Die Konrad-Adenauer-Stiftung ist mit der Evangelischen Kirche in Deutschland zufrieden. Auf ihrer Webseite — geziert mit dem Foto eines Soldatengottesdienstes im Wald — schreibt die der CDU nahestehende „Bildungseinrichtung“:
„Mit ihrer neuen Friedensethik hat die Evangelische Kirche in Deutschland einen wichtigen Schritt zur Verwirklichung der Zeitenwende im gesellschaftlichen Diskurs getan.“
Die Stiftung räumt zwar ein, dass diese Ethikwende nicht überall auf Zustimmung stößt. Doch anstatt zu einem echten Dialog mit den Kritikern aufzurufen, lautet ihre Schlussfolgerung lediglich, man müsse den Zweifelnden die „Zeitenwende“ — die nun nach den Thronen offenbar auch die Altäre erobert hat — einfach noch besser erklären:
„Zugleich zeigen die zahlreichen ablehnenden Stimmen in der christlichen Friedensbewegung, dass die dramatische sicherheitspolitische Lage noch klarer kommuniziert werden muss, um das Bewusstsein für Resilienz und Verantwortung weiter zu schärfen.“
Wer so plump von den Falschen belobigt wird, sollte sich Gedanken machen, ob an dem von ihm eingeschlagenen Weg nicht etwas falsch sein könnte. Dabei war die Idee Martin Luthers an und für sich eine zutiefst befreiende: Eine zweite Kirche neben der ersten, der katholischen, die auf einen „unfehlbaren“ religiösen Alleinherrscher, den Papst, verzichtet; in der Frauen Priesterinnen werden können und das Zölibat für niemanden mehr Zugangsvoraussetzung für ein kirchliches Amt ist. Eine Kirche, die aus Protest gegen den schäbigen Ablasshandel zu Luthers Lebzeiten die „Freiheit des Christenmenschen“ hervorhob — die Befreiung von den Fesseln leerer Pflichthörigkeit, weil der Mensch allein durch Glauben und Gottes Gnade gerechtfertigt sei. Eine Kirche, die auf etwas langweilig wirkende Weise behaglich wirkte und gerade dadurch für Millionen Menschen zu einer geistigen Heimat wurde.
Ein rhetorischer Balanceakt
Besagte Evangelische Kirche macht sich nun gemein mit der militaristischen Zeitenwende unter den beiden wahrscheinlich schlechtesten deutschen Kanzlern, Olaf Scholz und Friedrich Merz. „Es ist nie zu spät für einen neuen Weg“, sang der österreichische Liedermacher Peter Cornelius. Dieser neue Weg ist prägnant zusammengefasst in der „Friedensdenkschrift 2025 der EKD“.
Ziel der Denkschrift ist es, „sowohl dem christlichen Ideal der Gewaltfreiheit als auch den komplexen gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen angesichts der aktuellen Weltlage gerecht zu werden. Die Denkschrift markiert dabei eine deutliche Neuausrichtung der protestantischen Friedensethik.“ Man kann aber nur entweder töten oder nicht töten. Wie man das Ideal der Gewaltfreiheit mit militärischer Gewalt in Übereinstimmung bringen will, bleibt ein rhetorischer Balanceakt. Der Klassiker aus dem Repertoire christlicher Waffensegnungen ist auch hier wieder dabei: die These, die Bergpredigt — „Selig sind die Friedfertigen“ — sei ja ganz gut und schön, eigne sich aber nicht zur praktischen Umsetzung in der Realpolitik.
„Jesu Bergpredigt ist zentrale Orientierung für christliches Handeln. Aber die Bergpredigt kann keine Gesellschaft organisieren in einer unerlösten Welt, die auch von Gewalt geprägt ist. Es braucht Gesetze, Gerichte und notfalls Militär, um Eskalationen der Gewalt zu stoppen.“
Gerechter Frieden durch gerechten Krieg?
