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Tugend-Terror im Netz

Tugend-Terror im Netz

Mit Hilfe eines vermeintlich ethischen Verhaltenskodexes wollen neoliberale Denkfabriken die freie Software ausrotten.

Der Rücktritt

Am 17. September trat Richard Stallman, der Urvater der „Freie-Software-Bewegung“, als Präsident der Free Software Foundation (FSF) zurück. Außerdem gab er seine Tätigkeit am Massachusetts Institute of Technology (MIT) auf. Grund dafür ist eine missverständliche Äußerung zum Fall Jeffrey Epstein.

Der 2016 verstorbene MIT-Professor Marvin Minsky, Pionier auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz (KI), soll auf Epsteins Insel Sex mit einer 17-jährigen gehabt haben. Richard Stallman verurteilte die mediale Berichterstattung zu Minsky wegen der Verwendung des Wortes „assaulting”, was so viel heißt wie Angriff, Gewalt, Körperverletzung. Stattdessen plädierte er für den Begriff „accusation” — Vorwurf, Anklage, Beschuldigung —, also ohne „moralische Unschärfe“. Daraufhin geriet Stallman selbst in die Kritik — bis zum Rücktritt.

In vielen Medienberichten wurden Zitate aus Stallmans E-Mail aus dem Kontext gerissen und ausgeschlachtet. Im Forum des renommierten Heise Computer-Verlags erhielt die Mitteilung knapp eintausend Kommentare. Einige Diskutanten verteidigten ihn für seine gesellschaftlichen Verdienste. Durch andere wurde die Frage des „Täter- oder Opferschutzes“ aufgeworfen. Wieder andere kritisierten Stallman für seine langjährigen exzentrischen Verhaltensweisen und meinten, dass das Maß voll gewesen sei. Ein Kommentator zieht den Schluss:

„Ich möchte dazu weiter gar nicht viel sagen, aber diese ‚cancel culture‘ unter Führung eines selbstgerechten Tugendmobs auf Twitter (und generell in den sozialen Medien) muss wirklich ein Ende haben — dieser Trend digitaler Hexenjagden, im Zuge derer ganze Existenzen aufgrund einiger unbedachter Worte zerstört werden, darf sich nicht weiter fortsetzen!“

Ich halte fest:

  • Richard Stallman selbst hat sich nicht schuldig gemacht: Er hat lediglich die Verwendung eines anderen Wortes in Berichten über Minsky vorgeschlagen.
  • Das brachte ihm moralische Vorwürfe und kostete ihn Job und Renommee.

Ob man solche Reaktionen als maßvoll und angemessen bezeichnen kann, darf jeder für sich entscheiden.

Die Entstehung der Freien Software

Was hat diese Meldung nun mit uns allen zu tun? Und wer ist Richard Stallman überhaupt? Haben derlei Vorgänge Auswirkungen auf die Entwicklung und Verwendung freier Software?

Freie und Open Source Software (OSS) nutzt heutzutage quasi jeder. Man kann sie kostenlos kopieren, weitergeben, verändern. Dies ist nur möglich, weil der Quelltext eines Programmes frei verfügbar ist. So ist man unabhängig vom Hersteller und kann ihn beispielsweise auf Sicherheitslücken prüfen.

Bekannt ist die Freie Software durch Büropakete wie LibreOffice, den Firefox-Webbrowser oder das GNU/Linux Betriebssystem. Die Debian-Linux-Distribution wird in Servern und den meisten Rechenzentren weltweit eingesetzt. Viele von CD-ROM oder USB-Stick startbaren Live-Systeme basieren darauf. Mobiltelefone mit Android, der Fritz!Box-Router zu Hause und zukünftige Haushaltsgeräte nutzen Linux. Selbst Microsoft — alleine gegen die Welt — kann sich dem Trend nicht entziehen. Sein Windows-Betriebssystem wird in einigen Jahren voraussichtlich nur noch als virtuelle Maschine auf einem Linux-Kern laufen. Das erwähne ich, um deutlich zu machen, welche Bedeutung freie Software heutzutage für uns hat.

