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Propaganda plus Überwachung

Propaganda plus Überwachung

Der Digitalkonzernstaat lässt die gedruckte Zeitung sterben und mit ihr die Anonymität des Lesers sowie die Möglichkeit, sich überraschen zu lassen.

Modellregion also. Da werden sich die Menschen in Greiz freuen. Modellregion. Wer will nicht dort leben, wo die Zukunft schon Gegenwart ist? Greiz liegt in Thüringen, an der Grenze zu Sachsen, ziemlich weit weg von allen urbanen Zentren. Wikipedia lobt Talkessel und Fluss und macht aus dem Städtchen eine „Perle des Vogtlandes“. Der Funke Mediengruppe ist das egal. Sie bringt ab Mai in Greiz einfach keine Zeitungen mehr ins Haus — auch nicht zu denen, die ein Abo haben.

Aus Kostengründen“, schreibt die Ostthüringer Zeitung und spendet den 300 Betroffenen Trost. Ihr spart Geld. 29,99 Euro für das E-Paper und nicht 45,90 Euro wie bisher. Wir schulen euch vor Ort, kostenlos. Die Wissenschaft sagt außerdem, dass gerade die Älteren so ein Bildschirmblatt lieben. Man ist immer up to date und kann sich die Zeitung sogar vorlesen lassen. Also, was wollt ihr?

Funke hilft, „den Thüringer Landkreis zu einer Modellregion für die Digitalisierung des ländlichen Raums zu machen“.

Wenn erst die gedruckte Zeitung weg ist, so lässt sich das zusammenfassen, verschwinden auch Läden, Apotheken und vielleicht sogar der Bus. Online ist sowieso alles schöner.

Für die Verlage stimmt dieser Satz ohne Abstriche. Die Werbekunden gehen da hin, wo man messen kann, ob sich eine Anzeige lohnt. Klickzahlen, Verkäufe. Früher wusste man nie, ob das Ding wirklich gelesen wird oder nur auf dem Klo landet. Heute? Daten in Hülle und Fülle, aber nur digital. Papier wird außerdem teurer — genauso wie der Mensch, der die Zeitungen Tag für Tag in aller Herrgottsfrühe verteilt. Der Mindestlohn. Und die Wege, die länger werden, wenn Leser sterben oder einfach keine Lust mehr haben, immer wieder vergeblich nach etwas zu suchen, das anders klingt als die Stimme der Macht. Nicht einmal 60.000 Exemplare druckt der Verlag der Ostthüringer Zeitung heute noch, ein knappes Drittel von dem, was für die späten 1990er in den Büchern steht. In den letzten Jahren der DDR kam der Vorgänger Volkswacht in der gleichen Region auf eine Auflage von weit über 200.000 Exemplaren. Auch Greiz, die „Perle des Vogtlandes“, war damals eine Zeitungsstadt. Kaum ein Haushalt ohne Abo. Viele hatten sogar zwei oder drei Blätter im Kasten.

Greiz könnte bald überall sein. Modellregion, sagt Funke. Ein „Weckruf“, sagt der Verlegerverband und meint damit sowohl die eigenen Mitglieder als auch die Politik. Weg vom Papier: Davon träumen im Moment alle, die ihr Geld mit tagesaktuellen Informationen verdienen. Manche sprechen das auch aus. Bei Axel Springer, sagt Konzernchef Mathias Döpfner, werde es über kurz oder lang keine gedruckte Zeitung mehr geben. Bild und Welt höchstens noch als „Sondereditionen“. Am liebsten, sagte mir neulich ein Absolvent, der seit vielen Jahren als Lokaljournalist im Süden des Landes arbeitet, am liebsten würde sein Verlag jedem Abonnenten ein Tablet schenken. Zweitliebste Idee: eine Sammelstelle in jedem Stadt- oder Ortszentrum, wo sich die Leute die Zeitung selbst abholen. Immer noch Papier, okay, aber wenigstens so gut wie keine Zusteller mehr.

Ich komme gleich zu diesem Absolventen zurück und zu dem, was der digitale Verlegertraum aus seinem Alltag machen würde und schon jetzt oft macht, muss aber vorher kurz nach Berlin schauen, wo die Ampel eigentlich das Subventionstabu brechen und die Branche mit Steuergeldern noch stärker an sich binden wollte. Der Koalitionsvertrag vom 7. Dezember 2021 sagt: „Wir wollen die flächendeckende Versorgung mit periodischen Presseerzeugnissen gewährleisten und prüfen, welche Fördermöglichkeiten dazu geeignet sind.“ Auf Deutsch: Wir bezahlen euch, liebe Verleger, wenn ihr unsere Botschaften weiter in jedes Haus tragt, sogar in diesen Talkessel am Rande Thüringens.

