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Selbstunsichere Missionare

Selbstunsichere Missionare

Auf der Suche nach Antwort auf die Frage „Was ist deutsch?“ stoßen wir auf eine Reihe von Widersprüchen, auf Höhenflüge und Abgründe. Exklusivauszug aus „Nietzsche, Hitler und die Deutschen“.

Facetten des deutschen Geistes

Wie wurde über den deutschen Geist geurteilt in den vergangenen zwei Jahrhunderten? Wie sah er sich selbst? Wie wurde er vom Ausland gesehen? Es erscheint sinnvoll, einige der am häufigsten hervorgehobenen Wesenszüge skizzenhaft zusammenzustellen. Dies soll ohne Systematik und naturgemäß auch ohne den Anspruch geschehen, hier letzte Tiefen auszuloten oder umfassend zu beschreiben. Die Unzulänglichkeit einer derartigen Katalogisierung, die zugestanden sei, wird zur Kritik herausfordern, zumal sich insbesondere nach 1945 Wandlungen und Verschiebungen ergeben haben, die hier zumeist unberücksichtigt bleiben. Der Einfachheit halber sei nachstehend die Gegenwartsform verwendet; damit soll keine bruchlose deutsche Kontinuität suggeriert werden, so als sei das hier Angedeutete auch heute noch dominant …

1. Der deutsche Geist hat ein gestörtes Verhältnis zu sich selbst: Einerseits erfüllt von dem Bewusstsein der eigenen Größe, ja der ihm zugeordneten geschichtlichen Mission, ist er andererseits von Selbstzweifel, Unsicherheit, ja zuweilen Selbsthass angenagt. Das hat er mit dem jüdischen Geist gemein. Im Gegensatz dazu steht die Ungebrochenheit des nationalen Selbstverständnisses und Selbstbewusstseins, wie sie zum Beispiel der französischen Intelligenz eigen ist.

Die deutsche Geschichte ist reich an Zeugnissen der Geringschätzung, ja Verachtung der Deutschen durch ihre bedeutendsten Geister. Dafür zwei Beispiele.
Im zweiten Band des Briefromans „Hyperion“ (1799) von Friedrich Hölderlin heißt es in einem Brief Hyperions an Bellarmin:

„So kam ich unter die Deutschen. (…) Barbaren von alters her, durch Fleiß und Wissenschaft und selbst durch Religion barbarischer geworden, tief unfähig jedes göttlichen Gefühls, verdorben bis ins Mark, in jedem Grad der Übertreibung und der Ärmlichkeit beleidigend für jede gutgeartete Seele, dumpf und harmonielos, wie die Scherben eines weggeworfenen Gefäßes (…). Es ist ein hartes Wort und dennoch sag ich's, weil es Wahrheit ist: Ich kann kein Volk mir denken, das zerrissner wäre wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen.“

Nietzsche, zur Zeit der „Geburt der Tragödie“ voller Hoffnungen auf die „Wiedergeburt des deutschen Mythos“, eine umfassende Kulturerneuerung unter dem Zeichen von Kunst und Musik, findet schließlich im Jahre 1888, kurz vor seinem geistigen Zusammenbruch, Worte der schroffen Ablehnung der Deutschen, ja des Deutschenhasses. Im „Ecce homo“ heißt es:

„Und warum sollte ich nicht bis ans Ende gehen? Ich liebe es, reinen Tisch zu machen. Es gehört selbst zu meinem Ehrgeiz, als Verachter der Deutschen par excellence zu gelten. Mein *Mißtrauen gegen den deutschen Charakter habe ich schon mit sechsundzwanzig Jahren ausgedrückt (dritte Unzeitgemäße, Seite 71) — die Deutschen sind für mich unmöglich. Wenn ich mir eine Art Mensch ausdenke, die allen meinen Instinkten zuwiderläuft, so wird immer ein Deutscher daraus.“*

An anderer Stelle schreibt Nietzsche, die Deutschen hätten „alle großen Kulturverbrechen von vier Jahrhunderten (…) auf dem Gewissen“. „Und immer aus dem gleichen Grunde, aus ihrer innerlichsten Feigheit vor der Realität, die auch die Feigheit vor der Wahrheit ist, aus ihrer bei ihnen Instinkt gewordnen Unwahrhaftigkeit, aus ‚Idealismus‘.“

Erwähnt sei, dass sowohl die Bemerkungen Hölderlins als auch diejenigen Nietzsches einer tiefgreifenden Enttäuschung entstammen, der deprimierenden Beobachtung, dass das, was der deutsche Geist ist oder sein könnte, von den Deutschen selbst missachtet, ja verraten wurde.

