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Wie konnten wir nur?

Wie konnten wir nur?

Ein Rückblick von morgen auf das Heute.

Wie konnten wir nur? Diese Frage stellen wir uns immer, wenn wir durch alte Fotoalben (physisch oder digital) stöbern. Wie konnten wir nur? Diese Frisuren tragen? Diese Ansicht vertreten? Jamba-Klingeltöne lustig finden? Auf so kleinen Bildschirmen Filme anschauen? Den Irrsinn einer Zeit erkennen wir erst, wenn wir zu dieser eine gewisse Distanz gewonnen haben. Wenn wir uns diese Binsenweisheit klar vor Augen führen, kann einem schon etwas bange werden, wenn man Überlegungen anstellt, wie wir morgen auf Heute sehen werden. Mit diesem Gedankenspiel könnte man sämtliche Schichten des gesellschaftlichen Zusammenlebens durchdringen. Ich möchte mich in diesem Kommentar vornehmlich auf die mediale (Selbst-)Darstellung fokussieren, was natürlich mit den Techniken und Methoden der meinungsmachenden PR-Strategien einhergeht.

Betrachten wir die Welt von heute mit den Augen von morgen. Wie macht man das am besten? Indem man die Welt von gestern mit den Augen von heute betrachtet. Was bekommen wir da zu sehen? Die Bandbreite an Beispielen ist schier unendlich, weswegen ich mich für eines der markantesten Beispiel entscheide: Dr. Oetker. Dr. Oetker erklärt uns in einem Fernsehwerbespot der 50er Jahre folgendes: „Wir wissen ja; eine Frau hat zwei Lebensfragen: ‚Was soll ich anziehen?‘ und ‚Was soll ich kochen?‘“(1).

Wie konnten wir nur?

Oder anders gefragt: können wir heute noch? Können wir heute als Mann einer Frau diesen Satz in Gesicht sagen und dabei ungeschoren davonkommen? Oder würden wir nicht viel eher eine so saftige Ohrfeige kassieren, dass wir vorübergehend nicht mehr imstande wären zu sagen, wo oben und unten ist? Dieses Unterfangen wäre auf jeden Fall maßgeschneidert für eine YouTube-Challenge, womit wir hier eine perfekte Überleitung in das Heute haben. Von Dr. Oetker zu Dagi Bee, den Lochis (Anm.: Beliebte YouTube-„Stars“) und Konsorten.

Dass ich bei Oetkers Aussage nicht vom Stuhl gefallen bin, verdanke ich der starken Rückenlehne meines Bürostuhls, dass mein Unterkiefer beim Durchscrollen angesagter YouTube-Kanäle nicht auf die Tastatur fällt, meiner stützenden Hand. YouTuber sind die Fernseh- und Popstars und Boygroups von heute. Ihre Videos erreichen im Durschnitt Zuschauerzahlen im sechsstelligen Bereich, manchmal sogar im achtstelligen. Sie sind relevant! Sie sind das, was heute die Jugend sieht, teilt und lebt. Deswegen werde ich meine Thesen überwiegend auf meine Beobachtung von YouTubern stützen. Denn wie wir in der Retrospektive den Rock ‘n‘ Roll den 50ern, das Hippietum den 60ern und 70ern, Heavy Metal und Wave den 80ern, Techno und HipHop den 90ern und Pop den 2000ern (ich nenne sie „Nullerjahre“) zuordnen, so werden wir in den 30ern des 21. Jahrhunderts auf die 20er als YouTube-Jahrzehnt (da YouTuber mittlerweile auch den Musikmarkt für sich entdeckt haben) zurückblicken.

Hierzu möchte ich etwas weiter ausholen. Ich gehöre mit meinem 24 Jahren zu der Jugend von gestern und habe den Aufstieg von YouTube miterlebt. Mit meinem Faible für Jahreszahlen fällt es mir leicht, detaillierte Rückblicke zu machen, diese zu analysieren, das Damalige mit dem Heutigen zu vergleichen und Rückschlüsse daraus zu ziehen. Ich weiß noch, wie das war, als die YouTube-Fenster klein und 4:3 waren, die Videos darin pixelig, schlecht beleuchtet und mit übersteuertem Ton unterlegt. Aber das war okay! Auch füllten die YouTube-Gatherings („YouTuber-Treffen“) noch keine Konzerthallen, nein, damals traf man sich noch (ich war dabei) mit 50 anderen verstrahlten Typen aus der Nation vor der LMU in München und ging dann in den Biergarten. Ein weiteres Indiz für die Altersverschiebung, da der heutige durchschnittliche YouTube-User noch zu jung für den Alkoholausschank ist. Das sind nur wenige Beispiele dafür, wie massiv sich YouTube über die Jahre veränderte und zum Millionen-Business wurde.

