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Raus aus der Opferrolle!

Raus aus der Opferrolle!

Verstecken wir uns nicht weiter hinter anderen, sondern wagen uns in unser eigenes Dickicht hinein.

Ich bekomme gelegentlich Post von Menschen, die nicht mit mir einer Meinung sind. Das schätze ich grundsätzlich sehr, da ich für ein Magazin schreibe, in dem Diversität ausdrücklich erwünscht ist. Häufig jedoch kommt Kritik in harschem Gewand daher. Da wird geschimpft, beleidigt und übergegriffen. Von ihrer eigenen Friedfertigkeit überzeugte Menschen schießen Wortbomben ab und zündeln mit verbalen Salven: Wenn du diese Meinung vertrittst, dann lese ich dich nie wieder.

Als Reaktion auf eine vermeintliche Unerhörtheit sind alle Mittel recht. Denn der Angreifer war ja in diesem Falle der Autor. Er hat etwas von sich gegeben, was empört und nicht in das eigene Denkschema passt. Das ist in meinem Fall bei den Texten der Fall, in denen ich mich frage, wie wir es schaffen können, harmonischer, gesünder und friedlicher zusammen zu leben. Denn bei diesem Thema lege ich den Finger dorthin, wo es wehtut: auf die Verantwortung für die eigene innere Haltung.

Das schockiert. Die Toten des Holocaust, die Verfolgten der Geschichte, die Opfer aktueller Konflikte werden ins Feld geführt, um den Aufruf zu mehr Eigenverantwortung im Keim zu ersticken. Sind wir denn etwa selbst Schuld an dem Unglück, das uns widerfährt? Hat gar der KZ-Häftling seine eigene Vergasung verursacht, die Frau ihre eigene Vergewaltigung, der Kranke sein eigenes Leid?!

Bewusstsein ermöglicht die Wahl

Hier werden grundsätzlich zwei Dinge miteinander verwechselt. Es steht außer Frage, dass Menschen Opfer von Gewalttaten werden. Auf der Aktionsebene werden Lebewesen unterdrückt, ausgebeutet, gequält und getötet. In der dualen Welt gibt es auf der einen Seite einen Täter und auf der anderen ein Opfer. Hier ist es wichtig, dass Opfer in Schutz genommen und Täter bestraft werden.

Auf der Bewusstseinsebene jedoch können wir die Welt der Gegensätze verlassen. Hier können wir die Dinge miteinander vereinen und haben die Wahl, uns als Opfer zu fühlen oder nicht. Ich kann krank sein und mich nicht als Opfer meiner Krankheit fühlen. Man kann mich in Ketten legen und ich kann mich doch innerlich frei fühlen. Was auch mit mir geschieht: Ich habe die Möglichkeit zu entscheiden, wie ich mich den Ereignissen gegenüber positioniere.

Auf der Bewusstseinsebene machen nicht andere mich zum Opfer. Hier hat niemand Macht über mich. Hier bin ich Souverän in meinem Reich. Ich halte das Zepter in der Hand. Ich bestimme, wie ich mich selbst sehe.

Ich entscheide, welche Rolle ich einnehme. Ganz egal, was da draußen passiert: Ich allein bin dafür verantwortlich, ob ich in die Opferrolle flüchte oder mich aus ihr befreie.

Die Tyrannei des selbstdeklarierten Opfers

Das ist, als würden uns gedünstetes Affenhirn und geräucherter Yak-Penis auf einmal vorgesetzt und entsprechend schwer zu verdauen. Und so sind nur wenige dazu bereit, diese Verantwortung zu übernehmen. Die meisten polieren ihr eigenes Opferimage. Das ist viel einfacher, als sich zu fragen, inwiefern man eigentlich selbst dazu beiträgt, dass die Dinge sich so verhalten, wie man sie beklagt. Sich als Opfer der Ereignisse zu inszenieren ist, als zöge man ein Korsett über, das einen in Form hält und stützt.

Obwohl dieses Korsett eng ist und bisweilen kneift: Opfer zu sein bringt uns etliche Vorteile. Es gibt uns Anspruch auf Anerkennung und Zuwendung, und wir können uns vieles herausnehmen. Wir können uns beklagen und haben immer ein Gesprächsthema. Vor allem aber können wir andere für unsere Misere schuldig sprechen.

Was wir auch tun: Wir stehen immer auf der richtigen Seite. Denn wenn ich selbst Opfer bin, dann ist der andere zwangsläufig der Täter.

Das Unrecht, das mir widerfahren ist, ist nicht wieder gutzumachen. Daher ist jeder, der mich auf meine Opferrolle aufmerksam macht, herzlos, unmoralisch und unmenschlich und verdient es, abgeschmettert zu werden. Mit Waffen- oder mit verbaler Gewalt — mit Zähnen und Klauen verteidige ich meine selbstgewählte Rolle und winde mich in Rechtfertigungen, um bloß eines nicht anzuerkennen: meine eigene Verantwortung für das, was mir im Leben geschieht.