Man weiß, dass Hölderlin, wie einige seiner großen Dichtungen zeigen, von der welthistorischen Aufgabe des deutschen Geistes überzeugt war. Der deutsche Hang zur „Selbstaufgabe“ darf hiermit also nicht verwechselt werden.

2. Der Glaube des deutschen Geistes an die eigene Mission hat religionsähnliche Züge; er geht über das seit dem Zeitalter des Imperialismus auch von anderen Völkern entwickelte Missionsbewusstsein hinaus, das sich die Franzosen bis heute wohl am ausgeprägtesten bewahrt haben. Einer der führenden Nationalsozialisten, Hans Frank, notiert am 10. Februar 1937 in seinem Tagebuch:

„Ich bekenne meinen Glauben an Deutschland. Deutschlands Dienst ist Gottesdienst. Keine Konfession, kein Christusglaube kann so stark sein wie dieser unser Glaube, dass, wenn Christus heute erschiene, er Deutscher wäre. Wir sind in Wahrheit Gottes Werkzeug zur Vernichtung des Schlechten.“

Vergleichbar ist nur die jüdische Überzeugung von der Auserwähltheit des eigenen Volkes. Dies ist einer der Gründe für den Hitler'schen Antisemitismus. Hitler soll (zu Hermann Rauschning) gesagt haben: „Es kann nicht zwei auserwählte Völker geben. Wir sind das Volk Gottes. Besagt das nicht alles?“ Und:

„Denn nur zwischen uns beiden wird der Kampf um die Weltherrschaft ausgefochten, zwischen Deutschen und Juden. Alles andere ist trügerischer Schein. (…) Ist Ihnen nicht aufgefallen, wie der Jude in allem und jedem das genaue Gegenspiel des Deutschen ist und ihm doch wieder so verwandt ist, wie es nur zwei Brüder sein können?“

In seinem Buch „Mein Weg als Deutscher und Jude“ (1921) beschreibt Jakob Wassermann die „Schicksals- und Charakterähnlichkeit“ zwischen Deutschen und Juden:

„Hier wie dort jahrhundertelange Zerstückelung und Mittelpunktlosigkeit, Fremdgewalt und messianische Hoffnung auf Sieg über alle Feinde und auf Einigung. Es wurde zu dem Behuf sogar ein deutscher Spezialgott erfunden, der, wie der jüdische Gott in den Gebeten, in allen patriotischen Hymnen figurierte. (…) Ein seelisches Leben ohne Bindungen, das unversehens zur Hybris führt, zu Hoffart und unbelehrbarem Starrsinn. Hier wie dort schließlich das Dogma der Auserwähltheit.“

Die besonders innige Beziehung gerade gebildeter Juden zur als wesensverwandt empfundenen deutschen Kultur, zum deutschen Geist ist bekannt und hat bei einigen sogar das Dritte Reich überdauert, man denke an Ernst Bloch, Hans Mayer, Theodor W. Adorno und andere. Die drei Genannten gehörten zu den Ersten nach 1945, die bemüht waren, das künstlerische Werk des von den Nazis gefeierten Richard Wagner — die Primärquelle der Hitler'schen Ideologie — neu zu interpretieren. Und sicher hat Gershom Scholem recht, wenn er darauf hinweist, dass „die Liebesaffäre der Juden mit den Deutschen (…) im Großen und Ganzen einseitig und unerwidert geblieben“ sei. „Hitler sorgte dafür, dass bei den meisten deutschen Juden beleidigte Liebe in Hass umschlug“ (Sebastian Haffner). Ein extremes Beispiel dafür ist der Deutschenhass Albert Einsteins, den dieser im amerikanischen Exil entwickelt hatte und der selbst von vielen Juden wegen seiner schroffen Unversöhnlichkeit kritisiert wurde.

