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Völlig verdreht

Völlig verdreht

Viele Menschen vernachlässigen die Personen, für die sie real verantwortlich sind, weil sie denken, sie müssten Dinge verändern, die außerhalb ihres Einflussbereichs liegen.

Er verband das Östlich-Mystische mit dem Westlich-Empirischen, Georg W. F. Hegel nannte ihn auch den „ersten deutschen Philosophen“. Die Rede ist von Jakob Böhme. Egal ob als Mystiker, Philosoph oder Mensch. Böhme würde die heutigen Zustände in westlichen Gesellschaften als „böse“ bezeichnen. Oder wie er es selbst formuliert:

„Wenn der dunkle Grund der Existenz sich über die ihm zugrundeliegende Stellung in der Welt erhebt, wenn er nicht nur Wurzelgrund sein will, sondern über das Licht herrschen möchte, entsteht das Böse (...) Es beansprucht eine Autonomie, die ihm in dem Gesamtzusammenhang der Schöpfung eigentlich nicht zukommt und stürzt dadurch immer tiefer in die Sorge, um der Erhaltung seiner Existenz.“

Anders ausgedrückt: Sobald Verantwortungsbereiche vermengt oder vertauscht werden, ist das Debakel vorprogrammiert, das „Böse“ dominiert. Ein starker Hinweis hierfür? Selbstzerstörerische Tendenzen.

Genau das sehen viele Menschen heutzutage in weiten Teilen des Westens. Zum Beispiel werden private, gemeinschaftliche und öffentliche, gesellschaftliche Angelegenheiten vermengt. Das „Home-Office“ zeigt das sehr gut. Was zur Arbeits- oder Freizeit gehört, ist nicht immer klar. Die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit ist fließend. Während der Arbeitnehmer die Arbeitsstunden zu Hause über den ganzen Tag verteilt, erledigt er zwischendurch die Wäsche, bucht den nächsten Kurzurlaub und verdient sich als „Influencer“ etwas hinzu. Andersherum starren viele beim Feierabend im Wohnzimmer und beim Urlaub auf Ibiza unentwegt aufs Display — um bloß keine Nachricht vom Vorgesetzten und den Kollegen zu verpassen.

Doch auch der Staat beziehungsweise illiberal eingestellte Personen innerhalb dieser Strukturen unterstützen diese Verwirrung. Indem sie immer öfter in private, gemeinschaftliche Aspekte des Lebens eingreifen. Im Namen der „Solidarität“ oder des „Allgemeinwohls“. Da wäre zum Beispiel die „geschlechtergerechte“ Sprache, um vermeintlich Diskriminierung zu überwinden. Oder die Obsession, den Bürgern einen „klimafreundlichen“ Lebensstil aufzuzwingen. Um ihr eigenes Herzensprojekt von der Allgemeinheit finanzieren zu lassen. Diese Projekte platzen förmlich aus allen staatlich finanzierten Nähten. Weil Deutschland es sich leisten kann.

Obwohl sich die Armut hierzulande ausbreitet, verdeckt der Wohlstand sie. Einerseits indem der Staat Sozialleistungen ausweitet und im Gießkannenprinzip ausschüttet. Vom Wohngeld über Kindergeld bis hin zur Grundsicherung. Gleichzeitig aber erschweren staatliche Strukturen, von seiner eigenen Hände Arbeit leben zu können oder gar Vermögen aufzubauen. Andererseits kann auch hierzulande der Ärmste noch ein Smartphone mit entsprechender Sedierungsunterhaltung erwerben. In der Folge kann sich der Staat immer mehr von seinen ursprünglichen Pflichten zurückziehen und greift so in Bereiche ein, die außerhalb seines Verantwortungsbereichs liegen: zum Beispiel Sprecherziehung und Lebenserziehung.