Fast anderthalb Jahre später: Pustekuchen. Anders gesagt: Die Prüfung läuft offenbar noch. Oder die Töpfe sind leer. Oder die Regierung ahnt, dass es besser ist, die Illusion noch ein wenig weiterleben zu lassen. Die Presse ist unabhängig und deshalb neutral und objektiv. Das glaubt zwar selbst im Vogtland niemand mehr, aber noch ist jeder wahlweise rechts oder Verschwörungstheoretiker, der Politik und Medien unter einer Decke sieht. Wes Brot ich ess, des Lied ich sing: Der Volksmund würde sich Staatsgelder für die Millionärsfamilien in den Zeitungsverlagen auch dann schmecken lassen, wenn die Propaganda den armen Zusteller als Nutznießer feiert.

Für die Lobbyisten der Branche ist dieser eine Satz im Koalitionsvertrag viel zu wenig gewesen. Sie waren schon weiter, ganz nah dran an den richtig großen Fleischtöpfen. Im Sommer 2020 — wir erinnern uns, was in den Wochen vorher war und welchen Anteil die Presse daran hatte — tauchten „von heute auf morgen“ und ohne große Debatte 220 Millionen Euro im Nachtragshaushalt des Bundes auf, auszugeben für die „digitale Transformation“ von Printverlagen. Als eine Onlineplattform Wettbewerbsverzerrung rief und mit Gericht drohte, zog die Regierung zwar das Deckmäntelchen weg und wollte den Etat schnell noch „Corona-Soforthilfe“ taufen, aber das Geld lag im Brunnen und war nicht mehr zu retten. Verfassungsrechtliche Bedenken. Die Verlegerverbände reagierten damals „geschockt“, sprachen von einer „mittleren Katastrophe“ und kündigten so durch die Blume an, keine Ruhe zu geben (1). Wohlverhalten soll sich schließlich bezahlt machen.

Steuermittel für die Zustellung: Darauf läuft der Koalitionsvertrag von Ende 2021 hinaus. Ein knappes Jahr vorher dachte man größer. Ein Gutachten, das die Bundestagsfraktion der Grünen bei meinen Kollegen in Mainz in Auftrag gegeben hatte, sagte Anfang 2021: Gerade im Lokalen ist Medienförderung vollkommen legitim. Man müsste die Verteilung der Gelder irgendwie staatsfern organisieren, das schon, aber prinzipiell? Keine Einwände, liebe Politiker, weder verfassungsrechtlich noch kommunikationswissenschaftlich. Am besten, ihr investiert in die Redaktionen. Personal, das Inhalte produziert. Von Zustellern war da noch keine Rede.

Der Fall Greiz lässt sich vor diesem Hintergrund doppelt lesen. Zum einen erinnert Funke die Ampel an den Deal beim Mindestlohn. Wir haben stillgehalten, als ihr von 9,60 auf 12 Euro gesprungen seid. Vergesst unseren Zahltag nicht. Zum anderen testet die Ostthüringer Zeitung, was die Papierleser mit sich machen lassen. Die Regionalpresse will das digitale Abo — um fast jeden Preis. Lange vorbei die Zeit, in der man online kostenlos lesen konnte, was die Ostsee-Zeitung über Rostock und Rügen oder die Rheinpfalz über Ludwigshafen schreibt. Die Verlage wissen, was die Leute zum Bezahlen bringt. Texte über Immobilien, sagt mein Absolvent. Oder irgendwelche Skandale und Geschichtchen, die er exklusiv hat. Die Zahlen steigen zwar, aber die Abos sind im Moment spottbillig und oft an Printprodukte gekoppelt, zum Beispiel an die Wochenendausgabe. Ein bis zwei Prozent: Mehr Onlineumsatz ist die Ausnahme. Ratgeber träumen deshalb von einem „Spotify für Journalismus“, malen den Teufel Nachrichtenwüste an die Wand — oder drücken Funke in Greiz die Daumen.

Ich gebe zu: Es ist auch ein wenig nostalgisch, wenn ich hier die gedruckte Zeitung verteidige. Ich habe schon mit sieben Artikel ausgeschnitten und aufgeklebt und erinnere mich mit Schrecken an die Kindheitstage, in denen alle drei Blätter im Elternhaus mit SED-Zeug voll waren. Kein Sport und manchmal nicht mal die Rubrik „Was sonst noch passierte“ im Neuen Deutschland — irgendeine Schote aus der weiten Welt, die selbst einen Jungen wie mich nach dem Zentralorgan der führenden Partei greifen ließ. Die Zeitungen brachten mir Geld, wenn ich sie zum Altstoffhändler trug, und ließen sich auch sonst immer für irgendwas verwerten.

Das ist hier natürlich nicht der Punkt.

Papier steht für Dauer. Ich kann noch heute, 50 Jahre später, in meiner Ausschnittsammlung von damals blättern. Digitales lässt sich ändern oder löschen. Die gedruckte Zeitung überlebt — und sei es auf einem Dachboden.