3. Der deutsche Geist ist am „Reich“ orientiert; die politische Ordnungsform des „Staates“ im Sinne Englands und Frankreichs lehnt er im Grunde ab. In der Utopie oder Vision vom „Reich“ wird eine metaphysisch verankerte Ordnungsvorstellung erkennbar, mit der vielleicht auch jene Verhaltensweisen und Einstellungen zu tun haben, die man als Untertanengeist oder Obrigkeitshörigkeit kritisiert hat. Die Deutschen haben den Hang zur Ordnung um beinahe jeden Preis, sie sind „Ordnungsfanatiker“, weil Ordnung für sie einen „Wert an sich“ darstellt, eine nicht weiter hinterfragbare, gleichsam seinshafte Größe.

So konnte in Deutschland nur jene Revolution erfolgreich sein, die eigentlich gar nicht stattfand — wie mit Recht gesagt wurde — bezeihungsweise die sich in legale Formen trügerisch zu vermummen wusste, eben die nationalsozialistische, die spezifisch „deutsche Form der Revolution“.

Das Wort „Reich“ ist kaum adäquat übersetzbar; bedeutungsmäßig schwingt hier die mythisch geprägte Vorstellung einer Art von Endzeitreich des Friedens und der Gerechtigkeit mit — der Archetypus vom „Dritten Reich“, von den Nazis propagandistisch geschickt ausgebeutet. Die höchste Ausformung der Reichsidee findet sich im Mittelalter bei Friedrich II. von Hohenstaufen, der sich als Weltherrscher (dominus mundi) und Friedenskaiser verstand und dem Herrschertum eine bis dahin einmalige sakrale Würde verlieh, wobei bemerkenswert ist, dass hier jüdisch-messianische Ideen beeinflussend gewirkt haben. Es ist kein Zufall, dass die umfassendste und eindrucksvollste Schilderung des „Messias-Kaisertums“ des großen Staufers aus der Feder eines Juden stammt (gemeint ist die Staufer-Biografie von Ernst Kantorowicz von 1927, die auch Hitler nachweislich gelesen hat).

4. Der deutsche Geist neigt zur Überheblichkeit und zum Größenwahn, zum „Titanismus“, zur trotzigen Überkompensation eigener Schwächen, zur Übertreibung jedweder Art. Ihm fehlt das Maß, die Ausgewogenheit, das Mit-sich-im-Gleichgewicht-Sein — weil er permanent über sich hinaus will —, woraus zuweilen ein Hang zur Gewaltsamkeit erwächst. Ein übersteigertes Selbstbewusstsein der eigenen denkerischen Leistung bis hin zum schlichten Größenwahn ist keine Rarität unter deutschen Philosophen; man denke an Hegel, an Schopenhauer, an Nietzsche.

5. Der deutsche Geist hat einen Hang zum Perfektionismus; er verschmäht das Provisorium, das Vorläufige, das nur Angedeutete und gleichsam Impressionistische; er will „Hundertprozentigkeit“, letztgültige intellektuelle Abrundung, woraus Dogmatismus und Fanatismus erwachsen können. Er will das Festgefügte eines in metaphysischen oder seinshaften Prinzipien gegründeten Weltbildes, in dem nur wenig Raum bleibt für das Spielerisch-Vexierhafte des Humors.

6. Damit eng verbunden ist die Neigung zu moralischem Rigorismus. Der deutsche Geist hält sich und alles ihm Ähnliche für „tief“; er verübelt es jedem, der hier ein heiteres Auge zu erkennen gibt. Er grübelt häufig über sich. Nietzsche: „Es kennzeichnet die Deutschen, dass bei ihnen die Frage ‚Was ist deutsch?‘ niemals ausstirbt.“ Noch einmal Nietzsche: „Der Deutsche schleppt an seiner Seele; er schleppt an allem, was er erlebt. Er verdaut seine Ereignisse schlecht, er wird nie damit ‚fertig‘; die deutsche Tiefe ist oft nur eine schwere zögernde ‚Verdauung‘.“

Die moralischen Energien der Deutschen sind beträchtlich, wenn auch häufig richtungslos und daher bedenklich manipulierbar.

Mit Recht spricht Joachim Fest einmal davon, dass die „Radikalität, die das eigentliche Wesen des Nationalsozialismus ausmacht“, „kein Problem der kriminellen, sondern eines der pervertierten moralischen Energie“ sei. Eng gekoppelt an moralischen Rigorismus ist der Fanatismus der Prinzipienstarre, der religiös-sektiererhafte Heils- und Heilungswahn, die eifernde Unduldsamkeit in dem für wahr Gehaltenen. Der Fanatiker und moralische Rigorist hat wenig Fantasie für das von ihm zugefügte Leid, da er sich berufen glaubt, die aus den Fugen geratene Welt wieder „einzurenken“, wie es im „Hamlet“ heißt. Die „deutsche Moral“ hat einen eigentümlich steinernen Charakter ohne versöhnliche Züge.