Historisch gesehen gehen ihre Wurzeln zurück bis in die 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Vor allem an wissenschaftlichen Einrichtungen tauschte man gerne kleinere Programme aus. Im Jahre 1983 begann Richard Stallman die Entwicklung des freien Betriebssystems GNU. Der noch fehlende Betriebssystem-Kern wurde 1991 durch den finnischen Studenten Linus Torvalds beigesteuert, weswegen das Gesamtbetriebssystem korrekt „GNU/Linux“ heißt. Seither sind Tausende von freien Softwareprojekten entstanden, welche seit Jahrzehnten prosperieren.

Ginge es nur um Richard Stallman, so könnte man es dabei belassen. Doch zwei Wochen vor seinem Rücktritt, also Ende August, tauchte ein zusammengeschnipseltes Video auf YouTube auf, das neben ihm auch Linus Torvalds, den Linux-Gründer, öffentlich lächerlich zu machen versucht. Auf einer Podiumsdiskussion zur Softwareentwicklung werden plötzlich Fragen zu Tierrechten gestellt und eine Positionierung eingefordert. Sind das nur besorgte oder deplatzierte Teilnehmer? Ist diese Politisierung Zufall oder Absicht? Ist dies die späte Rache des Systems? Es scheint um Prinzipielles zu gehen.

Cancel Culture

Spinnt man diesen Faden weiter, so fällt es nicht schwer, sich vorzustellen, wie ein solch psychologisch trickreicher Vorgang auch zur Zersetzung von Software-Projekten genutzt werden könnte:

  • Man verknüpft Projekte und ihre Communities mit fachfremden Fragen zu Menschenrechten, Frauenrechten, LGBTQ, Tierrechten oder Ähnlichem.
  • Diese Fragen werden in entsprechenden E-Mail-Verteilerlisten oder Foren aufgeworfen.
  • Eine Diskussion entbrennt.
  • Einzelne, teils langjährige, zentrale Mitglieder und Entwickler werden ob ihrer neutralen Haltung ausgegrenzt oder diffamiert und verlassen das Projekt.

Simpel und wirksam. Ein digitaler Lynchmob oder moderne Hexenjagd. Zusammengefasst das altbekannte Prinzip: Distanzierung, Abgrenzung, Zersetzung. Das kennt man ja von Occupy Wallstreet, den Montagsmahnwachen 2014 und anderen Bewegungen.

Aus dem Kulturbetrieb ist ein derartiges Vorgehen seit der #MeToo-Bewegung 2017 in den USA bekannt. Hier spricht man von „Cancel Culture“. Leider werden auf diese Weise oft auch Künstler, Kritiker oder generell Andersdenkende stumm geschaltet und boykottiert. Polarisierung und Hetze statt zwischenmenschlicher Kommunikation. Merkwürdige Zeiten.

Zurück zur Software. Eine zunehmende Zahl von Projekten ist bereits betroffen, vor allem aber jene, die sich einem sogenannten „Verhaltenskodex“ unterworfen haben.

Kommunikationskultur bis hin zur Streitschlichtung

Jahrzehntelang war es in der Open Source Entwicklergemeinde üblich, Meinungsverschiedenheiten auf direktem Wege zu klären. Dies konnte mitunter zu harten Auseinandersetzungen in Foren oder E-Mail-Verteilern — Mailing List — führen. Manchmal arteten sie aus in so genannte „Flammenkriege“ — Flamewars —, selten auch mit Beleidigungen. Immerhin waren danach die Positionen geklärt und es wurde ein Konsens gefunden oder demokratisch entschieden.

Ich persönlich bin in diesen Kreisen niemals auf Äußerungen gestoßen, die jemanden hinsichtlich seiner Ethnie, seines Geschlechts, seiner Nationalität oder Ähnlichem verunglimpft hätten. Knallharte Diskussionen ja, meist faktenbasiert, teils emotional. Aber nicht diskriminierend.

Dazu muss man wissen, dass die Entwickler-Teams seit jeher völlig bunt gemischt international zusammengesetzt sind und Englisch kommuniziert wird. Wenn der Australier das Licht ausknipst, fängt der Brasilianer gerade an zu coden. Wer sich freiwillig in solch ein Projekt begibt, um an der Software mitzuarbeiten, und dabei seine Freizeit opfert, dem ist an der Sache gelegen.

Für scheinbar unlösbare Meinungsverschiedenheiten hatten sich manche Projekte, so auch die Linux-Kernel-Community, ein „Streitschlichtungsverfahren“ — Code of Conflict —, ausgedacht, um festzulegen, wie mit Konflikten umzugehen sei.