Heute ist YouTube nicht mehr wiederzuerkennen. Technisch hat sich so einiges verändert! Die Videos sind nun in 4K-Qualität und laufen mit 50 Bildern pro Sekunde. Die pixeligen Amateurfilme, Katzen- und Unfallvideos sind Geschichte. Alles hat sich zum Besseren gewendet, mag man meinen. Doch mitnichten so! Klickt man auf die YouTube-Trends, kann einem wahrlich schwindelig werden. Zu den erfolgreichsten Kanälen gehören „die Lochis“ „Bibisbeautypalace“ „Julien Bam!“ und viele mehr. Sie sind in gewisser Weise die YouTube-Eliten hierzulande. Ihre Kanäle weisen jedoch eine große Ähnlichkeit zu Franchise-Filialen auf. Das Produktsortiment samt seiner Aufmache ist relativ identisch. Irgendwelche niveaulosen Challenges, fiese bis menschenverachtende Pranks (Anm.: Streiche, in deren Schatten Max und Moritz wie Jungfrau Maria wirken) (2) (3), das Bewerben bestimmter (meist nutzloser) Konsumgüter und eine vollkommen redundante, belanglose, narzisstische Dokumentierung des eigenen, geistlosen Lebensstils.

Noch mehr als der Content ähnelt sich die Verpackung. Jeder Kanal ist eine Bildergalerie skurriler Thumbnails. Darin ziehen die YouTuber grausig verzerrte Fratzen, gegen die „Der Schrei“ von Munch wie eine ausdruckslose Miene wirkt, um ihre Zuschauer zu entertainen. Generell wirken die Thumbnails sehr wahllos und willkürlich überfüllt. Man versucht dort so viele Fratzen, Emojis (neudeutsch: Smilies), Sprechblasen, Explosionen, Brüste und übergroße Schriftzüge unterzubringen, wie nur irgend möglich. Natürlich wird auch bei dem Videotitel darauf geachtet, ihn so provokant und durch suggerierte Inhalte verlockend zu gestalten, wie es die BILD nicht „besser“ könnte.

Willkommen in der Jugendkultur 2017!

‚Was daran jetzt so schlimm ist‘, könnte man nun meinen. ‚So sind halt die Kids‘, ‚das haben wir früher auch über die Jugend von heute gesagt‘. Aber man muss langfristiger denken. Wo führt das hin, wenn eine junge Generation massenhaft mit verdummenden Inhalten konfrontiert und ihres Denkvermögens beraubt wird? Das Problem ist ja nicht, dass man sich gelegentlich mal lustige Videos ansieht (ich habe mir bei meiner Recherche für diesen Kommentar auch das eine oder andere mal nicht das Lachen verkneifen können), sondern wo der permanente Konsum solcher Medien (gewollt?) hinführt. Man kocht unsere Gehirne so weich, dass man sie auf jede Brotscheibe schmieren kann. Doch was sind das für Brote, die in dieser Metapher für Ziele und Absichten stehen?

Das Kapital, die PR-Spezialisten und Think-Tanks haben die Marketing-Macht von YouTube erkannt und nutzen sie schon seit geraumer Zeit zu ihren Gunsten. Dies hat mich auch veranlasst, diesen Kommentar zu verfassen. Ich verdiene nebenher mein Geld an der Supermarktkasse und habe hier parallel zu der omnipräsenten PayPal-Werbung im Netz einen signifikanten Anstieg von EC-Zahlungen festgestellt. Um ganz speziell herauszufinden, wie PayPal junge Leute dazu animiert, statt dem einzig gesetzlichen Zahlungsmittel Bargeld das „neue Geld“ zu verwenden, habe ich die Facebook-Seite der Zweigstelle in Deutschland besucht und bin sehr schnell fündig geworden. PayPal kooperiert mit YouTubern, um den Weg in eine bargeldlose Gesellschaft zu ebnen (4)(5).

