals zerstörte Babylon, Wer baute es so viele Male auf ?

Es werden wohl „unbedeutende Menschen“ gewesen sein. Wenn Ziffel, der „unbedeutende“ Flüchtling, etwas schreibt, in dem sich die anderen „unbedeutenden Menschen“ erkennen, dann, so Kalle, könnte damit der erste Stein für den Aufbau einer neuen Ordnung gesetzt sein. Man ist nicht allein. So unbedeutend wie man selbst sind die meisten und das Ganze nennt sich dann „Volk“.

„Das Wort ‚Volk‘ ist ein eigentümliches Wort“,meint Kalle, „ist Ihnen das schon aufgefallen? Es hat eine ganz andere Bedeutung nach außen als nach innen. Nach außen, nach den andern Völkern hin, gehören die Großindustriellen, Junker, höheren Beamten, Generäle, Bischöfe und so weiter natürlich zum deutschen Volk“ — man darf vielleicht sagen, zu seinem besten Teil?!

„Aber nach innen hin, wo es sich also um die Herrschaft handelt, werden Sie diese Herren immer vom Volk reden hören als von ‚der Masse‘ oder ‚den kleinen Leuten‘ und so weiter; sie selber gehören nicht dazu. Das Volk tät besser, auch so zu reden, nämlich daß die Herren nicht dazugehören. Dann bekäme das Wort ‚Volksherrschaft‘ einen ganz vernünftigen Sinn, das müssen Sie zugeben.“

Aber wer in diesem Sinne von „Volksherrschaft“ spricht, ist natürlich Populist und „Rattenfänger“. Die richtige Volksherrschaft muss schon durch die Richtigen erfolgen, gell?!

Die bedeutenden Geister der Qualitätsmedien

Um dafür zu sorgen — „das ist die moderne Entwicklung“ — wurde „eine ganze Kaste geschaffen […], eben die Intellektuellen, die das Denken besorgen müssen und dafür eigens trainiert werden“. Kalle rechnet Ziffel dazu.

„Sie müssen ihren Kopf ausvermieten an die Unternehmer wie wir unsere Hände. Natürlich haben Sie den Eindruck, daß Sie für die Allgemeinheit denken; aber das ist, wie wenn wir meinen würden, daß wir für die Allgemeinheit Autos bauen — was wir nicht meinen, weil wir wissen, es ist für die Unternehmer, und zum Teufel mit der Allgemeinheit!“

Das würden wir natürlich heute nicht mehr so sagen. „Für die Unternehmer“, das ist doch Verschwörungstheorie. Für Unternehmen, ja, die „als wirtschaftlich selbständige Organisationseinheit[en], die mit Hilfe von Planungs- und Entscheidungsinstrumenten Markt- und Kapitalrisiken eingeh[en] und sich zur Verfolgung des Unternehmenszweckes und der Unternehmensziele eines oder mehrerer Betriebe bedien[en]“.

Aber halt, jetzt hätt‘ Wikipedia fast etwas vergessen, was dann doch — auch für Brecht — eine gewisse Bedeutung hat: Das Wirken des Unternehmens geschieht — mit der Ausnahme von Non-Profit-Unternehmen, die steuerrechtlich klar umrissen ist — mit Gewinnerzielungsabsicht oder etwas weniger verklausuliert ausgedrückt: profitorientiert. Das wollte Wikipedia wohl nicht überbetonen?! Aber das wird wohl auch nichts ändern, oder? Pfizer geht’s um die Weltgesundheit und der Süddeutschen um die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit.

Ziffel bestätigt diese fatalistische Betrachtung durch eine Beobachtung, die er ins Grundsätzliche wendet. In einer Zeitung hatte er gelesen, „die Hauptaufgabe des Präsidenten [sei] es, dem Kongreß und dem Land den Krieg zu verkaufen“. Gemeint ist natürlich, alle davon zu überzeugen, dass der Kriegseintritt gut und ratsam oder gar notwendig sei. Wir leben — meint Marx — in Gesellschaften, deren Reichtum „als eine ‚ungeheure Warenansammlung‘“ erscheint. Alles wird darin zur Ware, zumal das, für dessen Herstellung Arbeitskraft und Geld aufgewandt wird. So werden darin auch „Gedanken allgemein als Waren erkannt“. Für Artikel der Süddeutschen muss man anders als bei Manova bezahlen, das nennt sich SZPlus, und so gilt:

„In Diskussionen über wissenschaftliche oder künstlerische Probleme sagt man, wenn man seine Zustimmung ausdrücken möchte: Sie, das kauf ich. Das Wort ‚überzeugen‘ ist einfach durch das treffendere Wort ‚verkaufen‘ ersetzt.“

Die Vermittlung mancher Überzeugungen und Weltbilder kostet schon mal 8,3 Milliarden Euro — per anno versteht sich.

„Es ist immer verdächtig, wenn viel von Freiheit die Rede ist.“

Wo man sie hat, spricht man nicht drüber. Und Kalle war es aufgefallen, „daß so ein Satz ‚bei uns herrscht Freiheit‘ immer kommt, wenn jemand sich über Unfreiheit beschwert. Dann heißt es sofort: ‚Bei uns ist Meinungsfreiheit. Bei uns könnens jede Überzeugung haben, die Sie wünschen.‘ Das stimmt, indem das überall stimmt. Nur äußern könnens Ihre Überzeugung nicht. […] ‚Diese Überzeugung darf man nicht äußern, weil sonst unsere Freiheit bedroht ist…‘“. Schon mal gehört? Dazu muss man gar nicht so alt sein.