7. Der deutsche Geist hat eine gefährliche Neigung zum Extremismus und Radikalismus; er denkt die Dinge weiter bis zum guten oder schlimmen Ende. Er verschmäht die Skrupel, er lehnt die Nuancen ab; er will gleichsam das Äußerste. Dies zieht sich von Fichte und Hegel über Nietzsche und die Expressionisten bis zu den Nationalsozialisten. Und auch nach 1945 finden sich genügend Belege dafür. Heinrich Himmler und viele SS-Unterführer waren moralische Rigoristen, Fanatiker, die jede menschliche und mitleidige Regung zu unterdrücken suchten — was oft nicht ohne Krampf und Qual abging —, Extremisten, die dem Züchtungswahn in Richtung auf den „neuen Menschen“ jedes nur erdenkliche Opfer zu bringen bereit waren. Hitler, Himmler und andere führende Nazis haben die Radikalität des Gedankens in schauerliche Realität umgesetzt. Den Radikalismus des deutschen Geistes zeigt die Spannweite vom äußersten Nihilismus, wie er in einigen Nietzsche-Fragmenten formuliert wird, bis zur Idee von der totalen Neuordnung der Welt, visionär ausgemalt in Weltenbränden und Apokalypse, der Rückbindung an den Kosmos.

8. Aus einer lichtfernen Schicht des deutschen Geistes bricht zuweilen eine eigenartige „Lust am Untergang“ hervor, das heißt eine Art des Extremismus, die auch den eigenen Untergang mitdenkt, mitwill, ja direkt oder indirekt vorbereitet. Dies manifestiert sich sowohl bei Nietzsche als auch bei Hitler.

Es ist jene „Nibelungenseite“ des deutschen Wesens, häufig heraufbeschworen und sowohl gefürchtet als auch verspottet, der Hang zum „tragisch-heroischen“ Untergang großen Stils, der gegebenenfalls auch eine Welt mit in den Abgrund zieht.

Eine spezifisch deutsche Form des „Todestriebes“, der Todessehnsucht spätromantischer Prägung? Wer den eigenen Untergang im Letzten will, verschmäht jede Rückversicherung, er verbrennt gleichsam die rettenden Schiffe, er verachtet das Zurück; dies offenbart die Seelenlage des „Vabanque-Fanatikers“. „Hitlers Reden sind voll dunkler Anspielungen auf schließliche Niederlage und Untergang, schon seit den frühesten Tagen seines Kampfes um die Macht.“ Dies gilt analog auch für Nietzsche: den „Vabanque-Denker“ schlechthin.

Der Untergang der Burgunder am Ende des Nibelungenliedes — mit der Wucht einer antiken Tragödie konzipiert und im Letzten „grundheidnisch“, wie Goethe bemerkt — ist die wohl prägnanteste Ausformung jener „tragisch-heroischen“ Komponente. Richard Wagners „Ring des Nibelungen“, speziell die „Götterdämmerung“, von Hitler aus gutem Grund hoch geschätzt, ja bewundert, ist ohne diese Komponente nicht zu verstehen. Nach Nietzsche im Übrigen ist der Wille zum Untergang, zum Zugrundegehen, eine Spielart oder Ausdrucksform des Willens zur Macht.

Georges Clemenceau, französischer Ministerpräsident von 1906 bis 1909 und 1917 bis 1920, der als Vorsitzender der Versailler Friedenskonferenz maßgeblich beteiligt war an der Durchsetzung der harten Bedingungen, die Deutschland auferlegt wurden, schrieb:

„Es gibt in der deutschen Seele, in der Kunst, in der Gedankenwelt und Literatur dieser Leute eine Art Unverständnis für alles, was das Leben wirklich ist, für das, was seinen Reiz und seine Größe ausmacht, und an dessen Stelle eine krankhafte und satanische Liebe zum Tod. Diese Leute lieben den Tod. Diese Leute haben eine Gottheit, die sie zitternd, aber doch mit einem Lächeln der Ekstase betrachten, als wären sie von einem Schwindel erfasst. Und diese Gottheit ist der Tod. Woher haben sie das? Ich weiß darauf keine Antwort.“

Ich will es mir ersparen, diese berühmten Sätze eines Mannes gesondert zu kommentieren oder zu relativieren, der die Deutschen wahrlich nicht liebte und der die politischen und psychologischen Folgen des Versailler Vertrages mitzuverantworten hat.