Erste Verschärfung: Verhaltenskodex

Als Steigerung schlug im Jahre 2014 eine Software-Entwicklerin namens Coraline Ada Ehmke einen allgemeinen „Verhaltenskodex“ — Code of Conduct — vor, dessen Prinzip mittlerweile von 200.000 Open Source-Projekten, darunter vielen namhaften, angenommen wurde, obwohl es in Entwicklerforen schon 2015 überaus kritische Reaktionen gab. Auch Linus Torvalds stimmte nach längerem Zögern schließlich zu. Nunmehr sollten nicht nur das Vorgehen im Streitfall, sondern allgemein die Umgangsformen fest definiert werden.

Im Kodex wird auf den alarmierenden Mangel an Diversität hinsichtlich Geschlecht, Hautfarbe und anderen Merkmalen in den Projekten hingewiesen. Um solche Randgruppen — marginalized populations — besser zu integrieren, wird vorgeschlagen, die Entwickler eine „Vereinbarung“ — Contributor Covenant — unterschreiben zu lassen, in der sie sich auf den Kodex verpflichten.

Zugleich soll stets eine Kontaktadresse angegeben werden, um Verstöße gegen den Kodex melden zu können. Projektleiter werden dazu angehalten, sich für die Durchsetzung des Kodex stark zu machen. Über diejenigen, die Vorfälle gemeldet haben, soll Verschwiegenheit bewahrt werden. Der Verhaltenskodex soll sowohl innerhalb des Projektbereichs als auch in öffentlichen Bereichen gelten, wenn eine Person das Projekt oder seine Gemeinschaft repräsentiert.

Das Problem der Anonymität

Was bedeutet das konkret? Wenn sich jemand missverständlich äußert, dann kann es ihm ergehen wie dem eingangs erwähnten Richard Stallman, und er kann zum Austritt aus einem Projekt genötigt werden. Getestet wurde dies bereits im Jahr 2015 unter Anderem im Projekt „Opal“, wo Frau Ehmke den Ausschluss eines Entwicklers forderte. Immerhin tat sie dies noch öffentlich, was gemäß Kodex nicht nötig gewesen wäre. Denn während man früher mit offenem Visier diskutierte, ist anonymes Anschwärzen durch die Verschwiegenheitsklausel nun gestattet.

Wo liegt der Unterschied zur aus dem Web bekannten „Netiquette“, die ebenfalls Umgangsformen definiert? In der Anonymität! Auch dort können permanente Störer durch einen Administrator beispielsweise aus einem Diskussionsforum ausgeschlossen werden. Allerdings erfolgt das alles transparent und beide Parteien kennen einander. Nicht so beim im Verhaltenskodex vorgeschlagenen anonymen Anschwärzen.

Wo liegt die Gemeinsamkeit zur Seilschaft der Administratoren in der Wikipedia? In der Anonymität! Auch dort gibt es ja Regeln, die jedoch seit Jahren durch reine Willkür bestimmter Administratoren gebrochen werden.

Modelle der Zusammenarbeit

Ich will das nochmals verdeutlichen. In der Open Source Community gibt es drei klassische Entwicklungsmodelle:

  • den „Benevolent Dictator“ — den wohlwollenden Diktator als hierarchische Entscheidungsstruktur, zum Beispiel Linus Torvalds in der Linux-Kernel-Community;
  • das „Committee“ — die gewählte Regierung, die gemeinsam Entscheidungen trifft, zum Beispiel die Debian-Linux-Distribution oder Apache Software Foundation (ASF);
  • die „Meritocracy“ — die Herrschaft der Verdienstvollen mit flexibler Struktur und wechselnden Leitern, wo die Richtung des Projekts durch denjenigen am meisten beeinflusst wird, der viel Quelltext beiträgt.

Keines (!) dieser drei Entwicklungsmodelle kann verhindern, dass ein verdienstvoller Programmierer aus vorgeschobenen Gründen aus einem Software-Projekt ausgeschlossen wird, das sich dem Verhaltenskodex unterworfen hat. Es kann sogar sein, dass jemand ein Projekt gründet, Jahrzehnte lang hart daran arbeitet, aber dann von einer meuternden Community, vielleicht Leuten, die neu dazugekommen sind, aus fadenscheinigen Gründen aus dem Projekt gedrängt oder zumindest diszipliniert wird.

