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Rebellion der Armen

Rebellion der Armen

Anstelle von Anteilnahme und Erschütterung ruft der Mord an Nahel hetzende Medien, Nazispenden an den Täter und postkoloniale Wut hervor.

Reich gegen arm

Nahel war ein Jugendlicher aus dem Pariser Vorort Nanterre. In dieser Banlieue leben die untersten Schichten der Arbeiterklasse, abgehängt vom Pariser Glanz, verdammt zu schlecht bezahlten Jobs oder Arbeitslosigkeit. Errichtet wurden die dortigen Plattensiedlungen nach dem Zweiten Weltkrieg während des Wirtschaftsaufschwungs für die einfachen Industriearbeiter.

Als vor 20 Jahren der Kapitalismus wie überall in Europa zu kriseln begann, schrumpfte die Industrie auch in Frankreich. Die Siedlungen verfielen, die Menschen wurden arbeitslos, die Familien verarmten. Viele von ihnen stammen aus den ehemaligen Kolonien Frankreichs.

Erst 1961 hatte sich Algerien, die Heimat von Nahels Vorfahren, in einem fast ein Jahrzehnt andauernden blutigen Bürgerkrieg von den französischen Besatzern befreit. Letztere hinterließen in dem nordafrikanischen Land Verwüstung, Leichenberge, Armut und Hunger. Nun, gerade einmal 62 Jahre später, schoss ein französischer Polizist den erst 17-jährigen Jungen nieder, ohne echte Not bei einer Verkehrskontrolle. Kein Wunder, dass die Wut in den Banlieues überkocht.

Für die meisten Medien spielen diese Hintergründe keine große Rolle. Viele stürzten sich auf das Opfer und spekulierten, was der Junge wohl alles angestellt haben mag in seinem kurzen Leben. Eine Woche nach dem Mord und dem Beginn der Revolten in Nanterre und anderen Teilen Frankreichs sorgen sich die Berichterstatter der Bourgeoisie mehr um den Gehorsam des Volkes und das Eigentum der Mächtigen. Ob solche Aufstände nach Deutschland überschwappen könnten, bangten ZDF und Springers WELT.

Dass Polizisten ihre eigene Gewalt vor allem leugnen, ist bekannt. Trotzdem zitierte das Springerblatt ausgerechnet den Chef der Gewerkschaft der Polizei (GdP). Freilich hat dieser weniger ein Problem mit dem Mord als mit dem aufgebrachten „demokratiefeindlichen“ Volk. Als sei es völlig normal, dass Beamte ungehorsame Jugendliche mitten auf der Straße ohne Not in Selbstjustiz erschießen.

Das ZDF befragte dazu unter anderem einen „Konfliktforscher“. Wie der GdP-Chef machte dieser der deutschen Mittelschicht ordentlich Angst: Es gebe auch in Deutschland eine „höhere Gewaltbereitschaft, insbesondere in radikal-ideologisch motivierten Milieus, insbesondere im Rechtsextremismus“. Da die Familie des Opfers Nahel M. algerische Wurzeln hat, kann die beklagte „Gewalt“ in Frankreich schon mal nicht rechtsextremistisch motiviert sein. Warum also stellt er diesen Bezug überhaupt her?

Vielleicht sollte man fragen: Hätte der Polizist so leichtfertig und gezielt geschossen, wenn es sich um ein adrett gekleidetes Kind reicher Eltern gehandelt hätte? Vermutlich nicht.

Das verdeutlicht das Problem: Der Mord an Nahel war nicht einfach eine Überreaktion des Beamten, sondern Ausdruck des Kampfes reich gegen arm.

Die zerstörerischen Proteste, die darauf folgten, waren ein weiterer, verzweifelter und kontraproduktiver Versuch der Ärmsten, sich gegen ihre Unterdrücker zu wehren.