Vielfältig waren die Appelle Hitlers und seiner Unterführer an den Willen der Deutschen zu Opfer und Untergang; diese Appelle haben Tiefenschichten des deutschen Geistes berührt und verhängnisvoll für das NS-Regime aktiviert.

„Die berühmte ‚Nibelungentreue‘, die das Regime für sich beanspruchte, war vielleicht dem Geist der alten Dichtung gar nicht so fremd: denn charakteristisch für jene ist ja nicht die Treue der Nibelungen zueinander bis in den Tod, sondern die Treue zum Tod. So hatte der neue ‚Mythos‘ seine Wurzeln im Alten — und in der deutschen Wirklichkeit“ (Josef Peter Stern).

Genauer wäre hier von der Treue der Nibelungen zu Hagen zu sprechen, der seinerseits den „Willen zum Untergang“ verkörpert. Auf eine merkwürdige Weise trägt Hitler Züge der Hagengestalt: des Nibelungenliedes und der „Götterdämmerung“ Richard Wagners. Im Februar 1942 sagt er in entlarvender Deutlichkeit: „Kurz gesagt ist es doch so, dass einer, der für sein Haus keinen Erben hat, sich am besten mit allem, was darin ist, verbrennen lässt — wie auf einem großartigen Scheiterhaufen.“ Er meint sich selbst und das von ihm beherrschte Deutschland; der „Nero-Befehl“ vom 19. März 1945 dürfte mit derartigen Bestrebungen zusammenhängen. In einem Spiegel-Gespräch vom Mai 1983 hebt der DDR-Dramatiker Heiner Müller hervor, dass die Nibelungen „immer noch der deutscheste aller deutschen Stoffe sind und auch immer noch eine deutsche Wirklichkeit“. „Nach wie vor werden die Nibelungen gespielt in Deutschland.“

9. Der „Wille zum Untergang“ ist eng verzahnt mit dem „Willen zum Opfer“, der sich auf den verschiedensten Ebenen offenbart. In Deutschland genießt „Aufopferung“ mehr als anderswo in Europa allerhöchstes Ansehen: Aufopferung für die Familie, den Beruf, das Vaterland, den Staat, die Partei und Ähnliches tritt gleichwertig neben die „deutschen Tugenden“ der Pflicht, der Arbeit, der Ordnung. Wer dieses tief in den Deutschen verankerte Wertsystem anzurühren vermag, hat immer Erfolg; die bisherige Geschichte dokumentiert dies, einschließlich der Zeit von 1933 bis 1945.

Der „Wille zum Opfer“ ist auch der „Wille zur Selbstüberwindung“; und wenn Nietzsche einmal Selbstüberwindung als seine „stärkste Eigenschaft“ herausstreicht, dann ist er darin, wie auch in vielem anderen, ein „Deutscher par excellence“.

Ungezählte Male beschwor Hitler die Opferbereitschaft der Deutschen — mit fulminantem Erfolg. Er knüpfte Sieg und Opfer eng aneinander.

10. Der deutsche Geist steht der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit fremd gegenüber, er ist „unpolitisch“. Geist und Politik — das gilt ihm als unvereinbar. Nietzsche hat dies in der „Götzen-Dämmerung“ beschrieben:

„Die Kultur und der Staat — man betrüge sich hierüber nicht — sind Antagonisten: ‚Kultur-Staat‘ ist bloß eine moderne Idee. Das eine lebt vom andern, das eine gedeiht auf Unkosten des anderen. Alle großen Zeiten der Kultur sind politische Niedergangszeiten: Was groß ist im Sinn der Kultur, war unpolitisch, selbst antipolitisch.“

Das kennzeichnet die Grundhaltung der Deutschen, insbesondere der deutschen lntelligenz. Politik gilt als „schmutziges Geschäft“, mit dem „man“ sich nicht abgibt, wenn man etwas auf sich hält im Sinne geistiger Kultur. Auch Hitler dachte ähnlich; häufig betonte er, nur widerwillig Politiker geworden zu sein und nur, weil sich kein anderer zur Rettung Deutschlands bereitgefunden habe; sonst wäre er Künstler oder Philosoph geworden. Die Selbsteinschätzung Hitlers als „Künstler-Politiker“ wird uns noch beschäftigen.

