„Die aufgezeichnete Geschichte der Chinesen reicht zurück bis zu den Kaisern des dritten vorchristlichen Jahrtausends“, schrieb Hans Joachim Störig in seinem Standardwerk „Kleine Weltgeschichte der Philosophie“. Auch hierüber gibt es — wie meistens im Fall Chinas – verschiedene Ansichten. Es ist generell schwierig, dieses eigentlich nicht auslotbare Land, „zu fassen zu kriegen“.
Störig hat in dem Kapitel „Allgemeiner Charakter und Bedeutung der chinesischen Philosophie“ den tapferen Versuch unternommen, das Wesentliche herauszuarbeiten. Ein wichtiges Merkmal des chinesischen Denkens ist demnach das „Streben nach Harmonie“ sowie nach „Maß und Mitte“. Chinesische Lebenskunst ist oft eine Kunst des Einklangs — und zwar speziell des „Einklangs von Mensch und All“ sowie „von Mensch und Natur“. Dies hängt laut Störig zusammen mit der „Abneigung des Chinesen gegen jede Art von Einseitigkeit und Extrem. Dem ‚Entweder-Oder‘ wird überall das ‚Sowohl-als-auch‘ vorgezogen“. Im Prinzip entspricht das auch meiner Definition von Weisheit. Diese Mentalität, so Störig, habe in China auch zu großer weltanschaulicher Toleranz geführt – dokumentiert unter anderem in der über Jahrhunderte existierenden friedlichen Koexistenz konfuzianistischer, taoistischer und buddhistischer Lehren. Störig vermerkt positiv, dass „Bekehrungs- und Unterdrückungsversuche mit gewaltsamen Mitteln (…) bis auf wenige Ausnahmen nicht vorgekommen sind“. Die Chinesen hätten sich „je nach Bedarf“ bei tauglichen Elementen verschiedener Religionen bedient.
Der Mensch im Mittelpunkt
Der chinesische Geist enthält sich offenbar metaphysischer Spekulationen über Gott, Götter und Jenseits. „Das chinesische Denken hat den Charakter der Weltlichkeit.“ Störig spricht auch von „Humanismus“, denn: „Es gibt kein chinesisches System, in dem nicht der Mensch im Mittelpunkt steht.“ Bezüglich der Ethik und des praktischen Verhaltens werden „Genügsamkeit, Maßhalten, innere Ausgeglichenheit und Seelenfrieden“ genannt, die „zum menschlichen Glück unerlässlich sind“.
Ein rein spekulatives Denken, das nicht zugleich Anleitung zu richtigem Handeln ist, ist der chinesischen Philosophie fremd. Konfuzius (eigentlich: Kong Fu Tse) etwa erteilt allen Aussagen zu religiösen Fragen eine Absage.
„Wenn wir noch nicht einmal wissen, wie wir den Menschen dienen sollen, wie können wir wissen, wie wir den Geistern dienen? Wenn wir nichts über das Leben wissen, wie können wir etwas über den Tod wissen?“
Die Kunst des Einfügens
In den Begriffen westlicher Philosophie ist Konfuzius Agnostiker. Charakteristisch ist sein „Hingewandtsein auf den Menschen und auf das praktische Leben“, so Hans Joachim Störig. Von hier aus ist auch der Weg zur Sozialphilosophie und politischen Philosophie nicht weit. Überwiegend schätzen die Denker des „Reichs der Mitte“ die menschliche Natur als ihrem Wesen nach gut ein. Die Philosophen Chinas betrachten die Menschen nicht als isolierte Individuen, vielmehr als „nicht nur in den Naturzusammenhang, sondern immer auch in den von Familie, Gesellschaft und Staat eingefügt“.
Man kann nun über derart „eingefügte“ Chinesen lästern, aber ob sich gerade Deutsche in punkto Kollektivismus und Konformismus darüber erheben sollten, ist fraglich.
