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Der erste Stein

Der erste Stein

Hart über andere zu richten, ist oft Ausdruck eigener blinder Flecken und verfestigt Gräben, die sonst überbrückbar wären. Teil 7 der Reihe „Persönliche Entwicklungen“.

„Urteilt nicht, damit ihr nicht verurteilt werdet“

Der Glaubenssatz, andere nicht zu richten, findet sich in nahezu allen Religionen, Heilslehren und Philosophien. Nicht zu urteilen ist ein universelles ethisches Prinzip. Ob im Christentum, im Judentum, im Islam, im Buddhismus, im Hinduismus, im Konfuzianismus, der hellenistischen Philosophie oder der Aufklärung – es wird gemahnt, nicht vorschnell, hochmütig oder selbstgerecht zu urteilen.

Beispiele aus verschiedenen Religionen und Philosophien

Die „Gespräche“ (chinesisch: Lún Yǔ) – eine Sammlung von Lehrsätzen, Dialogen und Sprüchen, die Konfuzius und seine Schüler über Ethik, Politik, Bildung und das rechte Leben aufgezeichnet haben – gelten als zentrale Schrift des Konfuzianismus.

Für Konfuzius ist ethisches Verhalten insbesondere durch Selbstdisziplin, Rücksichtnahme und Maß gekennzeichnet. Schnelles Urteilen ist in seinen Augen unklug und unedel.

Im Buch 15, Vers 24 findet sich ein zentraler Gedanke zur Selbstreflexion und Zurückhaltung beim Urteilen:

„„Ein edler Mensch ist langsam im Urteilen über andere, aber schnell in der Selbsterkenntnis.“

Der edle Mensch urteilt nicht leichtfertig über andere, sondern achtet auf seine eigene Tugend und Verantwortlichkeit.

Der Dhammapada (Pfad der Lehre) – eines der bekanntesten Bücher des Buddhismus – ist eine Sammlung von kurzen Lehrversen, die zentrale buddhistische Weisheiten über Ethik, Geistesschulung, Leid, Vergänglichkeit und Befreiung enthalten. In den Versen 252, 253 ist zu lesen (sinngemäße Übersetzung):

„Es ist leicht, die Fehler anderer zu sehen,
schwierig aber, die eigenen zu erkennen.“

„Man enthüllt die Fehler anderer wie Spreu im Wind,
doch verbirgt man die eigenen – wie ein geschickter Spieler seine Karten.“

Buddha sagte:

„Bevor du über einen anderen urteilst, durchwandere drei Monde lang seine Sandalen.“

Im Buddhismus ist Urteilen aus Ichbezogenheit, Egoismus oder Unwissenheit eine Form von „Unheilsamkeit“, das heißt, ein geistiger oder moralischer Zustand, der zu Leid, Unfreiheit und Negativität führt – für sich selbst und für andere. Es ist das Gegenteil von „Heilsamkeit“, also geistiger Klarheit, Mitgefühl und innerem Gleichgewicht.

Man soll Achtsamkeit, Mitgefühl und Einsicht üben – statt zu verurteilen.

Ein hinduistischer ethischer Wegweiser, die Bhagavad-Gita („Gesang des Erhabenen“), ist ein spirituelles und philosophisches Werk des Hinduismus, das Antworten auf die Frage gibt, wie man in einer Welt voller Konflikte und Leid richtig leben und handeln kann. In der Gita steht zwischen den Zeilen, dass der Mensch seine Pflicht erfüllen (Dharma) soll, ohne an den Ergebnissen zu hängen. Das Urteil über Gut und Böse im großen Ganzen liegt bei Gott, nicht beim Einzelnen.

Rabbi Hillel, der im Jahrhundert vor Jesus lebte, war nach jüdischer Überlieferung ein sanftmütiger und geduldiger Lehrer des Judentums, der Nächstenliebe und Gewaltlosigkeit lehrte. Folgender Satz von ihm ist unter anderem zum Thema Urteilen überliefert:

„Urteile nicht über deinen Nächsten, bevor du dich in seine Lage versetzt hast.“

Gemeint ist, dass man sich erst einmal ein Bild über den anderen verschaffen und ihn nicht sofort etikettieren, kategorisieren und eventuell diffamieren soll, wie es beispielsweise in der Coronazeit bezüglich Andersdenkender in massiver Form geschehen ist. Jesus hat als Jude die ethische Haltung Hillels übernommen und in seiner Bergpredigt fortgeführt.

In der Bergpredigt sagte Jesus (Matthäus 7,1-5):

Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!

Denn wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden, und nach dem Maß, mit dem ihr messt und zuteilt, wird euch zugeteilt werden.

Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht?

Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Lass mich den Splitter aus deinem Auge herausziehen! – und dabei steckt in deinem Auge ein Balken?

Du Heuchler! Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, dann kannst du versuchen, den Splitter aus dem Auge deines Bruders herauszuziehen.