Befreiung vom mörderischen Trio

Ich verwechsele Verantwortung mit Schuld und sträube mich dagegen, eine Situation so anzunehmen, wie sie ist — die Voraussetzung dafür, sie verändern zu können. Um keinen Preis will ich dort hinsehen, wo es wehtut. So sehr brennt noch die Wunde, so stark ist der Schmerz, dass ich ihn nur in der engen Rüstung ertragen kann, mit der ich mich unantastbar gemacht habe. Dabei merke ich nicht, wie sehr ich ungewollt dazu beitrage, ein friedliches Aufeinanderzugehen unmöglich zu machen.

Und so geht die Menschheit schließlich an ihrem Opfersein zugrunde. Sie überlässt den Tätern das Feld, dem kleinen Prozentsatz von Menschen, der sich unsere vermeintliche Ohnmacht zunutze zu machen weiß und den Keil zwischen uns vertieft, um besser regieren zu können. Opfer gegen Opfer. Währenddessen stirbt die Natur und wird der Welt die Luft zum Atmen genommen.

Für mich gibt es nur einen Weg aus dieser Situation heraus: Wir müssen uns von dem mörderischen Trio Opfer — Täter — Retter verabschieden und selbst die Sache in die Hand nehmen. Dafür müssen wir in den eigenen, inneren dunklen Wald hinein und uns um die Wunden kümmern, die uns zugefügt wurden und die wir oft ein Leben lang mit uns herumtragen. Das schaffen wir nicht allein. Dafür brauchen wir Hilfe.

Wut in Mut verwandeln

Für mich gehören therapeutische Heilungsprozesse zum Leben. Ich bevorzuge dabei eine Kombination aus körperorientierter Psychotherapie und energetischem Heilen. Jedem ist selbst überlassen, welche Art von Begleitung er wählt, um in sein inneres Dickicht vorzudringen und das Licht seines Bewusstseins hineinzutragen. Wichtig ist, dass wir es überhaupt wagen, in uns hineinzuschauen. Denn nur so können wir es schaffen, wirklich erwachsen zu werden und Verantwortung für unser Leben zu übernehmen.

Was auch geschieht — wir kleben dann nicht mehr an der Vergangenheit und vergeuden unsere Zeit mit der Suche nach einem Schuldigen. Wir treten in die Gegenwart ein und handeln eigenverantwortlich aus dem Moment heraus. Wir kümmern uns, wie Antoine de Saint-Exupéry im Kleinen Prinzen schreibt, um unsere Rose, auch wenn sie eigensinnig, mürrisch und stachelig ist.

Indem wir es lernen, mehr Verständnis und Achtung für uns selbst und unsere eigenen Belange zu entwickeln, können wir schließlich auch anderen friedlicher begegnen. Wir müssen dann keine beleidigenden und aggressiven Wortsalven mehr auf Andersdenkende abfeuern: „So schlimm war es ja wohl nicht. Ich sage nur ehrlich, was ich denke“, ganz so wie „eine kleine Tracht Prügel hat noch keinem geschadet.“

Wenn wir den Blick in unseren inneren Urwald wagen, müssen wir nicht mehr versuchen, den Andersmeinenden niederzuschreien, ihn zu demontieren, zu isolieren und in unserem Sinne zu manipulieren. Wir glauben dann nicht mehr, dass wir als Friedensaktivisten und Kriegsdienstverweigerer, als Therapeuten und Pädagogen, als Rubikon-Leser und Lichtanzünder vor Gewalt gefeit sind, sondern wir erkennen die versteckte Gewalt in uns und übernehmen die Verantwortung für sie.

Auf ins eigene Dickicht!

So können wir es sein lassen, die Opfer des Weltgeschehens zu instrumentalisieren und uns hinter ihnen zu verstecken, weil wir es nicht wagen, uns selbst ins Gesicht zu sehen. Wir schöpfen Mut, uns auf den Weg zu machen, auch wenn wir nicht wissen, wohin er uns führt. Nur eines ist gewiss: Es wird ohne unsere Ablenkungsmanöver, Rüstungen und Korsetts in jedem Falle leichter sein.

Vielleicht nehmen wir nun die brennenden Urwälder auf unserem Planeten zum Anlass, uns in unser innerstes, ursprüngliches Dickicht hineinzuwagen, bevor es zu spät ist. Vielleicht werden wir dann feststellen, dass die wilden Tiere im Grunde gar nicht so gefährlich sind, wie wir dachten.

An manche können wir vielleicht sogar herantreten und sie staunend aus der Nähe betrachten. Vielleicht lernen wir hier in unserem Inneren endlich die wunderbaren Wesen kennen, die wir im Außen bisher so verzweifelt gesucht haben. Und vielleicht fragen wir uns dann, warum wir uns so lange nicht an dieses phantastischste aller Abenteuer herangewagt haben.


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