Hetzen für die Reichweite

Natürlich: Scheinsozial beklagen so manche Medien zwischendurch „die abgehängten Milieus“ in Frankreich, zitieren dazu Politologen und Soziologen. Wie diese entstanden, nicht nur in Frankreich, erwähnen sie nicht. Sie sprechen nicht über koloniale Vergangenheit und nicht über die kapitalistische Verwertungsgesellschaft, die Abgehängte in Ghettos schon immer in Scharen produziert und ausgegrenzt hat.

Weiter rechts stehende Medien, darunter nicht wenige sich als alternativ sehende Kanäle, gehen noch weiter: Nahel soll ein „polizeibekannter Schulschwänzer“ gewesen sein, mutmaßte etwa der Schweizer Blick. In seinem Blog „Pleiteticker“ hetzt auch der ehemalige Bild-Chefredakteur Julian Reichelt ganz nach Manier seines früheren Arbeitgebers nicht minder geifernd gegen das Opfer. Ein Kleinkrimineller sei der Junge gewesen, der angeblich sogar in Drogendelikte verwickelt, ohne Führerschein gefahren sei und sich schon fünfmal Polizeikontrollen widersetzt habe. Als würde das alles, falls denn irgendetwas davon stimmen sollte, den Mord durch die Staatsgewalt rechtfertigen.

Quellen nennt Reichelt für seine Behauptungen nicht. Vermutlich hat er seine Ergüsse aus Wikipedia abgeschrieben, wo sie fast wortgleich zu lesen sind. Wikipedia stellt bekanntermaßen gern Aussagen herausgepickter Medien nach Gutdünken als Tatsachenbehauptungen auf und diffamiert sogar langjährige Wissenschaftler, die beispielsweise nicht auf der Linie westlicher Impfdiktatoren sind, auf diese Weise als Verschwörungstheoretiker und dergleichen.

Reichelt, der nach seinem Rauswurf bei Bild mit seinem Blog den Corona-Widerstandskämpfer mimte, ist also ganz der Alte: Hetzen für die Reichweite, wie man es seit Jahrzehnten vom Springer-Verlag kennt. Mal sind die Schuldigen an irgendwelchen Miseren eben „die faulen Griechen“, mal „die faulen Arbeitslosen“, mal „die Migranten“ — und nun sind es eben „kleinkriminelle“ Ghettokids mit „Migrationshintergrund“.

Nach unten treten, nach oben buckeln, das beherrscht Reichelt so perfekt wie die Bild.

In dieser Welt haben die Abgehängten den Mund zu halten, zu schuften und sich zu fügen, selbst wenn die Polizei einen von ihnen erschießt. Hauptsache, dem Eigentum der Bonzen fügen sie keinen Kratzer zu.

Grundrechte beansprucht man nur für sich selbst, nicht für den Pöbel. „Geht doch arbeiten!“, schnauzt man ihn an.

Getötet ohne Notwehr

Von der Tat existiert ein Video, aufgenommen offenbar durch eine Passantin. Demnach steht einiges fest: Der Täter befand sich nicht in einer Notwehrsituation. Das Opfer war weder bewaffnet noch hat es den Beamten irgendwie lebensgefährlich bedroht. Letzterer hätte auch in den Reifen schießen können, wenn es ihm so wichtig war, des Jungen habhaft zu werden.

Den Angaben der Staatsanwaltschaft zufolge soll Nahel ohne Führerschein mit Freunden in einem Mercedes herumgefahren sein, erst auf der Busspur, dann bei rot über eine Ampel. Die beiden Polizisten nahmen die Verfolgung auf, stoppten schließlich den Wagen, kontrollierten ihn. Von dieser Situation stammt das Video.

Einer der jugendlichen Mitfahrer berichtete laut Spiegel TV von dem, was dann geschehen sei: Nahel habe demnach das Fenster heruntergelassen. Ein Polizist habe gesagt: „Mach den Motor aus, sonst schieße ich.“ Daraufhin hätten ihm die Polizisten zwei Schläge mit ihren Waffen versetzt. Einer habe ihm die Pistole dann an den Kopf gehalten. Nahel solle sich nicht bewegen, „sonst schieße ich dir eine Kugel in den Kopf“. Dann hätten sie erneut mit dem Kolben zugeschlagen, der zweite Beamte habe gerufen: „Erschieß‘ ihn!“ Nahel habe den Fuß von der Bremse genommen, der Wagen sei losgerollt, der Polizist habe geschossen.