Nach meiner Auffassung meint Jesus damit, man solle nicht so arrogant und selbstgerecht sein und nur auf die Fehler der anderen schauen, da die eigenen eventuell noch größer sind.

Die Stoiker heben hervor, dass man seine Urteile kontrollieren sollte, und dass das Verurteilen anderer oft Ausdruck eigener Schwäche oder Unfreiheit ist. Epiktet, der circa ein Jahrhundert nach Jesus lebte, war ein Sklave, der später freigelassen wurde. Er war Philosoph und Lehrer in Rom, später im griechischen Nikopolis. Epiktet verschrieb sich der praktischen Ethik und konzentrierte sich auf innere Freiheit und Selbstbeherrschung sowie auf das „Machbare“. Einer seiner bekanntesten zu Papier gebrachten Gedanken ist:

„Es sind nicht die Dinge selbst, die uns beunruhigen, sondern unsere Urteile über sie.“

Mohammed, den der Islam als letzten und endgültigen Propheten Gottes sieht, hat in seiner Lehre viele Elemente des Judentums und Christentums übernommen, weitergeführt und korrigiert. Im Koran, in der Sure 49, Vers 12 ist zu lesen:

„O die ihr glaubt! Vermeidet häufigen Argwohn, denn mancher Argwohn ist Sünde. Und belauert nicht und führt nicht üble Nachrede übereinander.“

Auch der Islam betont, dass Mutmaßungen, vorschnelle Urteile, Verdächtigungen und öffentliche Bloßstellung Sünden sein können. Statt zu richten, soll man Vergebung und Barmherzigkeit üben.

Immanuel Kant ist einer der zentralen Denker der Aufklärung in Deutschland und Europa. Er hat mit seinem „Kategorischen Imperativ“ eine Orientierung für viele Menschen geschaffen. Dieser lautet:

„Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“

Wenn wir so handeln, dass es als Vorbild für andere gelten könnte, dann handeln wir richtig. Urteilen im Sinne der Vernunft ist nach Kant eine bewusste, prüfende Entscheidung über den moralischen Wert einer Handlung. Emotionales, vorschnelles Verurteilen wäre eine vorschnelle Bewertung ohne Prüfung seiner Maximen (= Handlungsprinzipien).

Demnach sollte immer geprüft werden, ob ein moralisches Urteil über andere gerechtfertigt und generalisierbar ist, also für die Allgemeinheit gelten könnte.

Vorurteile

Wie das Wort "Vor-urteil" schon verdeutlicht, handelt es sich hierbei um ein nicht durchdachtes Urteil. Vorurteile werden abgegeben, ohne eine ausreichende Informationsbasis zu besitzen. Bei Vorurteilen gegenüber Personen beispielsweise hinsichtlich ihrer Herkunft, Geschlecht, Rasse, Religion, politischer Gesinnung oder sexueller Neigung werden Verurteilungen ohne Kenntnis und Würdigung des konkreten Menschen getroffen. Überhebliches und vorschnelles Urteilen ist gefährlich, weil man nie die ganze Wahrheit über einen anderen Menschen kennt.

Wer negative Empfindungen gegenüber einer Person hat, sollte überprüfen, ob er möglicherweise von Vorurteilen geleitet wird. „Die Russen“, „die Schwulen“, „die Muslime“, „die Juden“, „die Flüchtlinge“ als graue Masse gibt es nicht! Es gibt nur das Individuum, das es verdient hat, genau angesehen zu werden, bevor man sich ein Urteil über es erlaubt. Wie wollen Sie einen Menschen kennenlernen, wenn Sie Vorurteile walten lassen? Sie vermasseln sich damit wunderbare Begegnungen, die Ihr Leben ungemein bereichern könnten. Wenn Sie in einem konkreten Fall merken, dass Sie zum vorschnellen Urteilen neigen, sollten Sie dieses Gefühl nicht verdrängen, sondern genau analysieren, was Sie am anderen stört, und sich überlegen, inwiefern dieses Ärgernis eventuell mit Ihnen selbst zu tun hat.

Wir projizieren eigene Probleme gerne auf andere. Sollte die beim anderen angeprangerte Verhaltensweise oder Eigenschaft mit uns selbst zu tun haben – was ja durchaus sein kann –, wäre es ratsam, dass wir an uns arbeiten und nicht den anderen verurteilen, also den Splitter“ oder gar „Balken“ aus dem eigenen Auge ziehen, bevor wir den „Splitter“ aus dem Auge des anderen ziehen möchten.