Somit besteht die Kompromisslösung der Kirche im Konzept des „gerechten Friedens“. In der Broschüre heißt es:
„Frieden kann jedoch nur da gedeihen, wo es auch eine gerechte Ordnung gibt. Ist sie bedroht, kann es sein, dass sie durch Zwangsmaßnahmen gegen Angriffe geschützt werden muss — etwa, wenn ein Aggressor ein Nachbarland überfällt, wenn Terroristen Zivilist*innen ermorden oder wenn ein Diktator sein Volk unterdrückt.“
Das klingt auf den ersten Blick nachvollziehbar, hat aber seine Tücken. Denn im Ernstfall dürften Machtpolitiker diese evangelischen Passvorlagen nur allzu gern in bellizistische Torerfolge verwandeln. Überall, wo Gerechtigkeit bedroht ist — oder wo die Regierung dies behauptet — dürfte demnach in Zukunft gewaltsam interveniert werden. Überall auf der Welt, wo Krieg herrscht, wo Menschen unterdrückt und getötet werden, entstünde für Christen somit die Pflicht zum gewaltsamen Eingreifen.
Der Wunsch der Autoren nach einer besseren Welt ist menschlich verständlich — es besteht aber die Gefahr, dass Gewaltverzicht dann nur noch in einer Welt möglich wäre, in der Menschenrechte, Freiheit und soziale Gerechtigkeit in Reinkultur verwirklicht sind — faktisch also nirgendwo.
Es ist jene für die westliche Politik typische Logik, wonach Freiheit erzwungen und Frieden herbeigebombt werden dürfe. In der Theorie mag das manchmal funktionieren, wenn politische Hardliner argumentieren, man müsse eben zuerst Krieg führen, damit hinterher ein gerechter Frieden blühen könne. In der Praxis führt derartiger Gütebellizismus jedoch oft zu furchtbaren Folgen.
Abgeschlagene Ohren und hingehaltene Wangen
Die EKD tritt für die „Anerkennung der Tatsache“ ein, „dass zum Schutz vor Gewalt notfalls auch Gegengewalt nötig ist.“ Das ist die Logik des Petrus, der in der Nacht, als Jesus verhaftet wurde, einem römischen Soldaten das Ohr abschlug. Jesus soll laut Matthäus-Evangelium dazu gesagt haben: „Stecke dein Schwert wieder an seinen Ort! Denn wer zum Schwerte greift, wird durchs Schwert umkommen!“ Wie er das gemeint haben könnte, darüber lohnt das Nachdenken. Sicher ist die Forderung Jesu, „nicht zu widerstehen dem Bösen“, schwer umsetzbar. Wenn aber die Kirche, Statthalterin der christlichen Lehre, das glatte Gegenteil dessen verkündet, was der Religionsstifter nahegelegt hat, so liegt darin für mich ein Akt von nicht zu überbietender Chuzpe. Wenn sich nicht einmal mehr die evangelische Kirche am Evangelium orientiert — an wen sonst sollte man sich halten?
Die Kirche akzeptiert radikalen Pazifismus nur als „eine persönliche Entscheidung Einzelner“. „Denn die Erfahrung zeigt, dass ganze Gesellschaften in einer ‚erlösungsbedürftigen‘ Welt“ nicht gewaltfrei funktionieren und sich gegen bösartige Gewalt schützen müssen.“ Man kann das so lesen: Als Privatperson mag man sich an Jesus orientieren, doch Staatenlenker in Verantwortung sollten sich eher an Petrus halten, der sein Schwert zog. Unzählige Ohren, Arme, Beine und andere Gliedmaßen sind aufgrund dieser Logik in der Geschichte des christlichen Abendlandes seither abgeschlagen oder weggesprengt worden.
Argumente für gewaltsame Notwehr gibt es, gewiss — warum beruft sich die Kirche dann dennoch immer noch hartnäckig auf Jesus Christus, obwohl sie in ihren verteidigungspolitischen Positionen längst näher bei Roderich Kiesewetter steht?
Schließlich heißt es noch immer „Christentum“, nicht „Pistoriustum“, auch wenn man manchmal annehmen könnte, letzteres sei der Fall.
Von imaginären Feinden umzingelt
Zuletzt führt die Denkschrift sogar „die Brutalität unserer Zeit“ an, um zu begründen, warum die deutsche Kriegspolitik selbst brutaler werden sollte. „Der russische Angriff auf die Ukraine“, „der eskalierende Nahostkonflikt“, Konfliktherde auf dem afrikanischen Kontinent … Die Aufzählung suggeriert ein Deutschland, das von Feinden umzingelt ist. Über den deutschen Rechtsstaat schreiben die Autoren: „Von innen greifen ihn Extremist*innen an, von außen autoritäre Regime“. Übersetzt heißt das: Aufrüstung ist nötig wegen des russisch-ukrainischen wie auch des israelisch-palästinensischen Konflikts — die beide mit deutschen Waffen derzeit kräftig befeuert werden. Man muss auch wegen der rechten Regime überall auf der Welt aufrüsten, wer auch immer damit gemeint ist: Orban? Erdogan? Xi Jinping? Trump? Alle Genannten haben eines gemeinsam: Sie bedrohen Deutschland nicht.