In dem chinesischen Weg des Wassers, der sich eher in bestehende Formen fügt, als gewaltsam gegen diese anzukämpfen, liegt auch viel Sozialkompetenz mit dem Potenzial, den inneren und äußeren Frieden zu wahren. Der Philosoph Hermann Graf Keyserling (1880-1946) schrieb deshalb sogar:
„Das bisher vollkommenste Menschentum als Normalerscheinung überhaupt hat China herausgearbeitet (…) Wie der moderne Westen die bisher höchste Könnenskultur erschaffen hat, so Alt-China die bisher höchste allgemeine Seinskultur.“
Feng Shi, Qi Gong, I Ging …
Mein Zugang zur chinesischen Kultur erfolgte — lange bevor ich die Geopolitik zu ergründen versuchte — über die spirituelle Szene, in der chinesische Kultureinflüsse als Puzzleteile eines ethno-esoterischen Eklektizismus verarbeitet wurden. Zu allen esoterischen, körpertherapeutischen und energiemedizinischen Disziplinen gibt es seichtere Varianten, die für Wellness im Zeitschriftenformat taugen, aber auch tiefer gehende, an den kulturhistorischen Wurzeln orientierte Zugänge. Zu nennen sind zum Beispiel:
- Die chinesische Astrologie, basierend auf 12 Energien, die den Jahren — nicht wie in der westlichen Astrologie den Monaten — zugeordnet sind;
- die Akupunktur, angelehnt an eine Lehre, die feinstoffliche Energiebahnen des Menschen beschreibt („Meridiane“);
- die Ernährung nach den fünf Elementen (Holz, Feuer, Erde, Metall, Wasser);
- Feng Shui, die Kunst der Raumgestaltung durch Lenkung und Harmonisierung von Energien;
- Kampfkünste mit philosophischem Hintergrund wie Kung Fu;
- Qi Gong, eine Methode der gesundheitswirksamen Regulierung von Energie durch eher langsame, ästhetisch wirkende Bewegungsformen.
- Das I Ging (Buch der Wandlungen), genutzt als Orakel- und Weisheitsbuch, basierend auf einer Art „binärem Code“: Durchgehende Linien sind „Yang“/männlich, unterbrochene Linien sind Yin/weiblich.
Und viele andere. Ich will hier eher von den zentralen Fragen chinesischer Philosophie ausgehen und von dort aus speziell auch politische Aspekte beleuchten.
Spiritualität ohne Gott?
Eine wichtige Frage, über die vielfach Unklarheit herrscht, lautet: Ist die chinesische Spiritualität „gottlos“? Ja und nein. In der Zeit vor den beiden Geistesriesen Konfuzius und Lao Tse gab es eine chinesische Volksreligion, die vor allem aus ritueller Geister- und Ahnenverehrung bestand. Dem folgten tiefer gehende Konzepte. Der Taoismus, wie er im berühmten Weisheitsbuch „Tao te king“ (Alter nicht genau bestimmbar, vermutlich 4. Jahrhundert v. Chr.) beschrieben wird und unter anderem von dem US-amerikanischen Religionsphilosophen Alan Watts (1915-1973) im Westen bekannt gemacht wurde, verweist auf das in allem wirkende, jedoch nicht greifbare und benennbare „Absolute“ (Tao).
„Tao ist der im Grunde unfassliche Urgrund der Welt“, definiert es Watts.
„Es ist das Gesetz aller Gesetze, das Maß aller Maße. (…) Insofern das Tao als Un-Bedingtes in sich selber ruht, kann es in der Sprache der europäischen Philosophie als das ‚Absolute‘ bezeichnet werden.“
Dieser Ansatz mündet in einem erkenntnisphilosophischen Agnostizismus, der jede Rechthaberei oder Wortklauberei aus dem Diskurs fernhält.
„Da das Tao unfassbar ist, so ist das Höchste, was wir an Erkenntnis erlangen können, die Gewissheit unseres Nicht-Wissens.“
Unsere Begrenztheit im Verstehen-Können lenkt die Aufmerksamkeit wieder auf den unmittelbaren Lebensvollzug.
