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Das Böse im Spiegel

Das Böse im Spiegel

Der Westen nähert sich immer mehr dem Feindbild eines despotischen Russlands an, wenn er weiter undemokratisch „Alternativlosigkeit“ beansprucht.

Über sieben Monate sind wir jetzt die Alternativlose los. Weit mehr als ein Jahrzehnt hatte sie uns vermittelt, dass neben dem Kurs, den sie wirtschaftspolitisch fuhr, keine anderen Möglichkeiten bestanden. Zugegeben, dass der Neoliberalismus alternativlos sei, das hat sie nicht erfunden. Schon unter Schröder hat man das behauptet. Das Kunststück, sich als letzte verbliebene Option zu verkaufen, hatten die Marktliberalen geschickt eingefädelt: Bereits die „Chicago Boys“ hausierten mit dieser wahnwitzigen, antidemokratischen Theorie. Dummerweise wurde sie fast überall auf der Welt hingenommen.

Aber womöglich wurde es außerhalb der angelsächsischen Welt nirgends so aggressiv und ideologisch verfochten wie im Herzen Europas, in „good old Germany“. Hier schaffte es die Theorie zu einem Naturgesetz. Unangefochten. Von Gott gegeben. Natürlich genauso physisch begründbar und so sicher wie der Umstand, auf den Boden und nicht an die Decke zu fallen, wenn man stolpert. Die Deutschen haben also Erfahrung mit der Schaffung ganz eigener Naturgesetzlichkeiten. Sie haben auch während der letzten Zombieapokalypse eigene Naturgesetze kreiert, Hygienepläne genannt. Und jetzt ganz aktuell ist schon wieder eines etabliert worden: nämlich jenes, wonach uns spätestens im Herbst die Hände gebunden sein werden.

Keine Denkverbote mehr — außer dem Denkverbot schlechthin

Neulich hat Friedrich Merz die Grünen dazu aufgefordert, in Sachen Atomkraftwerke nicht mehr zu blockieren. Ein Atomeinstieg sei schließlich ein guter Ausweg für unsere Situation. „Bitte keine Denkverbote mehr!“, rief er auf. Außer natürlich das Denkverbot schlechthin: jenes nämlich, ob man vielleicht durch eine diplomatische Lösung nicht doch noch das Schlimmste abwenden könnte. Das darf man sich nicht mal denken!

Außenministerin Baerbock hat das auch gleich noch mal geradegerückt: Mit den Russen wird nicht gesprochen, eine Annäherung werde es nicht geben.

Aufgelöste Denkverbote gelten nur für bestimmte Denkmanöver. In die andere Richtung darf man nicht mal an ein aufgehobenes Denkverbot denken. Schon dieser Gedankengang unterliegt einem strikten Denkverbot.

Immer dann, wenn einer aus dem Panikorchester von Politik, Medien und Wirtschaft etwas zu Verhaltensweisen oder Sparpotenzialen sagt, rückt man ein Stück weiter weg von potenziellen Alternativen. Immer dann, wenn jemand Durchhalteparolen schwingt, über die eigene Schießlaune schwadroniert oder wie einst Thilo Sarrazin warme Ratschläge — wie etwa einen dicken Pullover oder eine schnelle kalte Dusche — absondert, erklärt man die noch drohende Realitätsmöglichkeit zu einer garantiert eintretenden Realität. Man negiert mit der Panik die Imaginationskraft, blendet Gabelungen bei der Entscheidungsfindung aus, erklärt die Zukunft nach vorne hin für nicht offen — kurz und gut, man stellt mental darauf ein, dass es eben doch Denkverbote gibt.

Nämlich das Denkverbot aller Denkverbote der Stunde: „There is no alternative!“ Nicht jetzt — und nicht später. Mit den Russen reden wir nie mehr. Die Alternativlosigkeit wird jetzt außenpolitisch, wird kriegerisch, zerstört Schicksale und Lebensentwürfe. 2010 war „alternativlos“ das Unwort des Jahres. Als Begründung führte die Jury damals an, dass das „Wort (…) sachlich unangemessen“ suggeriere, „dass es bei einem Entscheidungsprozess von vornherein keine Alternativen und damit auch keine Notwendigkeit der Diskussion und Argumentation gebe“. In einer Demokratie — nichts anderes als ein System der Argumentationsabwägung also — eigentlich ein Begriff, der keine Macht entfalten sollte.

Nur Naturgesetze sind alternativlos

Damals meinte die Jury auch, dass das Wort die „Politikverdrossenheit in der Bevölkerung“ verstärke. Womöglich stimmt dieses Einschätzung nicht mehr ganz. Verdrossen werden die Menschen im Herbst wahrscheinlich nicht sein. Wütend sicher. Sauer ohnehin. Und ja, auch voller Hass vermutlich. Kein Wunder, denn um etwas Unabwendbares handelt es sich hierbei ja nicht. Es gibt Spielräume. Oder es gäbe sie. Gegen die Erdanziehung protestiert keiner. An wen sollte sich der Unmut richten?