Schließlich erweckt der Text den Eindruck, man müsse sogar wegen der AfD aufrüsten, was absurd ist, weil der militärfreundliche Kurs dieser Partei deren Anhänger geradezu als politische Glaubensgeschwister der EKD-Offiziellen ausweist. Es gibt auf dieser Welt quasi keine Umstände mehr, die nicht dringend nach einer Hochrüstung der Bundeswehr verlangen würden — und somit auch nach einem Zusammenstreichen des Sozialstaats, dessen Bewahrung ja gerade Christen besonders am Herzen liegen sollte.
Als sei der Selbstverrat der Kirche damit nicht ohnehin auf die Spitze getrieben, liebäugeln die Verfasser der Denkschrift auch noch mit Atomwaffen. Diese erkenne an, „dass der Besitz von Atomwaffen politisch notwendig sein kann, um die eigene Verhandlungsposition gegenüber Atommächten zu sichern.“ Waffenlieferungen an zu Unrecht angegriffene Staaten seien zwar nicht „Pflicht“, sie könnten „nach gründlicher Einzelfallabwägung aber ethisch verantwortbar sein“. Für die Kirche habe ein freiwilliger Wehrdienst zwar Vorrang. Aber:
„Es fällt in den Verantwortungsbereich des Staates, zu bestimmen, welche Formen dieses Dienstes vorrangig gebraucht werden — bis hin zu einer möglichen Wehrpflicht, sollte dies unabdingbar sein.“
Letztlich ist dies ein moralischer Blankoscheck der Kirche für die Politik, die schließlich selbst am besten wissen müsse, wie viel Gewalt zum Erreichen ihrer Ziele „notwendig“ sei.
Selig sind, die Krieg stiften
Man muss sich wundern. Eine marxistische Organisation, die mehr kapitalistische Ausbeutung fordert, scheint schwer vorstellbar. Eine AfD, die für mehr Migration plädiert — undenkbar.
Feministinnen, die für weniger Frauenrechte eintreten; Muslime, die während des Ramadans tagsüber Schweinefleisch essen; Unachtsamkeit im Namen des Buddha und Vielgötterei unter Berufung auf die Thora — all das wirkt völlig widersinnig und tatsächlich ist mir keine dieser Forderungen je begegnet. Aber Tötungsvorbereitungen im Namen Jesu — das scheint den Argumentationskünstlern in der Evangelischen Kirche inzwischen erstaunlich leicht von der Hand zu gehen.
Es ist leider ein ebenso altbekanntes wie trauriges Phänomen: Alles und jeder nimmt unter gesellschaftlichem Druck die Färbung der Macht an. Die kirchlichen Statements zu „Verteidigungsfragen“ beginnen zwar gelegentlich durchaus mit schönen Versen — der Refrain lautet jedoch jedes Mal: „Wir fügen uns. Wir unterstützen, was die Regierung beschlossen hat.“ Nachdem man die Worte dann eine Weile hin- und hergedreht hat, scheint so gut wie gar nichts mehr der Lehre des Evangeliums zu widersprechen. Man töte zwar nicht gern — doch manchmal, so heißt es, sei es eben nicht zu vermeiden.