„Können wir auch das Tao nicht eigentlich greifen und erkennen, so können wir seiner doch innewerden, indem wir demütig und hingegeben sein Walten in den Gesetzen der Natur und des Weltablaufs erfühlen und zum Richtmaß auch unseres menschlichen Lebens machen.“
In allem „der Eine Geist“
Der bedeutende chinesische Zen-Meister Huang-po entwickelt im 9. Jahrhundert ein sowohl vom Taoismus als auch vom Buddhismus eingefärbtes Konzept des „Absoluten“. In „Der Geist des Zen“ schrieb er: „Der Meister sagte zu mir: Alle Buddhas und alle Lebewesen sind nichts als der Eine Geist, neben dem nichts anderes existiert. Dieser Geist, der ohne Anfang ist, ist ungeboren und unzerstörbar.“
Die chinesische Philosophie kennt einen Einheitsgedanken, der dem westlichen Begriff des Pan-en-theismus gleicht. Gott ist in allem gegenwärtig — nur, dass in China dieser „Gott“ ohne die Merkmale einer menschenähnlichen Persönlichkeit gedacht wird. „Er“ ist eher ein Prinzip, eine Kraft, ein Geistesstrom.
Der Neo-Konfuzianer Tschu Hsi (1130-1200) formulierte: „Spricht man von allen Dingen, so ist in allen Dingen, und zwar in jedem einzelnen, das Urprinzip enthalten.“ Auch im Menschen findet sich eine Repräsentanz dieses Urprinzips, was mystischen Vorstellungen des Westens, aber auch Indiens ähnelt: „Der Vater und ich sind eins“, „Brahman und Atman sind identisch“. Das Eine ist nach chinesischer Lehre aber kein Gott im Sinne einer „Person.“ Es wird vor allem durch seine Wirkung erfahren, so wie man den Wind oft erst durch die Betrachtung des sich bewegenden Grases wahrnimmt. Die ideale Beziehung des Menschen zum Einen besteht eher im „Mitschwingen“, Sich-treiben-Lassen, in Anpassung und Hingabe. Dies unterscheidet sich markant von westlichen Vorstellungen einer prometheischer Rebellion gegen einen Patriarchen-Gott. „Wu wei“ (Nicht Handeln) heißt ein berühmter Begriff dafür.
„Das Tao ist ewig ohne Tun, doch nichts bleibt ungetan.“
(Lao Tse)
Eine bipolare Welt: Yin und Yang
Ein weiteres Großthema der chinesischen Philosophie ist die Zweiteilung dieser einen Wirklichkeit in zwei polare Kräfte: Yin und Yang. Wichtig ist, dass es zwischen den beiden Polen keinen Kampf und kein moralisches Gefälle gibt. Die Welt besteht eher in einem beständigen Schwingen zwischen den Gegensätzen, die in einer Art Fließgleichgewicht aufeinander bezogen sind. Alan Watts schreibt über Yin und Yang:
„Das chinesische Denken und Fühlen wurzelt in dem Prinzip der Polarität, das nicht zu verwechseln ist mit dem Begriff des Gegensatzes oder Konflikts. In den Sinnbildern anderer Kulturen kämpf das Licht mit der Finsternis, das Leben mit dem Tod, das Gute mit dem Bösen, und so konnte sich in weiten Teilen der Welt die Vorstellung verbreiten, dass das eine zu bejahen, das andere zu verneinen sei. Dem traditionellen chinesischen Denken wäre das so unverständlich wie ein elektrischer Strom ohne den positiven und negativen Pol, denn die Polarität ist das Prinzip, dass + und -, Nord und Süd, verschiedene Aspekte ein und desselben Systems sind und dass das Verschwinden des einen das Verschwinden des Systems bedeuten würde.“
Zulassen, Loslassen
Watts nennt ausdrücklich auch den „persischen Dualismus“ mit seinem klaren Gegensatz zwischen einem Reich des Lichts und einem Reich der Finsternis als Gegenmodell. In „persischer“ Tradition stehen viele Hauptströmungen der christlichen wie auch der islamischen Religion. Der chinesische Weg ist ein anderer:
„Die Lebenskunst wird also nicht darin gesehen, dass man das Yang festhält und das Yin ausschließt, sondern dass man beide ins Gleichgewicht bringt, weil das eine nicht ohne das andere existieren kann.“
In der praktischen Lebensphilosophie führt dies zu einer hinnehmenden Weisheit, die aus westlicher Perspektive vielleicht als „fatalistisch“ empfunden werden kann.