Wir nähern uns des Pudels Kern: die PR-Supermacht YouTube manipuliert die junge Generation im Auftrag von Politik und Wirtschaft.

Wie man mit dieser Manipulations-Superwaffe die jungen Leute sogar wieder für das Militär begeistern kann, hat der gerade mal 19 Jahre junge Aaron Richter in einem Mammut-Artikel beim Rubikon (6) skizziert. Mit einer Wortgewandtheit, die man seiner Hashtag-Generation gar nicht mehr zutrauen würde, zieht er der YouTube-Serie „Die Rekruten“ die Camouflage-Hose runter und entblößt die propagandistische Machenschaft hinsichtlich der Umsetzung, des Inhaltes und der Finanzierung bis auf ihr Gerippe.

Wie konnten unsere Großeltern damals nur mitmachen? Diese Frage stellen wir uns immer wieder. Wie konnten die nur? Wie konnten die nur dieser offensichtlichen Propaganda und Hetze seitens des Stürmers und des Volksempfängers auf den Leim gehen? Diese Gehirnwäsche war doch nicht mal im Ansatz subtil? Und das, obwohl Goebbels, inspiriert von Edward Bernays, am Werk war. Aber man kannte die Umstände zu dieser Zeit nicht. Im Nachhinein ist man immer klüger oder, wie ich eingangs erwähnte, benötigt man eine gewisse Distanz zu einer Zeit, um ihren Wahnsinn zu erkennen. Und wenn wir das heute betrachten, sind die PR-Methoden nur bedingt subtiler. Sie kommen natürlich in einem anderen Gewand daher. Kein Radiomoderator ruft uns schwadronierend durch knisterende Radios zu, was die Bundeswehr am Hindukusch für ihr Vaterland tut, oder dass wir gefälligst nicht mehr beim Türken einkaufen sollen. Nein. Was wir tun und kaufen, oder wen wir hassen sollen, wird mittels modernster, digitaler, in den Alltag eingebundener Technik indoktriniert.

Kriegspropaganda operiert nicht mehr mit aggressiver Agitationen und Marschmusik. Heute gibt es Netzserien, wie die bereits oben erwähnten Rekruten. Statt flimmernden schwarzweiß-Filmen von der Front sehen wir heute wackelige Handycam-Videos in Full HD mit „lustigen“ Jump-cuts. Die Plakate zeigen keine Soldaten in heroischen Posen mehr, sondern operieren mit zeitgenössischen Kubik-Filtern, überzogenem Camouflage, kurzen, flotten Sprüchen und Hashtags. Man will zeigen, dass auch Militär modern und hip sein kann. Als junger Mensch kann man schon vergessen oder es schlicht nicht sehen, dass auch dieser Weg am Ende in den tödlichen Graben führen kann.

Wie sehr gewisse Produkte mit Krieg assoziiert wurden, ist vielen heute gar nicht mehr klar. Wieder kommt hier Dr. Oetker ins Spiel. „Puddingpulver für die Wehrmacht“ hieß es im Dritten Reich auf einem Werbeplakat für Dr. Oetker. Mercedes war damals „Helfer in Krieg und Frieden“. Und selbst den Schriftzug von CocaCola durfte einmal ein Hakenkreuz zieren. Wir sehen: Kriegspropaganda zieht sich durch zahlreiche Bereiche unseres Lebens und wir nahmen und nehmen sie als vollkommen natürlich hin. Es gab keinen medialen Aufschrei, seit man als Pendler und Schüler in Hannover mit der Panzer-Bahn in die Arbeit und Schule fahren darf. Vor diesem Hintergrund ist es nur eine Frage der Zeit, bis wir die Werbung für die zweite Staffel von „Die Rekruten“ auf einer Cini-Minis-Packung finden werden.