So wie vor einem Jahr Linus Torvalds, der sich reumütig für sein unprofessionelles Benehmen entschuldigte und eine Auszeit nahm, um sein Verhalten zu ändern. Oder um sein Lebenswerk nicht zu gefährden? Komische Zeiten.

Sind denn wirklich alle Genies so bösartig oder sind/waren es, zumindest bis vor Kurzem, einfach die letzten Menschen mit Charakter, die noch frei aussprachen, was sie dachten? Technikverliebte, die ihre Projekte einfach frei halten wollten von persönlichen Befindlichkeiten und politisch korrektem Gerede?

Die ihre Wertschätzung am praktischen Beitrag zum Projekt festmachten? Die Meritocracy wurde von Frau Ehmke übrigens schon 2015 ins Visier genommen und als „entmenschlichend“ — dehumanizing — bezeichnet.

In einigen Artikeln wird bereits die Frage diskutiert, wie weitreichend die Konsequenzen eines Ausschlusses sein sollten, also ob er beispielsweise weitere Ausschlüsse aus anderen Communitys nach sich ziehen sollte. Ein Bericht dokumentiert den Fall eines Ingenieurs, der nicht nur den Zugriff auf Projektressourcen und E-Mail-Verteiler verlor, sondern dem zugleich Konten auf fremden Portalen gekündigt wurden.

Zur Erinnerung: Kein Gericht hat hierüber befunden. Auch ist selten ein Unternehmen mit Arbeitsvertrag involviert. Lediglich eine Community entscheidet. Manch einen mag das an chinesische Verhältnisse erinnern, wo ein digitales Punktesystem das Sozialverhalten der Bürger bewertet und über sie entscheidet. Die Erstellung einer Übersicht prominenter Fälle ist eigentlich längst überfällig.

Zweite Verschärfung: Hippokratische Lizenz

Seit diesem Jahr, 2019, gibt es eine weitere Steigerung: die so genannte „Hippokratische Lizenz“ –Hippocratic License. Zur Erinnerung: Der Eid des Hippokrates ist auch bekannt als Ärztegelöbnis zur Ethik. Diese neue Open Source-Lizenz wurde wiederum von Coraline Ada Ehmke vorgeschlagen.

Was ist unter einer Open Source-Lizenz allgemein zu verstehen? Der Entwickler einer Freien oder Open Source Software behält als deren Autor sein Urheberrecht — Copyright —, stellt sie aber zusätzlich unter eine Lizenz. Das besondere einer solchen Lizenz ist, dass sie nicht proprietäre Eigentumsrechte des Autors am Quelltext sichert, sondern im Gegenteil dessen freie Verwendung, was auch mit „Copyleft“ bezeichnet wird.

Es gibt zwei bekannte Lizenzarten:

  • Freie Software steht in der Regel unter der GPL-Lizenz. Sie beinhaltet den – positiven — viralen Effekt, dass abgeleitete Software wieder frei sein muss.
  • Andere Open Source-Software steht meist unter einer BSD-artigen Lizenz. Sie gestattet eine Verwendung auch in proprietärer Closed Source Software.

Drittens könnte man vielleicht noch die aus der Wikipedia bekannten Creative Commons-Lizenzen erwähnen, die aber hauptsächlich auf künstlerische Werke, mediale Inhalte und Dokumentationen Anwendung finden.

Die vorhin erwähnte, neu vorgeschlagene „Hippokratische Lizenz“ ist zunächst abgeleitet von der BSD-artigen, bewährten MIT-Lizenz für Open Source Software. Sie ergänzt selbige jedoch um einen Abschnitt. Und dieser verbietet — sinngemäß — einen Einsatz von unter die Hippokratische Lizenz gestellter Software durch Personen, Unternehmen, Regierungen oder andere Gruppen für Systeme oder Aktivitäten, die andere Personen oder Gruppen gemäß UNO-Menschenrechtskonvention verletzen könnten. Und dies nicht nur physisch, sondern auch mental oder im Hinblick auf die allgemeine Gefühlslage.