Die Konsequenz dieser Vermengung von Verantwortungen? Zunehmende gesellschaftliche Konflikte, das Ignorieren wirklich gesellschaftlicher Probleme und falsche Lösungsversuche. Abgesehen von der sinkenden Wirtschaftskraft, dem Abwandern von Unternehmen oder der Emigration der Leistungsfähigsten. Weil jahrzehntelange Prioritäten falsch und einseitig gesetzt wurden. Der einzelne Bürger bleibt hiervon selbstverständlich nicht unberührt. Schließlich lebt er in dieser verqueren Gesellschaft. In einer Gesellschaft, wo der Telefonanbieter seinen Kunden in kumpelhafter Manier „duzt“, wo ein junges Mädchen mit Zöpfen von Erwachsenen als moderne Johanna von Orléans gefeiert wird und wo das Bildungsniveau so niedrig ist, dass eine Prostituierte ein Hochschulstudium abschließen kann, sofern sie es auch möchte. In einer Gesellschaft, wo die rechte Hand nicht weiß, wo sie ist, und was ihre Linke macht.

Verantwortungsphobie macht sich breit

So sieht eine übersättigte Gesellschaft aus.

Vor lauter Überfluss musste sie sich um nichts mehr kümmern, nicht mehr denken und auch keine Verantwortung übernehmen. Deswegen scheuen sich nicht wenige vor der Verantwortung dort, wo sie diese durchaus tragen können. Im Privaten und im Beruflichen. Zum Beispiel Verantwortung für die Familie.

Mutter und Vater tragen Verantwortung für das Wohlbefinden, die Erziehung und die Bildung ihres Kindes. Trotzdem bevorzugen es nicht wenige, sich dieser Elternrolle zu entziehen, um weiterhin das Leben eines jungen Menschen zu führen. Mit allem, was dazu gehört: regelmäßigen Reisen, regelmäßigen Treffen mit Freunden, regelmäßigem Besuch im Klub. Währenddessen werden die eigenen Kinder von wildfremden Personen betreut, erzogen und gebildet, bauen nicht selten zu diesen eine stärkere emotionale Bindung auf als zu ihren biologischen Eltern. Die eigene hilfsbedürftige „alte“ Mutter wird eher als Last denn als familiäre Bereicherung verstanden und ins Seniorenstift gesteckt. Ihren Kummer hierüber ertränkt sie mit anderen „Verstoßenen“ im Eierlikör. Die raren familiären Besuche sind eher Pflichtprogramm und beschränken sich auf den üblichen, unpersönlichen „Small-Talk“. Dieses „Sich-aus-der-Verantwortung-Ziehen“ bezeichne ich als „Verantwortungsphobie“.

Denn: Wer, wenn nicht die Eltern, kennt seine Kinder am besten? Was ihre Bedürfnisse und ihre Stärken, was ihre Sorgen und Schwächen sind? Das Gleiche gilt auch für die Großmutter. Der Frau, die einem vor langer Zeit das Leben geschenkt hatte. Wer, wenn nicht das eigene Kind, kennt sie nicht nur von außen, sondern auch von innen – im wahrsten Sinne des Wortes! Doch das würde gleichzeitig bedeuten, Verantwortung zu übernehmen. Viele im saturierten Deutschland sind das aber nicht mehr gewohnt. Sie sind in der „Spaßgesellschaft“ der 1980er Jahre aufgewachsen. Ohne wirtschaftliche, existentielle Sorgen und der Perspektive von sozialem Aufstieg. Dort, wo sie sich kaum anstrengen mussten, sondern alles mit Geld kaufen konnten. Vom Paarberater über den Nachhilfelehrer bis hin Styling-Berater. Die „Dienstleistungsgesellschaft“. Das ganze Leben ist für sie eine Party mit viel Remmidemmi, lauter Tanzmusik und einem Korkenknall nach dem anderen gewesen. Mit zig Bediensteten an ihrer Seite. Außen das Gesicht eines 45-Jährigen, innen der sich nach Spaß sehnende „Teenie“. Phänotypisch erkennt man ihn an seinem semi-seriösen Auftritt. Modischer Anzug mit weißen Sneakers an den Füßen und mit Kaugummi-Uhrenarmband an der Hand.

