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Nur den Müll rausgebracht

Nur den Müll rausgebracht

Philine Conrad und Dieter Brandecker verarbeiten den „Geist“ von Corona in einem durchkomponierten Hörspiel.

Wir haben die Corona-Zeit erlebt. Und wir haben über sie in unzähligen Dokumentationen, Berichten und Analysen gelesen, haben Diskussionen und Interviews gehört. Auf vielen Kanälen. Um den Kern der Sache ging und geht es dabei hin und wieder, insgesamt aber doch zu selten. Im ersten Augenblick habe ich auch das Hörspiel, vielleicht besser: das Hörfeature „Geistige Gefangenschaft“ in diesem Sinne aufgenommen: Szenen aus einem Corona-Alltag, Szenen, die ich kenne. Richtig, wichtig, aber eben: schon gehört.

Nach fünf, nach zehn, spätestens nach zwanzig Minuten aber — die Stimmen erzeugen eine Art Hypnose und halten mich bei der Sache, mehr noch: lassen ein Abirren nicht zu — der Gedanke: Habe ich die Corona-Zeit wirklich erlebt? Ganz erlebt? In all ihren Dimensionen, ihren Einstrahlungen in den Alltag, in menschliche Gesten? Einstrahlungen ins menschliche Sein? Und mehr noch: Ist es denn wirklich vorbei oder habe ich — selbst ich, bin ich versucht zu sagen — zu einer Art Glättung Zuflucht genommen?

Es gibt ein Stehenbleiben bei Corona, ein Stehenbleiben auf halbem Wege. Boris Reitschuster ist ein Paradebeispiel, aber längst nicht der Einzige. Und dieses Stehenbleiben hat schon während Corona — falls diese historische Redeweise taugt — nicht begriffen, was der Fall ist.

Konnte auch nicht erkennen, dass die Maschinerie — nun auf Blaugelb geschaltet — nahtlos weiterläuft, etwas näher noch am Supergau, wie mir scheint. Und es gibt dagegen ein Verfahren, ein Verstehen, ein Begreifen, Erfühlen, kurz: eine Arbeit, die auslotet, in die Tiefe geht und die Dimension aufzeigt. Die Dimension des Faschismus.

Philine Conrads Hörstück verfährt so. Es ist eine Verdichtung, die zu erkennen ein paar Minuten erfordert. Verdichtet sind Szenen. Variationen über den Corona-Alltag und seine Verankerung im Menschen. Das Wort Faschismus taucht nicht auf. Es tauchen generell keine Ismen auf. Es wird montiert.

Radio-Features, die besten in den 80ern, verwoben Stimmen, Geräusche, Klänge und Pausen zu einem akustischen Teppich, der mich gleichermaßen analysieren und delirieren ließ. Nicht selten schlummerte ich weg, um erkenntnisbeladen plötzlich aufzuwachen. Auch großes Kino — Nachmittagsvorstellung, fast allein im Saal, von Stimmen gefangen, Hiroshima mon amour zum Beispiel, L‘année dernière à Marienbad — ließ mich allein ob der betörenden Sinnlichkeit der Stimmen einschlafen.

Auch Conrads Hörspiel, das mich an das Genre des Features erinnert, hat schon der Stimmen wegen eine sinnliche, eine betörende Qualität. Aber es führt nicht zum Schlaf, zum Wegdämmern, es hält wach, genauer: es macht immer noch wacher, und dafür sorgen ebenso die Stimmen, vier an der Zahl, die mit ihrer Klarheit, Präzision und Sorgsamkeit — unabhängig davon, welche Sicht sie kolportieren — gänzlich fremd und befreiend in die Verheerungen der Moderationsstimmen und der deutschen Synchronsprechlandschaften einbrechen. Diese vier Stimmen fassen keine Argumente in Sprache, keine Erkenntnis, keine analytische Position. Vielmehr sprechen sie — kammermusikalisch arrangiert — Sätze, die uns „Corona“ aufgezwungen hat, Schutzsätze, Sicherheitssätze, Vernichtungssätze, ebenso wie Versuche, dagegen anzukommen. Und zwar anhand von gleichermaßen „realistischen“ wie exemplarischen Szenen.