Richard Wagner fasst die Haltung der deutschen Intelligenz zur Politik in den Worten zusammen: „Ein politischer Mensch ist widerlich.“

Und Thomas Mann formuliert in seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“ von 1918: „Wenn Wagner irgendwie ein Ausdruck seines Volkes, wenn er irgendworin deutsch war, deutsch-human, deutsch-bürgerlich im höchsten und reinsten Sinne, so war er es in seinem Hass auf die Politik.“ Im Gegensatz dazu ist der französische Geist seit jeher gesellschaftlich orientiert, Geist und Politik sind für ihn keine Gegensätze.

11. Der deutsche Geist hat eine starke „irrationale“ Komponente, die sich dem westeuropäischen Rationalismus überlegen fühlt. Von dieser aus erscheint die kartesianische „clarté“ als flach, als oberflächlich. In diesem Sinne spricht Thomas Mann 1933 von der „alten deutschen Kultur-Quertreiberei“ und nennt die Deutschen einen „Dorn im Fleische Europas, des Abendlandes“. Der deutsche Geist hat jenen vergrübelten Hang zum „Abseitigen“ und Abgründigen des Seins, zu den lichtfernen Sphären von Natur und Seele. Dem korrespondiert der deutsche Hang zum Spirituellen, Esoterischen, „Übersinnlichen“, Okkulten, zu Magie und Geheimgesellschaften in jedweder Form, den verschiedentlich gerade französischen Autoren für die Exzesse des Nationalsozialismus verantwortlich machen (so zum Beispiel René Alleau in: „Hitler et les sociétés secrètes“, 1969). In der deutschen Philosophie ist stets ein Teil Mystik, ein Element Meister Eckhart und Jakob Böhme. Deutsche Philosophie — das ist häufig intellektueller Abgrund und Extremismus, das sind „Schleichwege“ in die Tiefen der Existenz. Gerade in Deutschland ist der Geist immer wieder — vergeblich — bemüht, sich selbst zu widerlegen, sich selbst als Verstand und Vernunft gleichsam aufzuheben, das zeigt sich in der Nietzsche'schen Lehre vom Willen zur Macht genauso wie in Ludwig Klages’ Werk „Der Geist als Widersacher der Seele“ (1929 bis 1932). Westeuropäer neigen dazu, den „deutschen Irrationalismus“ in der Nähe von „Dämonie“ anzusiedeln, von Todeszugewandtheit, dahinter einen Rückfall ins Mittelalter zu wittern, in die „teutsche“ Barbarei.

12. Dies führt auf die bereits angedeutete Schicht des „Vorgestern“ im deutschen Geist, den „altertümlich-neurotischen Untergrund“, die „geheime Verbindung des deutschen Gemütes mit dem Dämonischen“, wie Thomas Mann sagt, der hierin eine der Wurzeln des Nationalsozialismus sieht. In seinem Vortrag „Deutschland und die Deutschen“ — gehalten am 29. Mai 1945 in den USA — heißt es, auf den Faustus-Roman vorausweisend:

„Wo der Hochmut des Intellektes sich mit seelischer Altertümlichkeit und Gebundenheit gattet, da ist der Teufel. Und der Teufel, Luthers Teufel, Faustens Teufel, will mir als eine sehr deutsche Figur erscheinen, das Bündnis mit ihm, die Teufelsverschreibung, um unter Drangabe des Seelenheils für eine Frist alle Schätze und Macht der Welt zu gewinnen, als etwas dem deutschen Wesen eigentümlich Naheliegendes.“

Für Goethe ist das „Dämonische“ die Grundbedingung des Schöpferischen überhaupt, dessen eigentliche Ermöglichung; er, wie auch Schelling, fasst den Begriff im „übermoralischen“ Sinne auf, sieht ihn also keineswegs einseitig negativ.

„Dämonie“, so könnte man sagen, ist Schöpfertum, welches um die Abgründe weiß, welches aus den Abgründen gespeist wird, aus der Tiefe — aus dem „Ungrund“, mit Jakob Böhme zu reden.

