Libyen steht unter Schock, seitdem im Internet ein brutales Foltervideo viral ging, das den in Unterwäsche am Boden sitzenden und in schwere Ketten gelegten libyschen Parlamentsabgeordneten Ibrahim Abu Bakr Abdul Rahman ad-Darsi wenige Tage nach seiner Entführung im Mai 2024 zeigt. Der geschundene Ibrahim ad-Darsi ergeht sich dabei, offensichtlich gezwungenermaßen, in Lobpreisungen des Militärführers im östlichen Libyen, Khalifa Haftar, und dessen Sohn, Saddam Haftar.
Das Geheimgefängnis, in dem ad-Darsi unter erniedrigenden Bedingungen gefoltert wurde, wird von der Miliz Tariq bin Ziyad betrieben, die in direkter Verbindung zu Haftars Streitkräften steht.
Ad-Darsi war tatsächlich einst ein überzeugter Anhänger der von Khalifa Haftar angeführten Bewegung Operation Würde, die resolut gegen al-Kaida und andere extremistische Gruppierungen des politischen Islam vorging. Vor seiner Entführung hatte sich ad-Darsi allerdings entschieden gegen Korruption gestellt, wodurch sich Haftar und seine Söhne persönlich angegriffen und ihre Interessen infrage gestellt sahen.
Das Foltervideo weckte auch Erinnerungen an ad-Darsis Parlamentskollegen Siham Sergiwa, der 2019 unter mysteriösen Umständen entführt und anschließend ermordet wurde, wozu die Weltöffentlichkeit schwieg. Viele fragen sich heute: Wenn dies das Schicksal eines prominenten Unterstützers des Haftar-Lagers ist, was erwartet dann echte Oppositionsstimmen gegen die Militärherrschaft des Haftar-Clans in Bengasi?
Die Tage des Haftar-Clans scheinen gezählt
Zeitgleich zur Veröffentlichung des Videos erfolgte die Veröffentlichung der Folterfotos auf der französischen Website Africa Asia. Es ist sicher kein Zufall, dass gerade zu dem Zeitpunkt, als es verstärkte nationale und internationale Bemühungen zur Bildung einer neuen Regierung und insbesondere zur Vereinheitlichung der militärischen Führung des östlichen und des westlichen Libyens gibt, diese Aufnahmen in der Öffentlichkeit auftauchen.
Bemerkenswert ist, dass Saddam Haftar, der im Abspann des Foltervideos neben anderen explizit als Täter beschuldigt wird, nur einen Tag nach Veröffentlichung des Videos nach Katar flog. Dieser Besuch wird weithin als verzweifelter Versuch gewertet, internationale Vermittlungskanäle zu öffnen, um die Folgen des Skandals einzudämmen. Die libysche Öffentlichkeit fordert mit Nachdruck eine transparente internationale Untersuchung des Falls und die sofortige Entfernung der Haftar-Söhne aus ihren Machtpositionen.
Was mit ad-Darsi geschehen ist, deckt den brutalen Charakter der Machthaber in Bengasi auf, ebenso wie die gerade erfolgte Verhaftung von vier jungen Männern des Darsa-Stammes, die in einem Video auftraten, in dem der Darsa-Stamm aufgefordert wurde, an einer einberaumten Sitzung zum Thema Foltervideo teilzunehmen.
Die „internationale Gemeinschaft“ und ihre Verantwortung
Doch wo bleibt angesichts dieser Verbrechen gegen die Menschlichkeit die Verantwortung der „internationalen Gemeinschaft“, die es mit ihrem NATO-Krieg gegen Libyen 2011 erst ermöglichte, dass diese verbrecherischen Personenkreise in Libyen Machtpositionen besetzen? Die Verantwortung für ein Libyen, in dem heute freie Meinungsäußerung ein Verbrechen darstellt und Kritik ein Todesurteil zur Folge hat.
Schweigen kann hier schon lange keine Option mehr sein.
Auch wenn nun die UN-Mission die Folterung von Ibrahim ad-Darsi sowie die von den Strafverfolgungs- und Sicherheitskräften in den Haftanstalten in Bengasi, Tripolis, Sebha und an anderen Orten in Libyen begangenen Verstöße verurteilt und eine unabhängige Untersuchung aller mutmaßlichen Menschenrechtsverletzungen in libyschen Haftanstalten fordert, muss sie sich die Frage gefallen lassen: Warum erst jetzt? Warum wurden bisher Regierungen unterstützt, die zu diesen Verbrechen schweigen oder sie sogar begehen?
Es geht nicht nur um ad-Darsi, sondern auch um die Aufklärung des Verbleibs der Vielen, die in libyschen Geheimgefängnissen außerhalb der Reichweite von Recht und Justiz verschwunden sind.
Wo sind sie? Und wo ist Ibrahim ad-Darsi?

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