Abgesehen vom strittigen Wortlaut widerspricht das Video nicht gegen diese Darstellung. Die sonstige Vorgeschichte des Jungen spielt für die Bewertung der Tat des Polizisten nicht die geringste Rolle, sowohl aus kriminalistischer als aus journalistischer Sicht. Spekulationen darüber, ob Nahel Schule oder Ausbildung schwänzte oder angeblich mit Drogen zu tun hatte, dienen nur einem Zweck: Das Opfer posthum zu diskreditieren und seine Tötung zu rechtfertigen.

Reichelts Hetze

Auf all das steht nämlich nicht die Todesstrafe. Jeder hat das Recht auf ein faires Verfahren und darauf, nicht von der Polizei erschossen zu werden.

Die wichtige Frage, die zu klären ist, lautet: War es Notwehr oder nicht? Nein, das war es ganz offensichtlich nicht.

Aber Nahels Tod wird benutzt. Nicht etwa von den „Randalierern“, sondern von den Hetzern, die so ihre rassistischen Klischees wutverpackt unters Volk jubeln. Ihre halbgare Denkschleife geht in etwa so: Nahels Vorfahren stammen aus Algerien, viele Demonstranten sind Migranten, was zeige, dass die von Natur aus krimineller seien als „der gute reinrassige Weiße“. So habe es wohl den Richtigen getroffen.

Reichelt offenbart dazu noch seine eigene kleine „Rassentheorie“. Angeblich hätten dunkelhäutige Menschen im Westen einen besseren Stellenwert als weiße, so der Hetzer vom Dienst, der die Jahrhunderte währende brutale Kolonialgeschichte beflissen leugnet. Das begründet er dann damit, dass Morde an Schwarzen zu Protest führten, Morde an Weißen angeblich nicht. Ja, Reichelt beherrscht das „Teile und Herrsche“-Spiel der Bourgeoisie bestens.

Es ist kein Geheimnis, dass dort, wo Armut grassiert, der Ton rauer ist und die Kriminalität offener ausgelebt wird und anderer Natur ist als in einem Villenviertel von Reichen. Abgehängte sind auch bei der Polizei weniger beliebt als der Mittelstand mit adretter Fassade. In Frankreich gilt die Polizei nicht nur als besonders brutal, sondern auch als besonders rassistisch. Wer in einer Banlieue lebt, hat mit hoher Wahrscheinlichkeit reichhaltige Erfahrungen mit Polizeigewalt und rassistisch motivierten Kontrollen.

Nazi macht Täter zum Millionär

Die Polizei ist die Statthalterin des Prinzips „Law and Order“. Damit liebäugelt auch Rechtsaußen, solange es jedenfalls um Unterprivilegierte geht. Beide waren schon immer natürliche Verbündete. Unterdrückung funktioniert nun einmal nicht völlig gewaltfrei. Das verdeutlicht auch eine Spendensammlung für den Täter, veranlasst durch den bekannten französischen Rechtsextremen Jean Messiha.

Messiha beriet früher Marine Le Pen als Frontfrau der Partei Ressemblement National (Nationale Versammlung). Heute ist er Mitglied und Unterstützer der neofaschistischen Partei Reconquête (Rückeroberung) mit neoliberal-rassistischer Agenda. Zum Zeitpunkt der Fertigstellung des Artikels hatte Messiha mehr als 1,6 Millionen Euro bei der Crowdfunding-Plattform gofundme.com für den Täter, offiziell für dessen Familie, eingetrieben.

Das ist eine klare Ansage: Töte Ausländer, wir machen dich zum Millionär. Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen: Da erschießt ein Polizist einen Jugendlichen ohne Not, sitzt dafür zu Recht in Untersuchungshaft, wo er auf sein Verfahren wartet, und ein Nazi wirft ihm dafür ganz offiziell Millionen hinterher.