Damit wurde die radikale Herausforderung der jesuanischen Friedensethik aber quasi bis zur Unkenntlichkeit entschärft. Die Sachwalter Jesu haben die Aussagen des Religionsstifters so lange relativiert, bis sie sicher sein konnten, dass diese dem militärisch-industriellen Komplex nicht in die Quere kommen würden. Eine bequem gewordene Kirche fühlt sich von schlechten Mächten wunderbar geborgen — um eine Gedichtzeile von Dietrich Bonhoeffer leicht zu variieren:
„Dann muss es eben so sein“
Wie die Evangelische Zeitung unaufgeregt verkündet, lud die Evangelische Akademie Loccum Vertreter der Rüstungsindustrie im Februar 2025 zu einer friedensethischen Tagung (!) ein. „Das wäre früher undenkbar gewesen und schon im Vorfeld abgeräumt worden“, sagte der Studienleiter der Akademie, Thomas Müller-Färber. In der Kirche habe die Rüstungsindustrie bisher als rotes Tuch gegolten. „Doch jetzt sehen selbst die pazifistisch orientierten Kräfte, dass es ohne Waffen nicht geht.“
Auch die amtierende Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Kirsten Fehrs, unterstützt laut dem Portal evangelisch.de „die politischen Bemühungen um eine stärkere Aufrüstung Deutschlands“. Fehrs wörtlich: „So bitter das ist: Der Abschreckungsgedanke kann eben gerade nicht als erledigt angesehen werden, so gern wir alle das wollten.“ Von der Rhetorik bellizistischer Politiker unterscheiden sich die Verlautbarungen der Kirchen-Oberen eigentlich nur noch durch gelegentlich eingeflochtene Wendungen wie „leider“ oder „auch wenn es uns schwerfällt“.
Die Evangelische Kirche Deutschlands erweist sich somit als der Udo Lindenberg unter den religiösen Großorganisationen. Der Deutschrock-Veteran gab gegenüber RTL zu Protokoll: „Wir müssen uns verteidigen können und deswegen müssen wir leider sagen: Ist zwar ein Scheiß, hätten wir uns anders gewünscht. Aber wenn es so läuft, dann muss es ebenso sein.” Abgesehen vom Sprachduktus ist das das gleiche Argumentationsmuster, das auch Kirchenvertreter verwenden.
Der frühere Friedens-Saulus wurde unversehens zum bellizistischen Paulus — sein Damaskuserlebnis war Putins „unprovozierter Angriffskrieg“.
Die „Support the current thing“-Kirche
Nicht alles am evangelischen Nachdenken über Aufrüstung und Wehrpflicht empfinde ich als falsch. Es ist anerkennenswert, dass die Kirche Erwägungen der Art „einerseits — andererseits“ anstellt und ein schwer auflösbares Dilemma konstatiert. Auffällig ist nur, dass das zähe Gewissensringen im Ergebnis dann doch immer wieder in Zustimmung zu den Beschlüssen der Staatsmacht mündet. Wir haben es also nicht mehr mit einer überzeugungstreuen Institution zu tun, die dem Zeitgeist unter allen Umständen trotzt, sondern im Gegenteil: mit einer „Support the current thing“-Kirche. Sie unterstützt alles, was gerade „gängig“ und „angesagt ist“, und man muss eigentlich nur die weitere Meinungsbildung in Medien und etablierter Politik im Auge behalten, um vorhersehen zu können, wie sich die Kirche demnächst zu aktuellen Weltereignissen stellen wird. „Eine feste Burg“ ist Gott in einem bekannten Kirchenlied Martin Luthers — die evangelischen Offiziellen besitzen allenfalls das Durchhaltevermögen einer Sandburg, wenn die Wellen des Zeitgeists gegen sie anbranden.
Warum, so muss man fragen, konnte die evangelische Kirche nicht bei ihrer alten Linie bleiben, die schließlich ebenfalls keine radikalpazifistische war? Warum musste sie einen Kurswechsel vollziehen, über den sich die Hersteller von Tötungsgerät freuen, der aber gerade jene ehrlichen Christen, die an die Friedensbotschaft des Evangeliums glauben, verletzen muss? Ich füge hinzu, dass über die katholische Kirche, die russisch-orthodoxe Kirche sowie andere Religionsgemeinschaften auch einiges zu sagen wäre in Bezug auf das Einknicken vor einem militaristischen Zeitgeist. Ebenso wie es natürlich großartige katholische Pazifisten wie Eugen Drewermann gibt.