Papier garantiert außerdem Anonymität. Der Verlag weiß bestenfalls, dass ein Blatt an Familie Meyen geht. Wer sich dort für was interessiert, ob Texte weitergegeben werden oder vielleicht sogar niemand etwas liest — all das ist selbst für die besten Marktforscher ein Rätsel. Papier hat damit lange auch einen bunten Strauß an Themen garantiert und damit immer auch etwas, womit der Leser nicht rechnet. Den Redaktionen war zwar klar, dass die meisten irgendeinen Bezug zu ihrem Leben wollen — Bauvorhaben, Schicksalsschläge und Unfälle vor Ort, Todesanzeigen und Sonderangebote. Aber wie gering das Interesse am Leitartikel des Chefs ist oder gar an der Opernrezension und der Romanvorschau, hat man dort erst wahrhaben wollen, als die Digitalmaschine unerbittlich die entsprechenden Daten ausspuckte.

Das Onlinepublikum bestimmt schon heute, was morgen gedruckt wird. Mein Absolvent, der Lokaljournalist, sagt, dass er ganz genau weiß, was seine Digitalabonnenten wollen, und dass er das einfach auf alle anderen hochrechnen muss, obwohl das immer noch viel mehr und vor allem andere Menschen sind — oft Ältere, Arbeiter, Landbewohner, die nicht so lesen wie Akademiker in der Stadt. Anders als auf dem Frühstückstisch ist die Konkurrenz im Netz außerdem nur einen Klick entfernt — hier vor allem eine Seite des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, der seine Onlinepräsenz auch in der Region ausbaut und die lokale Zeitungsredaktion so zum Häppchenjournalismus zwingt. Alles schnell raus, bevor es die anderen bringen. Er würde gern länger an einem Thema dranbleiben, sagt mein Absolvent, und auch mal eine ganze Seite füllen, um allen gerecht zu werden. Die Chefs wollen aber Zahlen sehen, neue Digitalabos vor allem.

Wir wissen inzwischen, was die Plattformen aus den Zeitungen machen. Sie lassen das Leben und die Probleme von denen verschwinden, die keine Zeit und vielleicht auch keine Lust haben, permanent online zu sein, und so nicht dazu kommen, ihre Interessen in der Spirale der Aufmerksamkeit zu füttern (2). Sie verjagen den Reporter, der rausgeht aus dem Büro, sich überraschen lässt und dann sein Publikum mitnimmt, und installieren dafür Götter der Gesinnung, denen ein Blick auf Twitter genügt, um ihre Artikel zu schreiben, und die eher Marketing-Leute in eigener Sache sind als Journalisten (3). Kurz: Sie haben die gute, alte Zeitung sterben lassen, bevor Funke in Greiz begann, ihren Grabstein aufzustellen.

Vermutlich war auch diese alte Zeitung nicht gut. Ihre virtuelle Version aber ist für den Digitalkonzernstaat ein Schritt auf dem Weg zur totalen Kontrolle. Auf dem Bildschirm sehen wir, was man uns sagen will, und füttern beim Lesen zugleich das, was Soshana Zuboff „Schattentext“ genannt hat — den riesigen Datenstrom, der uns erst vorhersagbar macht und schließlich unser Verhalten formt (4). Der Überwachungskapitalismus verkauft sichere Prognosen und fürchtet deshalb den Leser, der sich von einer Rezension oder einer Reportage auf ganz neue Gedanken und vielleicht sogar auf neue Wege bringen lässt. Die digitale Zeitung kann deshalb in ihrer letzten Ausbaustufe nicht mehr das halten, was ihr Name verspricht. Statt Neuigkeiten wird sie jedem ein Echo liefern von dem, was er schon gehört hat. Die „Kraft des Vorhersageimperativs“, sagt Shoshana Zuboff, zwinge die Tech-Unternehmen dazu, „die Zukunft zu gestalten, um sie vorhersagen zu können“ (5). Die Funke Mediengruppe setzt das jetzt in Thüringen um. Vielleicht sagen die 300 Abonnenten in Greiz und Umgebung aber auch einfach Stopp.


Das Buch können Sie hier bestellen: als Taschenbuch, E-Book oder Hörbuch.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Michael Meyen: Die Propaganda-Matrix. Der Kampf für freie Medien entscheidet über unsere Zukunft, Rubikon, München 2021, Seite 166 bis 167
(2) Vergleiche Batya Ungar-Sargon: Bad News. How Woke Media Is Undermining Democracy, Encounter Books, New York 2021, Seite 8
(3) Vergleiche Marcus B. Klöckner: Sabotierte Wirklichkeit. Oder: Wenn Journalismus zur Glaubenslehre wird, Westend, Frankfurt/Main 2019
(4) Shoshana Zuboff: Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, Campus, Frankfurt/Main 2018, Seite 579
(5) Ebenda, Seite 235


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