Bleiben wir im Supermarkt. Mit mehr oder weniger ausgefeilten oder subtilen Methoden möchte man uns nicht nur wieder an die Front führen. Auch auf unsere gesamten Daten hat man es abgesehen. Der noch nicht offiziell als Foltermethode anerkannte Deutschland-Card-Song (7) fordert uns auf, doch all unsere Einkäufe zu scannen und an Big-Data zu liefern, um im Gegenzug lächerliche Pay-Back-Punkte zu erhalten, die den Verlust unserer Daten nicht im Ansatz aufwiegen können.

Und am drastischsten verhält es sich mit unserer Selbstdarstellung und Wahrnehmung, die uns ebenfalls nonstop vorgeschrieben wird. Das „Ich“ steht im Zentrum. Immer geht es um „Du“, um Dich, um Dein Individuum. Selbstverwirklichung ist das oberste verordnete Endziel. ‚Fahr die Ellenbogen aus!‘, ‚niemand kann dich aufhalten‘, ‚du kannst deinen Weg zum Erfolg meistern, lass dir nichts von anderen einreden!‘. Was früher Sekten-Gurus waren, sind heute Motivations-Coachs, die junge, verunsicherte, ziellose Menschen wie Rattenfänger von der Straße aufklauben und ihnen eintrichtern, es ginge nur um sie, um ihren Erfolg und dass sie es bis ganz nach oben schaffen.

Die Narzissmus-App Instagram ist die Börse, an der die Werte der Ich-AGs bestimmt werden. Wer vor 200 Jahren noch eine einfache Bäuerin oder eine hart schuftende Arbeiterin war, ist heute ein Model oder eine alternative Künstlerin, die sich selbst verwirklichen muss und selbstverständlich etwas ganz besonderes ist und nicht so wie all die anderen. „Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht“, könnte die Logik dahinter sein. Doch wenn jeder den Weg vom Tellerwäscher zum Millionär geht, stehen wir irgendwann vor einem großen Haufen dreckigen Geschirrs. Schlagen wir gemeinsam (!) den richtigen Weg ein, könnte uns in wenigen Jahren frösteln, wenn wir daran zurückdenken, wie eingebildet, egoistisch, Ich-bezogen und narzisstisch wir alle waren. Wie weit entfernt von einem kollektiven Spirit, vergleichbar mit dem der Arbeiterklassenbewegung im 19. Jahrhundert.

Ich habe noch nie in einer Marketing-Abteilung oder generell irgendwo im Marketing-Bereich gearbeitet. Ich kenne auch die offiziellen, fiesen Methoden nicht, wie man Leute hinter das Licht führt. Aber gerade diese Betriebsblindheit macht es mir möglich, die Sache von außerhalb zu beobachten. Und selbstverständlich bin ich selbst vor der Manipulation meiner Emotionen durch die Werbung nicht gefeit. Nur schaffe ich es sehr schnell, mit einer einfachen Frage die Wirkung der Werbung verpuffen zu lassen – „Will ich es oder brauch ich es?“

Ich könnte nun zahlreiche weitere Beispiele aufführen, wie man uns hin zur Schlachtbank mit PR-Methoden führt, die bereits heute so himmelschreiend propagandistisch sind, dass wir in den anstehenden 30er Jahren die Hände über den Kopf zusammenschlagen werden. Kein Bargeld mehr. Totale Überwachung durch den Staat. Keine Privatsphäre mehr. Krieg mit Russland.

Eine Dystopie, die uns bevorsteht, wenn wir die Zeichen der Zeit nicht zu deuten lernen. Wir die Geschichte als etwas abgeschlossenes betrachten. Dabei ist die Geschichte eine Lunte, die rückwärts brennt. Wir können am Faden erkennen, wie die Geschichte verlaufen ist, was sich wiederholt hat und müssen lernen, zu berechnen und zu steuern, in welche Richtung sich der Funke bewegt. Und ja, das ist möglich.


Quellen und Anmerkungen:

(1) https://www.youtube.com/watch?v=072LrlGvSq8
(2) https://youtu.be/1V5H5SLQCyo
(3) https://www.youtube.com/watch?v=v_PfI1343zE
(4) https://www.youtube.com/watch?v=caqxIlorCZg
(5) https://www.youtube.com/watch?v=wSu0-j5sSJE
(6) https://www.rubikon.news/artikel/die-rekruten
(7) https://www.youtube.com/watch?v=-lhWspO55PM


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