Doch plötzlich wurde der Frieden im Paradies gestört. Wirtschaftlich, gesellschaftlich und politisch ging es abwärts. Der Paarberater entpuppt sich als „Niete“, hat irgendwo ein Wochenendseminar mit abschließendem Prädikat „zertifizierter Paarberater“ abgelegt. Der Nachhilfelehrer hat keine Ahnung von Blasen und Tuten, hat sein Studium an der Fern-Hochschule „Super Teacher“ absolviert. Und beim Styling-Berater, der mit Karl Lagerfeld zusammengearbeitet haben soll, stellt sich heraus, dass dieser einen eintägigen Workshop bei einem x-beliebigen, entfernen Assistenten Lagerfelds besucht hat. Plötzlich heißt es: Verantwortung übernehmen. Doch wie, nach jahrelangem, fast verantwortungslosem Leben? Das überfordert nicht wenige. Es ist ein bisschen so, wie sich ohne elterliche Unterstützung selbst über Wasser halten zu müssen. Herausfordernd, beängstigend, belastend.

Die Welt retten als Ersatzhandlung

Der polnisch-britische Soziologe, Zygmunt Bauman, nannte die Vorstufe dieser „Verantwortungsphobie“ Verantwortungsdiffusion beziehungsweise „Adiaphorisierung“. Wenn Menschen nicht wissen, wofür sie verantwortlich sind und sich heutzutage nicht trauen, Verantwortung zu übernehmen. Deswegen übernehmen sie „Pseudo-Verantwortung“ in der Ferne, fühlen sich für etwas verantwortlich, wofür sie wenig bis gar keine Verantwortung übernehmen können. „Fernverantwortung“ möchte ich dieses Phänomen nennen. Ein sehr gutes Beispiel sind die „geschlechtergerechte Sprache“ und ein „klimafreundlicher“ Lebensstil. Während die eigenen Kinder irgendwelchen Babysittern, Nannys und Nachhilfelehrern zur Erziehung übergeben werden, und die Oma in eine „Vegetationszentrale“ verfrachtet wird, fühlen sich die Eltern verantwortlich, die Welt zu „verbessern“ oder gar zu „retten“. So gängeln und erziehen sie, unerwünscht und unentgeltlich, ihre Mitbürger.

Sie fühlen sich verantwortlich für diese „Bürgererziehung“ oder gar „Volkserziehung“. Aber: Sie sind zum Scheitern verurteilt. Weil es einfach nicht in ihren Aufgabenbereich gehört.

Deswegen werden sie immer frustriert und wütend sein. Weil sie Verantwortung für etwas übernehmen, was sie nicht verantworten sollen und können. Gleichzeitig laufen sie aber von der Verantwortung weg. Um es noch einmal mit Böhme auf den Punkt zu bringen: Das ist „böse“, weil selbstzerstörerisch.

Die Lösung? Jeder soll Verantwortung übernehmen wollen, und zwar „echte“ Verantwortung. Das bedeutet: nicht weglaufen. Nicht im politischen Sinne, wie jüngst der ehemalige US-amerikanisch Nationale Sicherheitsberater, Michael Waltz, der nach „Signal-Gate“ ein „Upgrade“ als designierter US-Botschafter bei den Vereinten Nationen für sein verantwortungsloses Verhalten erhielt. Sondern eine Degradierung auf einen niedrigeren Posten oder sogar einen vollkommenen Rückzug aus dem politischen Tagesgeschäft.

Außerdem bedeutet Verantwortung zu übernehmen, ehrlich zu sich selbst zu sein und sich ganz klar vor Augen zu halten, in welchen Bereichen genau man tatsächlich Verantwortung trägt und wo nicht. Wie ich bereits schrieb: Sehr stark im privaten Bereich, etwas weniger, aber immerhin auch etwas, im beruflichen Bereich, muss jeder Verantwortung übernehmen. Denn schon Wolfgang Johann von Goethe wusste: „Ein jeder kehre vor seiner Tür, Und rein ist jedes Stadtquartier.“ Wenn jeder zuerst für sich und seine Liebsten Verantwortung übernimmt, dort, wo er sich am besten auskennt, wird jeder Einzelne glücklicher und die Welt ein Stückchen besser. Dadurch wird er nicht nur ein glücklicher Mensch, sondern im Böhm’schen Sinne auch noch ein „guter“. Und Hand aufs Herz: Wer möchte schon nicht glücklich und gut sein?


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