„Ein Grundzug der chinesischen Kultur, wenn es überhaupt einen gibt, ist ein Haltung ehrerbietigen Vertrauens gegenüber der Natur, auch der menschlichen Natur – trotz Kriegen, Revolutionen, Massenhinrichtungen, Hungersnöten, Überschwemmungen, Dürren und jeder Art von Schrecken.“
Diese Philosophie kann einerseits Toleranz, andererseits Flexibilität bedeuten, die in ihren extremen Ausformungen zu einer Haltung wehrlosen Hinnehmens führt. Der hasserfüllte „Kampf gegen …“ findet häufig nicht statt.
Ein „anarchistischer Klassiker“
Was die politischen Aspekte der chinesischen Philosophie betrifft, so finden wir das interessante Phänomen, dass Konfuzius oft mit einem autoritären Staatsverständnis in Verbindung gebracht wird, Lao Tse dagegen geradezu als philosophischer Anarchist gilt.
Der Taoismus favorisiert den unaufdringlichen Staat. Der Historiker Peter Marshall bezeichnete das Tao Te King als „einen der größten anarchistischen Klassiker“. Horst Stowasser schreibt in seinem Grundlagenwerk „Anarchie!“ über die Auffassung der Taoisten: „Je mehr der Mensch sich einmischt, je komplizierter er steuern will, desto schlimmer wird alles …“ Die taoistische Schule postuliere daher, „dass die beste Regierung diejenige sei, die am wenigsten regiere“. Durch die Verwendung eines Lao Tse-Zitats im 2. Flugblatt der Widerstandsbewegung „Die Weiße Rose“ nahm die Deutung des Taoismus in Deutschland sogar eine antifaschistische Wendung:
„Der, des‘ Verwaltung unauffällig ist, des‘ Volk ist froh. Der, des‘ Verwaltung aufdringlich
ist, des‘ Volk ist gebrochen.“
Ethische Aussagen im Taoismus zeigen teilweise Parallelen mit christlichen Vorstellungen:
„Ich bin gut zu denen, die gut sind, aber ich bin auch gut zu denen, die nicht gut sind, denn so vermehre ich die Güte.“
Das Leben des Weisen ist durch Einfachheit und Genügsamkeit gekennzeichnet. Das Richtige soll man nicht um des Erfolges, sondern um seiner selbst willen tun. Alan Watts schreibt dazu:
„Wer die Wertlosigkeit aller Dinge außer dem Tao erkannt hat, der kann nicht eine Ethik des Handelns um des Handelns oder des Erfolges willen lehren. (…) Der Mensch soll in der Welt stehen und wirken, aber so, dass er zugleich innerlich gleichsam ‚nicht von dieser Welt‘ ist.“
Und:
„Der vollkommene Mensch wünscht, nicht zu wünschen, und schätzt nicht schwer zu erlangende Güter.“
(Lao Tse)
Auf individueller wie gesellschaftlicher Ebene hat der Taoismus ein Ideal des Nicht-Eingreifens, des „Laissez-faire“ kultiviert. Verbunden damit ist auch ein Grundvertrauen in die menschliche wie auch die äußere Natur. Allgemeiner ausgedrückt: in das, was aus sich heraus geschehen will. Die Frage, ob hier ein Parallele oder nicht vielmehr ein Gegensatz zur Politik der kommunistischen Partei von Mao Zedong bis Xi Jinping liegt, muss man stellen. Ich erkenne in der chinesischen Führung jedenfalls einen starken Willen zur Kontrolle, zum eingreifenden Handeln.
Die gezähmte Natur
Näher verwandt scheint mir da die Philosophie des Hsün Tse (355-288 v. Chr.) zu sein, der behauptete.