„Ich bin immer am Abgrunde“, sagt Nietzsche. Auch der deutsche Geist ist, so gesehen, „immer am Abgrunde“, wie die Geschichte belegt. Das Dämonische kann zur Barbarei führen. In ihm liegen Wahnsinn und Höhenflug gefährlich dicht beieinander. Und nicht von ungefähr trägt die Figur des Adrian Leverkühn im Faustus-Roman deutliche Züge Nietzsches. „Nietzsche als Musiker“ schien dem Großbürger und Humanisten Serenus Zeitblom alias Thomas Mann als das deutsche Genie schlechthin.

13. Der deutsche Geist strebt zur Musik, er ist dem Musikalischen nahe verwandt. Mit einigem Recht empfinden Ausländer häufig die Musik als die reinste und überzeugendste Manifestation des Schöpferischen im deutschen Volk, als „urdeutsch“. Und nirgendwo sonst hat die Musik auch die Philosophie in solchem Maße geprägt und mit lebendigen Impulsen versehen. In Schopenhauers tiefsinnig-„deutscher“ Metaphysik der Musik zeigt sich dies genauso eindrucksvoll wie in Nietzsches lebenslangen philosophischen Bemühungen um das „Schicksal der Musik“. Die Musik, schreibt Schopenhauer, sei „darin von allen anderen Künsten verschieden, dass sie nicht AbbiId der Erscheinung (…), sondern unmittelbar Abbild des Willens selbst ist und also zu allem Physischen der Welt das Metaphysische, zu aller Erscheinung das Ding an sich darstellt“. Die Welt ist nach Schopenhauer die Selbstanschauung des in die Vielheit der Erscheinungen zersplitterten Weltenwillens; sie ist „verkörperte Musik“, wie es in der „Welt als Wille und Vorstellung“ heißt.

Thomas Mann, für den Martin Luther das „Deutsche in Reinkultur“ darstellt, „eine riesenhafte Inkarnation deutschen Wesens“, hebt insbesondere dessen Musikalität hervor und bringt diese mit der durch Luther vollzogenen radikalen Trennung von geistiger und politischer Freiheit in Verbindung.

Zeitlebens beschäftigt Thomas Mann das rätselhafte Wesen der Musik, der ihr innewohnende „Zahlenzauber“, die unergründliche Einheit von „Ordnung“ und „Wider-Vernunft“.

„Soll Faust der Repräsentant der deutschen Seele sein, so müsste er musikalisch sein; denn abstrakt und mystisch, das heißt musikalisch, ist das Verhältnis des Deutschen zur Welt, das Verhältnis eines dämonisch angehauchten Professors, ungeschickt und dabei von dem hochmütigen Bewusstsein bestimmt, der Welt an ‚Tiefe‘ überlegen zu sein. Worin besteht diese Tiefe? Eben in der Musikalität der deutschen Seele, dem, was man ihre Innerlichkeit nennt, das heißt: dem Auseinanderfallen des spekulativen und des gesellschaftlich-politischen Elements menschlicher Energie und der völligen Prävalenz des ersten vor dem zweiten. Europa hat das immer gefühlt und auch das Monströse und Unglückliche davon empfunden“ (aus: „Deutschland und die Deutschen“).

Es ist von tiefer Bedeutung, dass Hitler die Musikdramen Richard Wagners bewunderte und Wagner selbst als seinen „einzigen Vorläufer“ bezeichnete. Mehr als andere deutsche Musik atmet diejenige Richard Wagners etwas von „Vorgestern“ im Sinne Nietzsches und Thomas Manns, zugleich auch etwas von faustisch-spätmittelalterlichem Teufelspakt.

14. Vielfach gilt im Ausland, gehasst und gefürchtet, der preußische Militarismus als „typisch deutsch“ — speziell bei den Franzosen. Militarismus, Preußentum, Deutschland — das wird oft gleichgesetzt. „Preußischer Geist“: Das sind die Tugenden der Disziplin, des Gehorsams, der Unterordnung und alles dessen, was sich als „Männlichkeit“ versteht und mit einer Verachtung und Unterdrückung alles Weiblichen, auch der „weiblichen“ Seelenschichten im Manne, einherzugehen pflegt. Vollendete „Höflichkeit“ und „Ritterlichkeit“ der Frau gegenüber ist kein Gegensatz dazu, sie kann mit einer Geringachtung der Frau verbunden sein — und ist es auch häufig; man studiere Nietzsches Aussagen über die Frauen!