Warum tragen Sie keine Bandage? (Szene in einem Café)

Was ist verboten?
Körperkontakt. Es gibt neue Regeln.
Wie oft hast du dir die Hände gewaschen?
Schon siebenmal.
Dann wasch sie nochmal.
Beklagst du dich, dass wir uns Sorgen machen um dich?
Ich habe nur den Müll rausgebracht.
Ja, während der Ausgangssperre.

Die Sätze, durch ihre Repetition zum Ritual geworden, sind bei Conrad zu Mikrokosmen des allmählich alles durchströmenden Zwangs gefügt. Und in der überwiegend gegebenen Höflichkeit, mit der die Schablonen bedient werden — und das ist eine Erkenntnis, die so nur Kunst erfahrbar machen kann — kommt die Brutalität erst zu sich. Die Technologie schreitet voran. Laut wird es auch in der „geistigen Gefangenschaft“ nur selten. Es sind Stimmen von Dienstleistungsketten, welche die Botschaft von oben sprechen. Und auch das Verzweifeln daran ist in Conrads Hörspiel verdichtet. Und diese Verdichtung des Verzweifelns beim Versuch, gegen diese Dienstleistungssätze anzusprechen, ist es, was dieses Hörspiel zur Kenntnis bringt. Psychologisch, politisch, gesellschaftlich und auf den Menschen bezogen. Auf mich selbst. Ich höre mich selber sprechen.

Das produktions- und dienstleistungskettenmäßige Dumpfgewordensein, das Leblose, zur Vernunft Erhobene, das sich im Nachsprechen von Herrschafts- und Systemsätzen mit pinken und blauen Haaren den Werg bannt, das wird stimmlich-plastisch vor Ohren geführt. Ein Begreifen über das Verstehen hinaus setzt ein, ein Entsetzen mit ihm.

Und nichts ist gewesen.
Alles ist zurück, das alte Leben ist zurück.
Man kann wieder teilnehmen, vergessen, verdrängen.
Alles ist vergessen.
Man blinzelt in die Sonne und denkt an Venedig.

Philine Conrad und Dieter Brandecker reflektieren in ihrem Hörspiel auch den Kunstbetrieb als solchen, indirekt, unauffällig, reflektieren die Bedingungen einer Kunst, die gegen die Schablonen angeht. Und sie erzeugen dabei eine eigenständige Ästhetik. „Geistige Gefangenschaft“ ist nicht einfach ein Dokument des Zwangs, es ist eine Komposition mit Musik und Geräuschen. Das hält die Reflexion nah am Erleben und verhindert eine glättende Abstraktion, als was sich reines Wissen oft erweist. Eine solche ästhetische Qualität — das Hörspiel ist „schön“ — ist Ausdruck einer eigenständigen Autorenschaft. Und eine solche Autorenschaft beziehungsweise Eigenständigkeit gilt es angesichts des Durchgriffs von oben, wie die szenischen Miniaturen im Hörspiel zeigen, neu zu erfinden.

Ich frage mich, wen meinen die? Mich meinen sie nicht.
Sie spielen mein Stück nicht, singen nicht mein Lied.
Sie denken, es gibt nur einen Weg.
Wohin kann der Geist flüchten, wenn man weiß, er kann nicht mit.

Ich stehe vor drei jungen Frauen.
Gesund waren sie früher.
Schweigen sie. Sonst wird man sie foltern, sogar töten.
Was am lautesten über die Gänge der Spitäler gerufen wird: Stille

Das Mädchen, fünfzehn Jahre, zittert am ganzen Körper. Man hat es nach Haus geschickt und gesagt, es muss etwas anderes sein. Vielleicht bekommt sie ihre Periode. Die bekam sie dann auch, siebzehn Tage lang ohne Unterbrechung.


„Geistige Gefangenschaft. Szenen zur aktuellen Zeit.“ Ein Hörspiel von Philine Conrad und Dieter Brandecker. Mit Cathleen Baumann, Miguel Abrantes Ostrowski, Philipp Schepmann und Inga Stück. Regie Philine Conrad, Musik Tobias Morgenstern. Hier zu beziehen. Auf der Website von Philine Conrad sind zusätzliche Angaben erhältlich.


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