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Mut zur Utopie

Mut zur Utopie

Auch unter den gegebenen, eher entmutigenden Umständen sollten wir unser Möglichstes tun, um das scheinbar Unmögliche zu erreichen.

Krisen könnte man als Evidenzen des Nicht-Möglichen verstehen. Sie sind die Zuspitzung dysfunktionaler Normalität. Deswegen eignen sie sich, die bestehenden Werte zu hinterfragen, zu sichten, ja, und vor allem die eigene Position zu klären.

Werte folgen schon immer dem ungeschriebenen Gesetz der Selbsterhaltung. In unsichtbarer Selbstverständlichkeit behaupten sie ihre Souveränität, und auch wenn jede Generation in ihrer jugendlichen Rebellion ihre Legitimität aufs Neue infrage stellt: Letztlich reihen sich die Meisten in den Chor der Tugendhaften, natürlich jeweils entsprechend ihrer Gesinnung. Tugendhaftigkeit ist aber genau das, was durch die Krise einer Prüfung unterzogen wird, denn kommt diese Eigenschaft nicht aus dem Menschen selbst und ist daher nicht authentisch, beginnt der Kampf um das „Recht“. Dann stehen sich die Menschen unterschiedlicher Positionen feindlich gegenüber und werfen dem Anderen jeweils den vermeintlichen Mangel an Tugend vor.

Solidarität, Aufgeklärtheit, Gutmenschentum, Lobbyismus, Gesundheitstotalitarismus, Wirtschaftsimperialismus, Mediendiktatur, Regime, Technokratie oder Antihumanismus sind zu Begriffen geworden, die zum rhetorischen Arsenal der einzelnen Lager gehören und gleichzeitig als Indikatoren gelten, wie weit man sich in den abstrakten Raum der Werteformung hinaus begeben hat. Noch vor drei Jahren hätten diese Begriffe bei nur wenigen Menschen wirklich aufgeladene Assoziationen ausgelöst.

Grundlagen von Utopien

Unsichtbar geworden ist inzwischen auch, dass der Wert des Funktionierens einer Gesellschaft über dem ihres Glücks steht. Wieso eigentlich? War die ursprüngliche Utopie der freien Marktwirtschaft nicht Wohlstand für alle? Wozu Wohlstand wenn nicht für das Glück? Oder haben wir es gefunden und halten nur den Status quo?

Das zeigt, dass hinter jeder Utopie ein Wert steht, der als Motiv nie aus den Augen verloren werden darf. Ich frage mich, welcher Utopie wir kollektiv gerade folgen. Ist es nur noch der bange Versuch, das Auseinanderbrechen der Welt zu verhindern und das Vertraute zu bewahren? Hat unsere Utopie dem reinen Überlebensmodus Platz gemacht? Ist sie das verzweifelte Jonglieren mit den explosiven Produkten unseres unsichtbar gewordenen Wahnsinns?

Utopien müssen zukunftsfähig sein. Zukunftsfähigkeit beinhaltet immer Nachhaltigkeit, und Nachhaltigkeit ist nichts anderes als die dauerhafte Kompatibilität mit natürlich gegebenen Ordnungen.

Auch Elon Musk oder Klaus Schwab sind Utopisten. Ihre Utopien sind auf einer gewissen Ebene nachvollziehbar. Andererseits sind diese ganz offensichtlich nicht mit den natürlichen Ordnungen zu vereinbaren; im Gegenteil, sie wollen diese Ordnungen überschreiten und ersetzen.

Es sind Utopien der Sorte, die noch nie erfolgreich waren, und daher keine echten Utopien, sondern zeugen von Größenwahn, wie er sich in der Geschichte immer wieder fand.

Das bringt uns zu einem weiteren Aspekt des utopischen Gedankens: Lässt er neben der Nachhaltigkeit auch die Moral außer Acht, muss die Utopie destruktive Elemente in sich tragen. Unsere derzeit auslaufende Wohlstandsutopie hat uns das in aller Klarheit gezeigt. Sie existiert auf dem Rücken der sogenannten Dritten Welt, dem unfassbaren Leid unserer tierischen Mitgeschöpfe und der inzwischen namenlosen Ausbeutung und Verschmutzung des Planeten. Insofern verkörpert jeder Mensch in den westlichen Industriegesellschaften eine gewisse zynische Doppelmoral, will er doch auf seine persönliche Wohlstandsutopie nicht verzichten, egal wie umweltbewusst und moralisch er sein Leben zu führen glaubt.

Genauso wenig funktionieren die rückwärts gewandten Utopien, die sogenannten Retropien. Ein reines „Zurück zur Natur“ oder eine Idealisierung indigener Kulturpraktiken sind verklärte Nostalgie und ignorieren unsere eigene Entwicklung bis hierher. Eben die gilt es gerade zu integrieren und nicht pauschal zu attackieren. Wir sollten einsehen, dass wir einen Punkt erreicht haben, an dem wir den Lauf unserer Evolution zum großen Teil selbst in der Hand haben.

Utopie braucht also eine Basis, die moralisch und nachhaltig ist. Eine solche Utopie kann sich nicht ausschließlich an den Visionen innovativer Geister orientieren. Die Egozentrik solcher Menschen korrumpiert jede ihrer Utopien unweigerlich. Das wusste schon der Autor der Geschichte „Utopia“, Sir Thomas More, im Jahre 1516. Und so wird noch etwas klar: Echte Veränderung, echte Utopie muss immer aus einen WIR kommen. Ist das Wir-Gefühl allerdings zersplittert, können Egozentriker ihre Lösungen aus dem Hut zaubern und mit Glamour als erstrebenswerte Utopie präsentieren.