Luthers „Werk der Liebe“
Wie kam es zum Phänomen des evangelischen Bellizismus? Schon Martin Luther hinterließ derart krude Äußerungen zum Kriegsdienst, dass man sich über die Irrungen und Wirrungen seiner modernen „Nachfolger“ kaum noch wundern sollte. Symptomatisch dafür ist seine Schrift „Ob Kriegsleute in seligem Stande sein können“ aus dem Jahr 1526. Darin heißt es:
„Obwohl es nicht so aussieht, dass Töten und Rauben Werke der Liebe sind, weshalb ein einfältiger Mensch denkt, das sei kein christliches Werk und gezieme sich nicht für einen Christen, so ist es in Wahrheit doch auch ein Werk der Liebe.“
Man muss diesen Satz mehrmals lesen, weil man zunächst gar nicht glauben kann, dass das wirklich dasteht. Luther begründet seine Theorie vom liebevollen Töten folgendermaßen:
„Es ist so, wie wenn ein guter Arzt, wenn die Krankheit so schlimm und gefährlich ist, Hand, Fuß, Ohr oder Augen abnehmen und entfernen muss, um den Körper zu retten. Wenn man auf das Glied sieht, das er entfernt, scheint er ein grausamer, unbarmherziger Mensch zu sein. Wenn man aber auf den Körper sieht, den er damit erretten will, ergibt es sich, dass er in Wahrheit ein trefflicher, treuer Mensch ist und ein gutes, christliches Werk tut.“
Dieses Argument lässt sich nun auf die große politische Bühne übertragen, auf der die Krieg führende Obrigkeit selbst als wohlmeinender „Arzt“ fungiert, während der Feind als das herauszuschneidende Geschwür dient:
„So ist es auch: Wenn ich das Amt ansehe, das Krieg führt, wie es die Bösen bestraft, die, die Unrecht haben, tötet und solchen Jammer ausrichtet, da scheint es ein durchaus unchristliches Werk zu sein und in jeder Hinsicht gegen die christliche Liebe. Sehe ich aber darauf, wie es die Gerechten beschützt, Frau und Kind, Haus und Hof, Gut, Ehre und Frieden damit erhält und bewahrt, so ergibt es sich, wie wichtig und göttlich das Werk ist.“
Dietrich Bonhoeffer: Frieden muss gewagt werden
Man sieht also: Die Bezeichnung „evangelisch-lutherisch“ hat durchaus ihre Schattenseiten. Der Kirchengründer schuf mit seinen provokanten Gedankengängen argumentative Präzedenzfälle, auf die sich evangelische Priester unter dem Druck ihrer jeweiligen Zeitstimmung nur allzu gern beriefen. Auch unter evangelischen Denkern findet man jedoch eine anerkennenswerte Fülle von Argumenten, die das Evangelium eher in einem pazifistischen Sinne deuteten.
Besonders schwer trug der aufrechte Dietrich Bonhoeffer am „Geist“ seiner Epoche. Bonhoeffer wurde im April 1945 im Konzentrationslager Flossenbürg von den Nazis ermordet. Noch zu Beginn der Regierungszeit Adolf Hitlers war der Theologe und Priester bei einer Konferenz in Schweden gefragt worden, was er im Kriegsfall tun würde. „Ich bitte darum, dass Gott mir dann die Kraft geben wird, nicht zu den Waffen zu greifen“, lautete seine Antwort. Im selben Zusammenhang forderte Bonhoeffer ein großes ökumenisches Konzil „der Heiligen Kirche Christi aus aller Welt“. Er sagte voraus, „dass die Völker froh werden, weil diese Kirche Christi ihren Söhnen im Namen Christi die Waffen aus der Hand nimmt und ihnen den Krieg verbietet und den Frieden Christi ausruft über die rasende Welt.“
Heutige Kirchenvertreter, die sich gern auch als Antifaschisten verstehen, scheinen sich immer weiter von der Absicht zu entfernen, ihren Gläubigen „die Waffen aus der Hand“ zu nehmen. Zu sehr hat sich die Furcht breitgemacht, der „Feind“ könne die Schwäche der westlichen Nationen ausnutzen — und im Ernstfall darf man die Sache mit der „Feindesliebe“ dann natürlich nicht wörtlich nehmen. Eine absolute Sicherheit, dass Friedenspolitik gelingt, kann es freilich nicht geben. Dietrich Bonhoeffer schrieb zu diesem Dilemma eine kluge Betrachtung:
„Es gibt keinen Weg zum Frieden auf dem Weg der Sicherheit. Denn Friede muss gewagt werden, ist das eine große Wagnis und lässt sich nie und nimmer sichern. Frieden ist das Gegenteil von Sicherung. Sicherheiten fordern heißt Misstrauen haben, und dieses Misstrauen gebiert wiederum Krieg.“
Frieden ist ein Wagnis, ja. Aber ist es etwa nicht riskant, eine militärische Eskalation mit vielleicht vielen tausend Toten zu befürworten — einschließlich der Herstellung von Kugeln, die sich am Ende vielleicht mit christlichem Segen in russische Körper bohren?