„Darüber, was militärische Angelegenheiten sind, bestimmt das Militär.“ Deshalb die Freigiebigkeit bei der Verwendung von Material, technischem und „menschlichem“. Was politische Angelegenheiten sind und was ökonomische oder volksverhetzende Umtriebe, bestimmt die Regierung, sie weiß das am besten, denn sie muss ja regieren. Ich finde da sollten wir für auf die Straße gehen, für Demokratie und gegen Flüchtlingspropanda.

Wie Schulen aufs Leben vorbereiten und …

Aus den Gesprächen von Brechts Ziffel und Kalle lässt sich auch einiges über unsere Schulen lernen. Stoische Philosophen kritisierten weltfremd die Schulen, weil sie meinten, darin gälte, non vitae sed scholae discimus (3). Warum die Schule heute tatsächlich die beste Vorbereitung fürs Leben ist und wie sie aussehen muss, damit non scholae, sed vitae discimus (nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir) gilt, darüber erfährt man in den Flüchtlingsgesprächen einiges.

„Der Schüler lernt alles, was nötig ist, um im Leben vorwärts zu kommen. Es ist dasselbe, was nötig ist, um in der Schule vorwärts zu kommen. Es handelt sich um Unterschleif, Vortäuschung von Kenntnissen, Fähigkeit, sich ungestraft zu rächen, schnelle Aneignung von Gemeinplätzen, Schmeichelei, Unterwürfigkeit, Bereitschaft, seinesgleichen an die Höherstehenden zu verraten und so weiter und so weiter.“

Sie sehen, wir brauchen eine tiefgreifende Schulreform: Verschwörungstheoretiker wie Brecht dürfen in unseren Schulen einfach nicht mehr unterrichtet werden.

Ach so, nein, unsere Schulen „im besten Deutschland, das es je gegeben hat“, sind ganz anders. Wir bereiten nicht aufs raue Leben der Gegenwart, sondern auf die Zukunft vor, die schöne Welt der Klimarettung und der woken Kriegstüchtigkeit.

… warum die Viskosität von Öl politisch bedeutsam ist und …

Und dann lesen wir da noch, dass Öl einfach „dicker als Blut“ sei. Das galt schon damals und wird heute noch bis zum letzten Blutstropfen durchgefochten. „Ja ein Ziel hat man [schließlich] immer. Ziel ist, worauf man schießt.“ Das klingt jetzt sehr defätistisch. So kann man heute Flüchtlingsgespräche nicht enden lassen. Deshalb zum Abschluss noch ein Stück Hochkultur!

… warum Philosophie so lustig ist und schließlich …

Wollten Sie schon immer mal wissen, was Hegel mit Humor zu tun hat und seine „Logik“ „eines der größten humoristischen Werke der Weltliteratur“ ist? Brecht lässt uns das durch Ziffel und Kalle erklären. Ich hatte immer schon den Verdacht, dass da was nicht stimmen kann, Philosophen wie Hegel allzu ernst zu nehmen.

Ein Hegelianer hatte mir, nachdem ich ihm von meinen Lektürewehen erzählt hatte, geraten, vor und beim Hegel-Lesen Bier zu trinken und nicht zu sparsam: Hegel selbst war dem Bier und dem Wein bekanntlich zugetan. Er hatte eine Nürnberger Brauerei-Tochter geheiratet — honi soit, qui mal y pense, und war, wenn er auf Reisen war, immer bestrebt, dass eine ausreichende Menge Fassbier vorausgeschickt wurde, damit er nicht an Ort und Stelle in die Verlegenheit kam, unproduktiv zu werden.

… was eigentlich ein Marxist kostet?

Dem ganzen Elend kann man nicht leicht etwas entgegensetzen. Ziffel meint:

„Der Marx hat die Arbeiter nicht beschimpft, er hat festgestellt, daß ihnen von der Bourgeoisie ein Schimpf angetan wird.“

Aber die Sache ist schwierig.

„Eine halbwegs komplette Kenntnis des Marxismus kostet heut, wie mir ein Kollege versichert hat, zwanzigtausend bis fünfundzwanzigtausend Goldmark … Drunter kriegen Sie nichts Richtiges, höchstens so einen minderwertigen Marxismus ohne Hegel oder einen, wo der Ricardo fehlt und so weiter. Mein Kollege rechnet übrigens nur die Kosten für die Bücher, die Hochschulgebühren und die Arbeitsstunden und nicht, was Ihnen entgeht durch Schwierigkeiten in Ihrer Karriere oder gelegentliche Inhaftierung, und er läßt weg, daß die Leistungen in bürgerlichen Berufen bedenklich sinken nach einer gründlichen Marxlektüre; in bestimmten Fächern wie Geschichte und Philosophie werdens nie wieder wirklich gut sein, wenns den Marx durchgegangen sind.“

Ich fürchte, die Kosten haben sich noch erhöht — das liegt vielleicht auch an den niedrigen Stückzahlen. Mancher Bedarfsartikel des täglichen Gebrauchs wird irgendwann zum Luxusartikel.


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Quellen und Anmerkungen:

(1) Bertold Brecht, Flüchtlingsgespräche, Ffm 1975. Ihr entnehme ich die Zitate — noch in alter Rechtschreibung.
(2) Ein Wortspiel, das man Kalle gar nicht zutraut; aber er hat ja Brecht an seiner Seite. Faschinen sind Reisig- und Rutenbündel, die unter anderem zum Bau von Böschungen von Uferbefestigungen genutzt wurden, und im Lateinisch fascis und im Italienischen fascio/fasci heißen.
(3) Seneca, Epistulae Morales 106, 11f.

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