„Darum bedarf es notwendig des Einflusses der Erziehung, des Weges von Sitte und Recht, damit Nachgiebigkeit und Freundlichkeit entstehen, dass die Ordnung befolgt wird und alles der Regel entspricht.“
In lyrischer Form schreib Hsün Tse:
„Du rühmst die Natur und grübelst über sie:
Warum nicht sie zähmen und regulieren?
Du gehorchst der Natur und singst ihr Lob:
Warum nicht ihren Lauf beherrschen und nützen?“
Hier habe ich nicht mehr das Bild vor Augen, das Alan Watts in „Der Lauf des Wassers“ beschwört: den nicht-regulierten Fluss. Eher die gewaltigen Werke der chinesischen Ingenieurskunst — etwa den Drei-Schluchten-Staudamm am Yangtse, ein Renommierprojekt menschlicher Naturbeherrschung.
Übertragen auf die menschliche Natur bedeutet dies: Gefühlsregungen werden eher angestaut, der Mensch hat bestimmten Nützlichkeitserwägungen im Interesse des großen Ganzen zu genügen. Manche werden sich durch diese Beschreibung an die Mentalität des Westens erinnert fühlen.
Ideale Untertanen
Während sich Lao Tse also eine „unaufdringliche“ Führung wünschte, die das gesellschaftliche Geschehen — ähnlich frei fließendem Wasser — eher sich selbst überlässt, erscheint Konfuzius der Obrigkeit freundlicher zugewandt. Der Weise, der um 500 vor Christus nur ungefähr eine Generation später lebte als Lao Tse, beschwor die Harmonie in der Gesellschaft, also auch jene zwischen Volk und Führung.
„Chinesisch“ — wie es auch in westlichen Deutungen immer wieder definiert wurde — ist demnach vor allem das Sich-Einfügen, das Sich-Zurücknehmen des Individuums zugunsten der Interessen der Allgemeinheit.
Es gibt ineinander verschachtelte Kollektive, mit welchen der Einzelne in Harmonie leben soll: die Familie, das Dorf, der Staat. Dabei ist wenig Raum für westlichen Extrem-Individualismus, der die Selbstbehauptung betont — das „Sich-nichts-gefallen-Lassen“.
Aus einer kritischen Haltung dem chinesischen Herrschaftssystem gegenüber hat Kai Strittmatter in seinem Buch „Die Neuerfindung der Diktatur“ die Wiederentdeckung des Konfuzius durch Staatspräsident Xi Jinping gedeutet. Im konfuzianischen Klassiker „Daxue“ (Das große Lernen) werde „nicht nur dem Herrscher die Pflicht zum volksnahen Handeln und tugendhaften Regieren auferlegt — es wird auch der Untertan fürs Funktionieren der Welt in die Pflicht genommen, jeder Einzelne ist am Ende verantwortlich für die Ordnung des Universums“. Die Verpflichtung zu angemessenem Handeln ist also eine wechselseitige.
„Harmonie“, wie sie den Herrschenden gefällt
Strittmatter, der acht Jahre lang Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in Beijing war, lässt gern zwischen den Zeilen durchblicken, dass ihm der westliche Liberalismus lieber ist als das für sein Gefühl sehr autoritäre chinesische System. „Die Idee, dass die Menschen durch Erziehung zu formen sind im Sinne der staatlichen Ordnung, die im Idealfalle die Ordnung des Himmels ist, ist bei den Konfuzianern eine alte“, schreibt er. „Die Konfuzianer lehrten auch dies: ‚Der Herrscher sei Herrscher, der Untertan sei Untertan‘.“ Dem Harmonieideal misstraut der Autor, wenn dieses von machtbewussten Menschen wie Xi Jinping vertreten wird.
„Und die Propaganda feierte das Ideal der ‚harmonischen Gesellschaft‘, womit sie natürlich vor allem die Harmonie zwischen Befehl und Gehorsam meinte.“
Selbst die Philosophie von Yin und Yang bekam in den Händen konfuzianischer Philosophen wie Tung Tschug-schu im frühen Mittelalter einen autoritär-patriarchalischen Dreh:
„Der Fürst ist Yang, und der Diener ist Yin. Der Vater ist Yang, und der Sohn ist Yin. Der Gatte ist Yang, und das Weib ist Yin.“
Autoritäre Kaiser und — in moderner Zeit — „große Vorsitzende“ repräsentieren insofern das ultimative Yang, dabei verfehlen sie das Prinzip des Ausgleichs zwischen den komplementären Energien.