Margot Käßmann: Selig sind nicht die Krieger
Eine weitere Friedensbewegte unter den prominenten evangelischen Christen ist Margot Käßmann, ehemalige Landesbischöfin von Hannover und für kurze Zeit Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche Deutschlands. In ihrem Aufsatz: „Plädoyer für ein Prima Ratio“ schrieb sie 2015:
„Ich persönlich bin überzeugt, dass die Theologie ebenso wie die Kirche in die Irre gegangen sind, wann immer sie Gewalt legitimiert haben. Jesus Christus war kein Revolutionär mit der Waffe in der Hand. Er hat Frieden gepredigt, nicht Krieg, Feindesliebe, nicht Hass. (…) Die Kirchen haben zum Frieden zu rufen und keine Rechtfertigung für Krieg abzuliefern.“
In Anlehnung an Worte der Bergpredigt, argumentiert Margot Käßmann:
„Selig sind nicht die Krieger und Kriegerinnen, die Heldinnen und Helden, die Freiheitskämpfer und Freiheitskämpferinnen, die Starken und Mutigen, sondern die Armen im Geist, die Leidtragenden, die Sanftmütigen und die, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit, die Barmherzigen, die, die reinen Herzens sind, die Friedfertigen und die Verfolgten.“
Käßmann räumt zwar ein, es stehe „Christinnen und Christen nicht an, jemanden zu verurteilen, der oder die zur Verteidigung der Menschenrechte, seines oder ihres Volkes, der Familie oder seiner oder ihrer selbst Gewalt gebraucht“. Schwer wiegt jedoch ihr „Aber“:
„Aber die Lehre Jesu wird immer in einem scharfen Widerspruch dazu stehen. Jesus hat sich mit den Armen und Schwachen identifiziert, aber er hat keine Gewalt gebraucht, um ihre Situation zu verändern oder um sie oder sich selbst zu verteidigen.“
Christen sollten klarstellen, „dass es für uns keine religiöse Rechtfertigung für Krieg, Verletzung und Folter gibt! Wir können uns nicht für Menschenrechte einsetzen im Namen westlicher Demokratie und unseres christlichen Erbes, wenn Menschen durch die Soldaten unserer eigenen Länder erniedrigt werden.“
„Friedensfähig müssen wir werden“
Bei dieser Linie ist Käßmann bis heute geblieben. Noch im Oktober 2025 sagte sie in einer Rede bei einer Stuttgarter Friedensdemo:
„Verteidigungsminister Pistorius will, dass wir kriegstüchtig werden, und avanciert damit zum beliebtesten Politiker des Landes. Und Roderich Kiesewetter will jetzt den Spannungsfall ausrufen. So wird Kriegsangst geschürt und Vorkriegsstimmung erzeugt. Dagegen sagen wir als Friedensbewegung in der Tradition von Wolfgang Borchert: Nein, nein, wir brauchen keine Abschreckung. Wir brauchen Entspannungspolitik. Wir brauchen keine Hochrüstung mit hunderten Milliarden Euro für Waffen und gleichzeitiger Kürzung der Sozialleistungen. Stattdessen brauchen wir Abrüstung, Verhandlungen, Diplomatie. Nicht Kriegstüchtigkeit ist unser Ziel — friedensfähig müssen wir werden.“
Bedenkenswert auch folgender Satz:
„Ich habe mich schon immer gefragt, warum unser Staat eigentlich das Gewissen derer prüft, die den Kriegsdienst verweigern, aber nicht das Gewissen derer, die Kriegsdienst leisten wollen.“
Jörg Zink: Der Böse ist der „vielleicht Umkehrende“
Auch der evangelische Theologe Jörg Zink (1922–2016) engagierte sich über Jahrzehnte in der Friedensbewegung. In seinen in hoher Auflage verkauften religiösen Sachbüchern überzeugte er vor allem durch seinen tröstlichen Tonfall gereifter Weisheit und Güte und wurde so zu einer Art Seelsorger für Millionen Leser. In seinem Buch „Was bleibt, stiften die Liebenden“ versuchte Zink in aphoristischem Stil unter anderem, das Gebot christlicher Feindesliebe zu präzisieren:
„Sage mir, wie viele und welche Art Feinde du hast, und ich sage dir, was in dir selbst am dringendsten der Erlösung bedarf. (…) Nehmt das Böse zurück, das ihr auf eure Feinde gelegt habt. Vielleicht könnt ihr dann in Frieden leben mit euch selbst. (…) Liebet den Feind. So schält sich aus dem Feind der Mensch heraus, der er wirklich ist, und ihr könnt mit ihm reden. (…) Liebt ihn heraus aus der Maske des Feindes. (…) Ich möchte mit dir zusammen das Böse gut-lieben, damit Frieden entsteht unter den Menschen.“
Die Logik der Konfrontation verwarf Jörg Zink:
„Wenn du Gewalt in Worten oder Drohungen mit Gewalt in Worten und Drohungen beantwortest, magst du immer behaupten, es gäbe kein anderes Mittel, aber sei dir klar darüber: Du befestigst nur das System der Gewalt, dessen er sich bedient, und nichts Neues, nichts Erlösendes kann durch dich geschehen.“
Mit Blick auf heutige politische Großkonflikte ist auch dieses Zitat lesenswert:
„Nicht, ob wir das Böse gewähren lassen oder eindämmen, ist die Frage. Vielmehr: Welches Mittel taugt zu seiner Überwindung.“
Strafe, Rache und nicht endende Schuldzuweisung sperren einen Menschen quasi in seinen vergangenen Handlungen ein — es käme aber darauf an, einen konstruktiven Ausweg aufzuzeigen.
Zink fordert, man müsse dem schuldig gewordenen Menschen „helfen, sich zu ändern. Ich darf ihn gerade nicht aufgeben, ihn nicht den Folgen seines Tuns überlassen. Ich muss ihn so sehen, wie er sein könnte. Ich darf ihm nicht seine Zukunft versperren, nur weil mir seine Vergangenheit böse scheint. Er ist nicht der Böse, sondern der vielleicht Umkehrende.“
Jürgen Fliege: Auch Russen sind unsere Brüder
Noch heute friedensbewegt ist auch der ehemalige Fernsehmoderator, Pfarrer und Manova-Autor Jürgen Fliege. Von ihm gibt es eine Fülle bemerkenswerter Äußerungen über Krieg und Frieden, die seine öffentliche Tätigkeit gerade in der dunklen Ära der „Kriegstüchtigkeit“ wertvoll machen. Fliege zeigte sich bei einer Rede auf der Münchener Friedenskonferenz am 1. September 2024 besorgt über die Zukunft seiner gerade geborenen Enkelin Paula. Wird diese auf ihrem neuen Heimatplaneten eine Welt von Brüdern und Schwestern vorfinden?
„Denn eine unserer ältesten Wurzeln ist die Wurzel, dass man mit allem, was lebt, schwesterlich und brüderlich umgeht. (…) Und das bedeutet, dass man nicht mehr sagen kann: Alle Menschen werden Brüder – aber die Russen nicht.“
Fliege erinnert an die Aufforderung Jesu, den „Balken im eigenen Auge“ zu erkennen, die Schuld an Konflikten also als erstes bei uns selbst zu suchen.
Die Kriegstoten mahnen uns
Den Kriegstreibern schleudert Jürgen Fliege ein klares „Nein!“ entgegen:
„Wir haben es mit einer religiösen Sekte zu tun, die behauptet: Wenn wir unsere Kinder opfern, gibt es Frieden. (…) Und so kommen die Priester und die Kardinäle in Camouflage in unsere Schulen. Sie kommen bald in unsere Kindergärten. Sie kommen auf jedem Stadtfest und wollen, dass wir Erlaubnis geben, dass sie unsere Kinder ins Feuer schicken dürfen. (…) Wenn sie also kommen in deine Stadt, wenn sie an deiner Tür klingeln, wenn sie bei deinen Kindern in der Schule sind (…), dann musst du sagen: nein.“
Für den Frieden aufzustehen sei eine Verpflichtung, die uns von den Toten der bisherigen Kriege mit auf den Weg gegeben wurde:
„Mach kurz die Augen zu und sieh, dass die ganzen Friedhöfe voller gefallener Soldaten um dich herumstehen und sagen: Du musst es sagen. Du sagst es für uns. Du sagst es für die, die schon im Feuerofen waren und verbrannt sind. Sag nein!“
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