Einschätzung

Ein Verbot des Einsatzes von freier Software, weil sich jemand verletzt fühlen könnte? Wer um Himmels willen soll das bitteschön kontrollieren? Einer rein willkürlichen Auslegung wären damit Tür und Tor geöffnet. Dies ist ein Versuch, die Entwicklung und Verwendung freier Software mit schwammigen Umschreibungen zu behindern.

Die Spin Doctors in den Think Tanks unserer „Eliten“ haben wieder einmal ganze Arbeit geleistet. Das muss man ihnen lassen. Aber die Masche wiederholt sich und fliegt langsam auf. Ihr Vorsprung schmilzt dahin. Sie möchten ja Gewalt und damit Gegenreaktionen weitestgehend vermeiden, von Ausnahmen wie den aktuellen Gelbwestenprotesten in Frankreich einmal abgesehen. Stattdessen versuchen sie, aktuelle Entwicklungen und Strömungen zu erspüren, zu vereinnahmen und umzukehren.

Das UNO-Gewaltverbot beispielsweise wird in Vorträgen oft zitiert, um auf die Illegalität der US-geführten Kriege hinzuweisen. Nun dreht das System den Spieß um und nutzt die UNO-Menschenrechtserklärung als Argument, um Software-Projekte und die Entwicklergemeinden dahinter zu zerstören.

Viele dieser Entwickler opfern seit Jahren ihre Freizeit, um der Gemeinschaft und Gesellschaft etwas zu schenken, nämlich geniale Programme, völlig gratis. Nun sollen sie durch künstlich in die Projekte hineingetragene, artfremde Themen dazu gezwungen werden, sich zu positionieren. Spaltung vom Feinsten. Zukünftig dürfen also Fleischkonsumenten und Veganer nicht mehr gemeinsam Software entwickeln. Das sind ja wundervolle Aussichten!

Das Perfide an der Sache ist, dass sich vor allem junge Menschen leicht durch vorgeschobene ethisch-moralische Gründe beeindrucken lassen und daraufhin hitzig für einen Ausschluss missliebiger Personen einsetzen. Doch damit verengen sie den Meinungskorridor noch weiter für die Gesellschaft, in der sie dereinst selbst werden leben müssen.

Das Reifen dieser Erkenntnis braucht seine Zeit.

Leute, seid tolerant und lasst Euch nicht aufwiegeln und spalten! Wir brauchen auch weiterhin ein freies Internet. Und das basiert, neben frei verfügbaren Standards, auf: Freier Software.

Verborgene Absichten?

Doch aus welchem Grunde sollte freie Software zerstört werden, wo doch alle, auch heutige Unternehmen, von ihr abhängen? Dies hat sich mir noch nicht vollends erschlossen und wir geraten hier in den Bereich der Spekulation. Aber weise Voraussicht schadet nicht. Bedenkenswert sind eventuell die folgenden Punkte:

Sind nur noch systemkonforme Mitarbeiter im Projekt, so kann ein Staat oder Unternehmen leichter Einfluss nehmen und es in die von ihm gewünschte Richtung lenken.

Sinkt die Qualität freier Software, zum Beispiel durch Projektaustritte von Hauptentwicklern aus oben genannten Gründen, so wird sie schrittweise ersetzt durch proprietäre. Das Rad der Geschichte würde sich zurückdrehen. Bekannte Folgen: geschlossener Quelltext, hohe Kosten, Sicherheitslücken, Überwachung, Inkompatibilität, Abhängigkeit.

Um die Lizenz einer Open Source-Software zu ändern, müssen alle Autoren — also Copyright-Inhaber — zustimmen, was extrem aufwändig ist. Um Lizenzwechsel zu erleichtern, wurde daher in einigen Projekten das Copyright übertragen auf eine Organisation wie zum Beispiel einen eingetragenen Verein. Dadurch wäre es denkbar, dass eine solche Organisation sich dazu entschließt, die „Hippokratische Lizenz“ oder ihr ähnliche schwammige Klauseln einzuführen. Wer sich widersetzt, wird geächtet oder eliminiert.

Gar nicht denken mag man in diesem Zusammenhang an eine gesetzlich verankerte Pflicht. Denn dann wären jegliche Kreativität und Freiheit zur Entfaltung eingeschränkt und in Gefahr. Nach Einführung der neuen Lizenz dürfte die Software nicht mehr frei verwendet werden, wenn irgendwelche — angeblich — ethischen Gründe dagegensprächen. Der Schritt zur proprietären Software ist dann nicht mehr weit.