„Chinesisch“ ist, was die Partei so definiert
Kai Strittmatter betrachtet den Konfuzianismus als den „Schlüssel, um die von der KP so gern behauptete ‚nationale Besonderheit‘ Chinas zu verstehen. Und die Partei selbst sei nichts anderes als die ‚Erbin und Verbreiterin der großen chinesischen Kultur.‘“ Xi Jinping besuchte als erster KP-Chef 2013, bald nach seinem Amtsantritt, Qufu, den Geburtsort des Konfuzius. In seiner Rede zu diesem Anlass erläuterte Xi, „weshalb die Politik seiner Partei die geradezu logische und unausweichliche Folge des Denkens des alten China sei: In der Ideologie und Kultur des heutigen China dürfe man nämlich nichts anderes sehen als ‚die Fortführung und Verfeinerung der traditionellen chinesischen Ideologie und Kultur‘“. So deutet es jedenfalls Kai Strittmatter. Das neu entfachte Interesse an Konfuzius unter Xi sei eine Kehrtwende, die einzig dem Verlangen entspringe, für das autoritäre Gesellschaftsverständnis der Ein-Parteien-Herrschaft philosophische Schützenhilfe zu bekommen.
Nicht immer habe man die Tradition derart gewürdigt. Unter Mao Zedong etwa sei auch die Erinnerung an den berühmtesten Philosophen des Landes der Kulturrevolution zum Opfer gefallen. Die Partei unter Mao, so Strittmatter, „rottete damals eine ganze Generation von Trägern der großen chinesischen Kultur buchstäblich aus: Künstler und Poeten verschwanden in Arbeitslagern, Professoren kratzten den Mist in Schweineställen aus, großbürgerliche Mäzene und Sammler wurden hingerichtet und Schriftsteller in den Selbstmord getrieben. Rotgardisten verbrannten derweil Bücher und zerschlugen Konfuziustempel“.
„Das Volk schwächen“
„Konfuzius-Institute“ schossen seit 2004 überall auf der Welt aus dem Boden und dienen der Förderung chinesischer Sprache und Kultur im Ausland. Kritiker bemängeln aber, dass diese im Gegensatz zu den deutschen „Goethe-Instituten“ Instrumente der chinesischen Staatspropaganda seien. Es mag sein, dass diese Perspektive einseitig ist. Kai Strittmatter arbeitet einen deutlichen Unterschied zwischen der originalen Lehre des Konfuzius und seinen modernen „Nachfolgern“ in der Partei-Hierarchie heraus:
„Der gute König bei den Konfuzianern ist kein Autokrat, der die Macht ohne Schranken verfolgt. Die gute Regierung bei Konfuzius mischt sich nicht viel ein, sie straft auch nicht. Minister und Gelehrte haben nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, dem Herrscher zu widersprechen, wenn dieser vom rechten Weg abkommt. An diesen Maßstäben gemessen ist Xis Herrschaft alles andere als konfuzianisch.“
Ein Vorläufer der derzeitigen Staatsphilosophie sei eher der Fürstenberater Shang Yang im 4. Jahrhundert vor Christus gewesen. Dieser habe, so Strittmatter, bereits ein System der Kollektivstrafen und gegenseitigen Überwachung im Volk installiert. „Wenn die Strafen schwer sind und die Schuld kollektiv trifft, dann wird das Volk nicht einmal den Versuch (einer Straftat) wagen“, heißt es in einer seiner Schriften. „Wagt aber das Volk nicht einmal den Versuch, dann bedarf es keiner Strafen.“ Strittmatter schlussfolgert: „Der neue Mensch, der die Kontrolle internalisiert hat, der Untertan, der sich selbst überwacht, er war schon damals der Traum des Autokraten.“ Shang Yang schrieb auch:
„Gut regierte Staaten setzen deshalb alles dran, das Volk zu schwächen. (…) Ein schwaches Volk hält sich an Gesetze, ein zügelloses wird übertrieben eigensinnig.“
„Nicht reif für die Demokratie“?