Trübe Aussichten

An dieser Stelle taucht ein Umstand auf, an dem jeder utopische Gedanke zerschmettert werden könnte. Jede Wandlung kann nämlich nur im Rahmen der vorherrschenden Bewusstseinsverfassung geschehen. Um festzustellen, welche das ist und auf welchem Niveau sie sich befindet, genügt eine kurze quantitative Auswertung des Nutzerverhaltens von YouTube oder ein Blick auf die „Unterhaltungs“-Angebote der meistgenutzten Sender. Das kann die gute Hoffnung schon strapazieren. Der Großteil der Menschen scheint entweder nicht sensibel genug, die Brisanz aktueller Krisen zu erfassen oder gar nicht daran interessiert.

Wenn aus unserem Bewusstsein nicht Bewusstheit wird, bleiben wir ewige Konsumenten, Anhänger oder Bewunderer. Bewusstheit referiert nicht mehr ausschließlich auf die Umwelt als ursächliches Prinzip, sondern es ist selbst die Antwort, die es sein will.

Wer nicht bewusst träumt, verfällt in die Gewohnheit. So basiert ein großer Teil dessen, was wir unter unserer Kultur verstehen, auf Gewohnheit. Alternativlosigkeit ist meistens nur Fantasielosigkeit oder fehlende Courage. Ich glaube, es war 2008, als ich nach begeisterter Lektüre des „Transition-Town“- Projektes von Rob Hopkins (1) bemüht war, diese Idee dem Bürgermeister unserer kleinen Gemeinde näher zu bringen. Doch die Zeit dafür war noch nicht reif und die Vision musste eine Utopie bleiben. Andererseits zeigen uns Vordenker wie Hopkins mögliche Wege auf, die heute beschritten werden könnten.

Die Besonderheiten der Grammatik der Muttersprache fallen einem für gewöhnlich erst auf, wenn man eine neue Sprache lernt. Bis dahin bleiben sie unsichtbar. Die Grammatik unserer „westlichen Wertewelt“ wird gerade sichtbar, denn die derzeitige Multi-Krise zwingt uns zu einer neuen Sprache: zu einem neuen Umgang mit den zentralen Fragen, mit Angst, mit innerem Frieden, mit Gerechtigkeit und Gleichheit. Sie deckt auch auf, was nicht echt ist. Gier, Geltungsbedürfnis, Fleiß, Optimierungsdenken und Angepasstheit sind zu oft Kompensationsversuche mangelnder Selbstliebe — wie der größte Teil unserer Identität. Und wie sollen wir uns auch lieben, wenn wir nur gelernt haben, uns zu akzeptieren?

Neuer Mut zu alten Träumen

Wir können uns trauen, die Welt als „Laboratorium des Heils“ zu betrachten, wie Ernst Bloch es vorgeschlagen hat. Er prägte den Begriff der „konkreten Utopie“, was bedeutet, dass die Bedingungen zur Realisierung von Utopien geschaffen werden müssen. Das ist nur möglich, wenn die Gesellschaft nicht in Angst gelähmt oder in pseudo-moralischer Verpflichtungshaltung fixiert ist, und vor allem darf sie nicht gespalten sein. Es muss der gemeinsame Kern sichtbar bleiben: der Wunsch und die Notwendigkeit einer gerechten und glücklichen Welt. Denn auch das ist das Utopische: das Uneingelöste, das mögliche „Noch-Nicht“.

Und so dürfen wir differenziert träumen: Wie könnte Technologie ohne Ausbeutung aussehen? Wie Entwicklung ohne Gewinnoptimierung und Verdrängungsmärkte? Wie eine kulturelle Vielfalt ohne politisch-nationale Begrenzung? Wie eine Tätigkeit, die mehr ist als Broterwerb, die aus der Fülle des Einzelnen kommt? Und eine Gesellschaft, die deshalb keine Konkurrenz mehr braucht? Wie würden Begegnungen aussehen, wenn wir im Anderen seine vielen Möglichkeiten, seine Gabe, suchen und erkennen würden? Wie kann Erziehung ohne Anpassungsdruck und Gleichschaltung aussehen? Wie sexuelle Erfüllung ohne geheime Fantasien?

Meine Frau und ich haben zu Silvester immer eine Karte gestaltet, auf der wir unsere Wünsche und Ziele für das kommende Jahr festgehalten haben. Die hing dann das ganze Jahr über am Küchenbuffet und war uns ständig präsent. Neben gegenständlichen Wünschen stand dann dort auch mal „Erlebnistiefe“, „Dankbarkeit“, „Gewahrsein“, „Führung“ „tiefe Begegnungen“. Seit zwei Jahren haben wir keine Karte mehr entworfen. Vielleicht haben uns die Ereignisse in dieser Zeit etwas den Mut zur Utopie genommen. Auch das muss erkannt werden.

Die Utopie, der “Anders-Ort“, liegt traditionell in der Zukunft. Der tatsächliche Raum der Utopie ist in Wirklichkeit hier und jetzt bei mir. Hier beginnt die Gestaltung der Zukunft, deren Keimzelle jeder von uns ist.



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Quellen und Anmerkungen:

(1) Rob Hopkins beschreibt in seiner Arbeit die sukzessive Umwandlung moderner Städtelandschaften zu selbstversorgenden Gemeinschaften. „The Transition Handbook: From Oil Dependency to Local Resilience“, 2008


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