Ohne freie Software kein freies Internet. Entgegen dem von der Politik proklamierten freien Internetzugang für alle als Menschenrecht, hätten wir dann höhere Kosten sowie noch mehr Kontrolle und Überwachung durch Staaten und Geheimdienste.

Was ist zu tun?

Wie könnte ein — zumindest vorläufiger — Ausweg aussehen?

Für Freie und Open Source Software-Projekte heißt das ganz klar: Wenn Ihr als Projektgründer, Administrator oder Entwickler die Kontrolle über Euer Projekt behalten und seine Freiheit sichern wollt, dann Finger weg von „Code of Conduct“ und „Hippocratic License“! Auch wenn viele Nachrichten-Portale auffällig positiv über die Verbreitung des „Code of Conduct“ schreiben, so gibt es gleichwohl kritische Stimmen, die meinen, er führe zum Duckmäusertum. Die Lizenz wird in manchen Foren als Heuchler-Lizenz — Hypocrite License — bezeichnet. Die Open Source Initiative (OSI) stufte sie kürzlich als nicht konform mit der Open Source Definition ein.

Ist eine Community bereits heillos zerstritten, so bliebe nur, mit einer Quelltextkopie — was dank Open Source ja möglich ist — ein neues Projekt aufzusetzen. Jedoch ist der Aufwand nicht zu unterschätzen und Ressourcen rar, wie jeder erfahrene Entwickler weiß. Jedenfalls würde es den Entwicklungsprozess für lange Zeit ins Stocken bringen.

Ich vermute, dass in den einschlägigen Denkfabriken, die bekanntermaßen langfristig und in Jahrzehnten planen, bereits fieberhaft nach weiteren Spitzfindigkeiten gesucht wird, die Freiheit von Software und Gesellschaft zu torpedieren. Also heißt es auch weiterhin: Wachsam bleiben!

Außerdem sollten auch jene, die meinen, nichts zu verbergen zu haben, sich besser vorbereiten und das sogenannte Darknet beziehungsweise „Deepnet“ testen. Das System lässt uns offensichtlich keine andere Wahl. Ein aktueller KenFM-Artikel zitiert dazu die Computerzeitschrift CHIP und weist darauf hin, dass die Top 10 der Seiten im Darknet nichts mit kriminellen Machenschaften zu tun haben. Hat übrigens jemand einen schöneren Namen für den furchteinflößenden Begriff? Vielleicht „Lightnet“ oder „Brightnet“?

Anonym und — hoffentlich — sicher surfen kann man mit dem Tor-Webbrowser. Zur sicheren Kommunikation per Handy nutzt man die WhatsApp-Alternative Telegram Messenger, dessen Verwendung mittlerweile von zahlreichen alternativen Medien empfohlen wird, so zum Beispiel von Human Connection. Das gemeinnützige soziale Wissens- und Aktionsnetzwerk berichtet in einer aktuellen Rund-E-Mail über ein Phänomen namens „Shadowbanning“. Dabei werden neu veröffentlichte Beiträge bei vielen Nutzern nicht mehr in der Chronik angezeigt. Die verdächtigten Plattformen wie Facebook, Instagram oder Twitter bestreiten dies und verweisen maximal auf Fehler im Spam-Filter. Ein Argument mehr dafür, Telegram auszuprobieren. Für alle Nicht-Handy-Besitzer wie mich gibt es übrigens eine Desktop-Version.

Zusammenfassung

Im Rahmen der Diskussionen um den aktuellen Rücktritt von Richard Stallman habe ich darauf hingewiesen, dass Veteranen der freien Software in letzter Zeit verstärkt lächerlich gemacht werden. Schlimmer jedoch ist das Umsichgreifen der gefährlichen „Cancel Culture“ in freien Software-Projekten mit Verhaltenskodex, die durch Ausgrenzung und Spaltung nachhaltig Schaden nehmen können. Über die Aufnahme vorgeblich moralischer Grundsätze in die neu formulierte „Hippokratische Lizenz“ wird versucht, die Entwicklung und Verwendung freier Software mit schwammigen Umschreibungen zukünftig zu behindern.

Diese Dinge gehen uns alle an, denn quelloffene Software und das Internet zählen zu den letzten Horten der Freiheit!


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