Nach Ansicht von Kai Strittmatter sollte der Westen sein Wertegerüst und die Perspektive, mit der er auf autoritäre asiatische Systeme schaut, nicht zugunsten eines falschen moralischen Relativismus aufgeben. Es sei keineswegs so, dass die derzeitigen Zustände in China organisch aus der Tradition des Landes hervorgingen und quasi alternativlos seien, dass sich somit jede Kritik und Einmischung von außen verbiete.
„Wer die Behauptung der KP nachplappert, wonach Chinas ‚nationale Besonderheiten‘ dringend nach genau der Diktatur verlangen, die sie dem Land gerade angedeihen lässt, der fällt herein auf einen von chinesischen Kommunisten ausgedachten Orientalismus. Die kulturrelativistischen Argumente, denen zufolge der Chinese nicht reif sei für die Demokratie und es ihn auch nicht im gleichen Maße nach Menschenrechten verlange wie uns, schmecken aus westlichem Munde oft nach Rassismus.“
Strittmatters Feldzug gegen Xi
Während der Corona-Zeit, als ich Strittmatters China-Buch las, empfand ich es als brillante, universell anwendbare Abrechnung mit jeder Art von Totalitarismus und Antiliberalismus. Weniger geeignet erscheint mir „Die Neuerfindung der Diktatur“ jedoch als Quelle für die chinesische Mentalität ganz allgemein.
Strittmatter interessiert traditionelle chinesische Kultur eigentlich nur unter dem Aspekt ihres möglichen Missbraucht-Werdens durch Xi Jinping.
Eine Instrumentalisierung gibt es zwar vermutlich, es wäre aber — von dort ausgehend — interessant, danach zu forschen, wo die Wurzeln dieser Kultur unabhängig vom Machtkalkül der Partei liegen. China hat sehr viel tiefsinnige Lebensphilosophie abseits der politischen Sphäre hervorgebracht. Wenn Philosophen das Thema doch einmal behandelten, zeigten sich mal autoritäre, mal antiautoritäre Tendenzen.
Bei Konfuzius darf man nicht übersehen, dass dieser die Pflichten des Herrschers ebenso betonte wie die des Untertanen. „Nicht das sollte einen bekümmern, dass man kein Amt hat, sondern das muss einen bekümmern, dass man dafür tauglich werde“, schrieb er. (Quelle: Störig) Überzeugend scheint seine ganz und gar lebenspraktische Ausrichtung: Wer den Staat ordnen wolle, solle zuerst sein Hauswesen ordnen. Wer sein Hauswesen vervollkommnen wolle, tue dies zuerst mit seiner eigenen Person. Dies beinhalte ein rechtschaffenes Herz, wahrhaftige Gedanken und ein umfangreiches Wissen. Zentral ist die Erkenntnis, „dass um Ordnung im Staate und Wohlfahrt der Gesamtheit herzustellen, jeder zunächst bei sich selbst, in seinem eigenen Innern, anfangen müsse“.
Gutes schaffen ohne Gewalt
Regierende sollen „nicht durch Gewalt, auch nicht durch viele Gesetze, sondern durch die ausstrahlende Kraft ihres Beispiels das Volk führen und sein Vertrauen, die wichtigste Grundlage des Staates, erhalten“. Das klingt wie eine Klatsche für Politiker vom Schlag eines Friedrich Merz — aufgeschrieben lange vor dessen Lebenszeit. Fast zu naiv wirkt dagegen Konfuzius‘ Vertrauen in den guten Willen des Herrschers, aus dem sich ein gutes Gedeihen des Gemeinwesens angeblich wie von selbst ergibt:
„Einem Fürsten, der ihn fragte, ob derjenige, der die Gesetze übertritt, getötet werden solle, antwortete Konfuzius: ‚Wenn Eure Hoheit die Regierung ausübt, was bedarf es dazu des Tötens. Wenn Eure Hoheit das Gute wünscht, so wird das Volk gut.’“
(Quelle: Störig)
Das Bild des Untertanen bei Konfuzius kommt dem Idealbild eines autoritären Regimes tatsächlich entgegen. Dem steht aber die Aufforderung des Philosophen an Herrscher gegenüber, ohne Gewalt, vielmehr durch Weisheit und Charisma zu führen. In dieser Hinsicht gibt es auch viele Übereinstimmungen zu Lao Tse. Die Gefahr, die Chinakritiker wie Kai Strittmatter sehen, ist nun, dass die chinesische Führung gern eine „angepasste“ Bevölkerung im Sinne des Konfuzius sehen würde, ohne sich zugleich als weise Landesväter im Sinne seiner Philosophie benehmen zu müssen.