An eine Annäherung mit Russland darf jedoch nicht gedacht werden, egal was uns dann auch droht. Um es genauer zu sagen: An eine Annäherung kann gar nicht gedacht werden. Einfach deswegen, weil es nicht etwa eine mögliche Option wäre: In der Alternativlosigkeit gibt es nämlich keine Alternativen — es gibt dieses Wort nur im Singular. Alles andere kann daher noch nicht mal durchdacht werden, es existiert förmlich nicht. Ein Physiker denkt ja auch nicht, dass es eine Alternative zur Erdanziehung auf Erden gibt. Dass jemand stolpert und an die Decke hochfliegt, sich den Kopf an der Deckenleuchte anschlägt — darüber macht er sich nun wirklich gar keine Gedanken.

Naturgesetze sind alternativlos. Das wissen die politischen Spin(n)-Doktoren und Kommunikationsberater ganz genau. Daher besteht ein nicht unwesentlicher Teil der modernen politischen Vermittlungsarbeit daraus, politische Entscheidungen — die so oder auch ganz anders ausfallen können — zu „vernaturgesetzlichen“.

Wenn sie wie die Umlaufbahn des Mondes dargestellt werden, wie der Umstand, dass es zur Luft keine Alternative gibt, die wir uns zum Atmen in die Lugen ansaugen könnten, dann fällt jede Diskussion über Alternativen ohne viel Aufsehens unter den Tisch. Es passiert nicht oft, dass jemand gegen Regen einen Protestmarsch anmeldet — der, der das tut, darf mit Spott rechnen. Wer aufbegehrt gegen Naturgesetzlichkeiten, macht sich zum Idioten. Insofern ist die Darstellung naturgesetzlicher Optionslosigkeiten immer auch ein Beitrag zur Untergrabung der Debattenkultur.

Die, die Putin verteufeln, gleichen diesem „Teufel aus Moskau“

Eine Weile galt es als ausgemachte Sache, dass Putin diesen Krieg nur führt, weil er unsere Art zu leben, den westlichen Lebensstil verachte. Demokratie sei ihm zuwider, er lege sie als Schwäche aus. Daher sei es jetzt wichtig, westliche Werte umso bewusster zu leben — der Despot dürfe nicht die Oberhand gewinnen.

Ein wesentlicher Aspekt der Demokratie ist allerdings, dass es Alternativen gibt, nichts im Vornherein als alternativlos gelten kann. Die Jury-Begründung zum Unwort des Jahres 2010, die in den Zeilen oben zitiert wurde, fasst das an sich schön zusammen.

Welcher Wert soll also verteidigt werden, wenn von vornherein klar ist, dass es keine andere Option geben darf als jene, den strikten Kurs gegen Russland beizubehalten, die Ukraine in die EU zu hieven und die NATO auszubauen?

Ist es auch einer dieser westlichen Werte, etwaige Gegenlösungen gar nicht erst zur Sprache bringen zu wollen? Und Optionslosigkeit als Naturgesetz zu etablieren?

Die Alternative liegt ja nicht irgendwo im Reich der Unmöglichkeit. Diplomatie ist kein Hokuspokus. Wer sich an den Tisch setzt und auslotet, wie man die schlimmsten Folgen noch abfedern kann, verliert nicht etwa sein Gesicht, sondern zeigt es. Politisches Personal, das Angst vor Gesichtsverlusten hat, ist fehl am Platz. Es geht um mehr als um kleinliche Eitelkeiten. Man muss nur über den Schatten springen, die US-Amerikaner rechts liegen lassen — Naturgesetze sind nicht so leicht zu umgehen. Aber all das ist ja kein solches Gesetz. Denn es gibt immer Alternativen. Sie auszublenden, das ist nicht die demokratische Art zu leben.

Aber dass Putins Hass gegen den Westen kriegsursächlich sei, liest man immer seltener. In Zeiten der Propaganda ändern sich die Motive und Unterstellungen fast täglich. Sie unterliegen einer Evolution der Eskalation. Die Vorwürfe der ersten Stunde müssen am Ende nicht mehr zwangsläufig gelten — ja, man erinnert sich oft noch nicht mal mehr daran. Die Spin-Doktoren achten genau auf die Argumentationen, die man verkündigt. Und ein Putin, der das Wesen der Demokratie ablehnt, ein System also, in dem es auf dem Papier immer um Alternativen und nie um gesetzte Eindimensionalität geht, wirft genau dann Fragen auf, wenn sich diese in eine Sackgasse hineinmanövriert, in der es nur noch eine Option gibt. Der Putin der westlichen Vorverurteilung spricht denen, die jetzt an dieser Alternativlosigkeit festhalten, aus der Seele.

Anders gesagt: Die Alternativlosen werden genau so, wie sie sich ihren Teufel aus Moskau vorstellen.

So ist das nun mal im Krieg — man wird so wie das Feindbild, das man konstruiert.


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