In etwas anderer Form ist ähnliches übrigens auch in Deutschland geschehen. 2012 verurteilte das Landgericht Magdeburg den Dessauer Dienstgruppenleiter Andreas Schubert wegen „fahrlässiger Tötung“ an dem gefesselten Oury Jalloh in einer Gewahrsamszelle zu einer eigentlich läppischen Geldstrafe von 10.800 Euro. Damals sammelte die Gewerkschaft der Polizei das und noch mehr Geld für den Verurteilten ein. Von einer Strafe merkte Schubert damit nicht mehr viel, im Gegenteil, es kam noch einiges obendrauf.

Eine Besserung der Zustände in Frankreich ist nicht in Sicht. Wie in Deutschland verschärft die französische Regierung seit vielen Jahren nach und nach ihre Polizeigesetze, zuletzt 2017 unter Präsident François Hollande. Damals weitete sie die Spielräume der Beamten für die Anwendung der Schusswaffe aus. 2022 sollen Polizisten 13 Menschen bei bloßen Verkehrskontrollen erschossen haben. Nahel war nicht das erste Opfer und wohl nicht das letzte. Fast alle von Beamten Getöteten stammen aus den Armenvierteln.

Gewalt erzeugt Gegengewalt

Natürlich zeugt es eher von absoluter Hilflosigkeit als einem cleveren Revolutionsplan, wenn die Jugend der Armenviertel in teils blinder Wut die Städte zerstört und niederbrennt. Natürlich mischen bei Rebellionen dieser Art auch immer Saboteure mit, die beispielsweise kleine Läden plündern oder Kleinwagen von Arbeitern abfackeln. Doch ohne Kenntnis der historischen Vorgeschichte von der Kolonialisierung und die Massenverarmung durch kapitalistische Wirtschaftskrisen ist das Ausmaß der Unruhen nicht zu verstehen.

Wer die Gewalt auf der Straße verurteilt, sollte die strukturelle Gewalt eines Konkurrenzsystems, dessen Glanz und Gloria in den Zentren der Macht selbst das Resultat von Krieg, Völkermord und Leichenbergen sind, nicht vergessen. Gewalt erzeugt immer Gegengewalt.

Es ist nur ein kurzer Moment der Genugtuung, wenn man davon angesichts der Hinrichtung Nahels überhaupt sprechen kann, wenn sich die französische Bourgeoisie vor dem eigenen Volk verbarrikadiert, wenn Präsident Emmanuel Macron seinen Berlin-Besuch absagen muss und die Medien in wütendes Geschrei über den „Mob“ verfallen.

Macron jedenfalls sagte in einer Pressekonferenz am 4. Juli 2023, er wolle „jetzt die republikanische Ordnung wiederherstellen“. Mit anderen Worten: Weiter so wie vorher. Die Millionen abgehängten Franzosen mit oder ohne Migrationshintergrund wird das nicht befrieden. Das weiß der Präsident offenbar, weshalb er gleich ein paar repressive Ankündigungen hinzufügt: Würden die Unruhen weitergehen, werde man wohl die sozialen Netzwerke blockieren müssen.

Schließlich muss man sich den akuten Auslöser, den letzten Funken für die Unruhen, noch einmal zu Gemüte führen.

Ein Polizist hat ohne Not einen erst 17-jährigen Jungen erschossen. Er hat den Sohn einer alleinerziehenden Mutter, den Enkel einer Großmutter und einen offenbar beliebten Jugendlichen im Arbeiterviertel ermordet.

Nahel hätte noch sein ganzes Leben vor sich gehabt. Ein Kind zu verlieren, ist das Schlimmste, was Eltern erleben können.

Wer als 17-jähriger nie übers Ziel hinausgeschossen ist, der werfe den ersten Stein. Und wer nie in einer abgehängten Plattensiedlung leben musste, möge schweigen. Die Häme, die in diversen Medien über das Opfer ausgekippt wurde, ist vor allem Ausdruck totaler Verrohung inmitten eines zerstörerischen Gewaltsystems.


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