Lieber glücklich sein als ein Held
Generell weisen die Grundlagen der chinesischen Philosophie durchaus auf eine „formierte“ Gesellschaft hin.
Das oft verwendete Natursymbol des fließenden Wassers kann in politischer Hinsicht auch so gedeutet werden, dass den Bürgern Chinas nahegelegt wird, „mit dem Strom“ zu schwimmen, sich quasi stromlinienförmig zu verhalten. Aus der Sicht eines heroisch-rebellischen Individualismus, wie ihn die westliche Geistesgeschichte hervorgebracht hat, mag dies befremdlich anmuten.
Andererseits liegt darin auch eine weise Prioritätensetzung: Konfuzius-Schüler sind vielleicht lieber glücklich und im Einklang als unglücklich im Widerstand. Wenn man auf die finsteren Minen westlicher Politik-Aktivisten schaut, kann man das ein bisschen verstehen.
Wir müssen und dürfen aus westlicher Sicht zwischen zwei extremen Sichtweisen abwägen, was durchaus „chinesisch“ gedacht wäre: im Sinne eines goldenen Mittelwegs. Das speziell Chinesische sollte vom Westen respektiert werden, blinde Flecken mit Blick auf eigene, westliche Verfehlung, wie sie bei Strittmatter manchmal zu beobachten sind, müssen wir uns nicht zu eigen machen. Andererseits sollte dies nicht so weit gehen, der Suggestion der Parteiführung zu verfallen, das „Wesen Chinas“ erfordere genau die gegenwärtige Erscheinungsform autoritärer Herrschaft.
Auch Regierungsformen sind schließlich im Fluss, und Übertreibungen in die eine Richtung wie Zentralismus und Autoritarismus könnten in einem natürlichen Yin-Yang-Ausgleichsprozess durch freiere Tendenzen ausbalanciert werden. Jedes Machtsystem — westlich wie östlich — muss sich der fundierten Kritik stellen. Das ist nicht immer bequem, aber:
„Wahre Worte sind nicht angenehm, angenehme Worte sind nicht wahr.“
(Lao Tse)
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Quellen und Anmerkungen:
Die deutschen Schreibweisen für chinesische Namen und Begriffe in diesem Artikel stammen aus verschiedenen Quellen und weichen vielleicht davon ab, was unsere Leserinnen und Leser gewohnt sind. Bei übersetzten Zitaten von Philosophen ist zu berücksichtigen, dass es wegen der ganz unterschiedlichen Charakteristika der deutschen und der chinesischen Sprache sehr schwer ist, eine „einzig wahre“ Bedeutung herauszufinden, speziell auch bei Lyrik und Aphorismen. Der Sinn kann immer nur annäherungsweise wiedergegeben werden.
Literaturtipps:
Alan Watts: Der Lauf des Wassers. Die Weisheit des Taoismus. Insel Taschenbuch. 214 Seiten, 8,- Euro
Hans Joachim Störig: Kleine Weltgeschichte der Philosophie, Fischer Taschenbuch, 880 Seiten, 26,- Euro
Kai Strittmatter: Die Neuerfindung der Diktatur. Wie China den digitalen Überwachungsstaat aufbaut und uns damit herausfordert. Piper Verlag. 330 Seiten, 12,- Euro