In „Jenseits von Gut und Böse“ feiert Nietzsche „die Skepsis der verwegenen Männlichkeit, welche dem Genie zum Kriege und zur Eroberung nächst verwandt ist und in der Gestalt des großen Friedrich ihren ersten Einzug in Deutschland hielt“. Er begrüßt die sich anbahnende Heraufkunft kriegerischer Tugenden in Deutschland „trotz aller Romantik in Musik und Philosophie“ und verspottet die durch eine Bemerkung Michelets belegte „Furcht vor dem ‚Mann‘ im deutschen Geist“. Nun — dieser „‚Mann‘ im deutschen Geist“ ist nicht zuletzt die Deutschen selbst teuer zu stehen gekommen. Und sicher ist im Nationalsozialismus eine Schicht genuinen Preußentums, vor allem in der SS, ein Stück Friederizianismus. Hitlers Verehrung für Friedrich den Großen ist völlig konsequent; er hatte gute Gründe, sein eigenes Wirken zu demjenigen des großen Preußenkönigs in Parallele zu setzen. Man soll sich hier nicht durch falsche Idealisierungen des Preußentums und seines größten Herrschers irreleiten lassen.

15. Die Deutschen sind „Willens-Metaphysiker“. Der Wille spielt in ihrer Vorstellungswelt eine zentrale Rolle. Seinem Wesen nach ist Wollen ein Prozess, kein Zustand; der Wille, als „Wille zur Zukunft“, wird aus dem Bewusstsein geboren, dass das nicht ist, worauf der Wille zielt, dass es aber — eben durch die Kraft des Willens — realisiert werden kann.

„Wille“ und „Werden“ hängen zusammen; der Wille ist nicht, er geschieht, um das zitierte Nietzsche-Wort über die Deutschen abzuwandeln. Der „deutsche Wille“ ist aufs „Übermorgen“ gerichtet. In einem Nachlassfragment von 1885 schreibt Nietzsche: „(…) wir Deutschen wollen etwas von uns, was man von uns noch nicht wollte — wir wollen etwas mehr!“ Worin dieses „mehr“ besteht, darüber wird sich kaum ein Konsensus erreichen lassen; die Nazis haben es auf ihre Weise interpretiert und zu leben versucht.

Bei Schopenhauer und Nietzsche ist „Wille“ der Zentralbegriff der philosophischen Weltauslegung; beide sind, obwohl sie es zurückweisen, von Fichte und Schelling beeinflusst. Letzterer muss als der eigentliche Begründer der Metaphysik des Willens angesehen werden, die als die „deutsche Philosophie“ schlechthin gelten kann.

In den Reden Hitlers und anderer Nazis taucht das Wort „Wille“ unzählige Male auf; es ist in der Tat ein Schlüsselwort, ein die deutsche Seele kennzeichnendes und aufschließendes Wort. „Den lieb ich, der Unmögliches begehrt“, heißt es in Faust II.

Das ist „echt deutsch“ gedacht: das Wollen des Unmöglichen oder unmöglich Scheinenden. Der deutsche Wille zeigt Tendenzen zum Willensfanatismus, zur Verkrampfung, zur Sturheit, zum trotzigen „Dennoch“ und „Jetzt erst recht“. Auf ihre Weise waren sowohl Nietzsche als auch Hitler Willensfanatiker; beide sahen im Willen eine „Welt-Konstituente“ und vertrauten auf die nachgerade magische Kraft des eigenen Willens, in der angenommenen Übereinstimmung mit einem übergeordneten, kosmischen Willen.

16. „Es kennzeichnet die Deutschen, dass man über sie selten völlig unrecht hat“ (Nietzsche). Die Deutschen sind widersprüchlich, eine Eigenschaft, die alle anderen Eigenschaften zu relativieren vermag. Je nach Blickwinkel kann die „Widerspruchsnatur“ der Deutschen ihrerseits der „irrationalen“ Komponente der deutschen Seele zugeordnet werden, also Punkt 11 des hier skizzierten „Eigenschaften-Katalogs“.

Es sei noch einmal betont, dass hier lediglich zusammengetragen wurde, wie in Deutschland selbst und im Ausland in den letzten beiden Jahrhunderten über den deutschen Geist geurteilt worden ist. Die Ergänzungsbedürftigkeit dieses Katalogs versteht sich gleichsam von selbst. Was die Zeit nach 1945 hier an Strukturwandlungen gebracht hat, gehört zur Wirkungsgeschichte Hitlers und des Nationalsozialismus, zu der eingangs erwähnten deutschen Misere der Nachkriegszeit.


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