Die Worte Jesu aus der Bergpredigt sind heutzutage wieder hochaktuell. Sie waren immer aktuell. Wenn ich mir ansehe, was zurzeit auf der Welt los ist, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass viele Menschen diesen fundamentalen ethischen Wert, diesen so wichtigen Glaubenssatz entweder nicht verstanden haben oder ihn aus niederen Beweggründen heraus entehren. Wenn ich mir bellizistische Politiker wie Boris Pistorius, Friedrich Merz, Keir Starmer, Emmanuel Macron, Ursula von der Leyen und Konsorten in der zweiten und dritten politischen Liga so ansehe, die Wladimir Putin nicht beurteilen, sondern verurteilen, sollten sich diese Kriegstreiber den Balken aus ihren Augen ziehen, bevor sie sich mit dem wesentlich kleineren Splitter in Putins Auge beschäftigen. Diese letzte Aussage von mir ist unfraglich auch wieder ein Urteil, aber sicherlich kein Vorurteil, da ich diese Ansicht nicht ohne eine entsprechende Informationslage vertrete.

Schwieriges Thema, nicht wahr?

Selbstverständlich bin auch ich nicht frei von Urteilen, wie die Inhalte meiner Artikel und Bücher zweifellos zeigen. Ich wettere gegen die Coronadiktatur und ihre hetzerischen Protagonisten, die sich ihrer Verantwortung und einer notwendigen Aufarbeitung entziehen. Ich urteile über Menschen, die Deutschland kriegstüchtig machen wollen, anstatt es friedenstüchtig zu belassen. Ich prangere die kindermordende Politik der Israelis an und kritisiere die nicht rechtschaffenen Verhaltensweisen der Hamas. Ich beanstandete die Verhaltensweisen der Klimakleber, die sich meines Erachtens vor den Karren der Macht- und Besitzeliten spannen ließen, ohne es zu merken. Ich prangere den völlig aus dem Ruder geratenen „Woke-Hype“ an, und so weiter. Auch das sind Urteile – vielleicht zum Teil auch Verurteilungen aus Ihrer Sicht –, die ich mir meines Erachtens jedoch sehr genau überlegt habe, bevor ich sie fällte. Es handelt sich in den oben genannten Fällen in meinen Augen nicht um Vorurteile, also um Verurteilungen vorab. Sie können das gerne anders sehen.

Auch gut durchdachte Urteile über einen Menschen sind selbstverständlich immer subjektiv und können von anderen als unrichtig oder ungerecht aufgefasst werden. Objektive Urteile kann es nicht geben, da Menschen unterschiedliche Wertvorstellungen, Normen, Einstellungen oder moralische Grundsätze haben.

Vorurteile haben oftmals fatale Folgen wie Diskriminierung, Verleumdung, Gewalt und Schlimmeres für den „Vorverurteilten“. Es steht niemandem zu, Andersdenkende und Andersfühlende zu verurteilen oder zu sanktionieren. Was in der Coronazeit diesbezüglich abging, geht auf keine Kuhhaut. Auf einer Berliner Mauer las ich „Ungeimpfte ins Gas“. Spielen solche Kleingeister – schon wieder ein Urteil meinerseits – nicht ein bisschen Gott oder besser gesagt Teufel? Solchen Menschen scheint es gleichgültig zu sein, in ihrem meist unbegründeten Hass und Wahn gesellschaftliche Normen zu verletzen oder Gesetze des Zusammenlebens zu übertreten. Pazifisten, die sich nicht dem Konformitätsdruck der Bellizisten beugen, werden heute teilweise als Volksschädlinge bezeichnet. Das hatten wir in Deutschland schon einmal vor nicht allzu langer Zeit, und wir wollten diesen Fehler „nie wieder“ machen.

Vorgefertigte Meinungen urteilen andere Menschen ab, zwängen sie in kleine Schablonen und machen den oberflächlichen Betrachter blind für das wahre Wesen des anderen.

Werten, Urteilen, Beurteilen und Verurteilen

Es gibt einige Strömungen, die meinen, man sollte ganz auf Urteilen und Werten verzichten. Dieser Meinung bin ich nicht. Diese pauschale Forderung ist völlig haltlos und wird dem täglichen Leben nicht gerecht, wie auch Immanuel Kant schon feststellte. Überlegen Sie sich mal, was in Ihnen vor sich geht, wenn Sie beispielsweise die strategische Entscheidung treffen, ob Sie Kinder haben wollen oder nicht. Bewerten Sie in diesem Fall nicht Ihre Handlungsalternativen? Wägen Sie nicht ab, welche Alternative in Ihrem Leben möglicherweise die bessere für Sie ist? Sie überlegen sich jeden Tag unzählige Male: „Mach ich es so oder so, trink ich einen Kaffee oder einen Tee, ziehe ich die Schuhe oder die Flipflops an?“ – Und was tun Sie dabei? Beurteilen beziehungsweise bewerten!

Der Begriff „Beurteilen“ bezieht sich übrigens eher auf Personen – zum Beispiel eine Verhaltensbeurteilung –, der Begriff „Bewerten“ auf Situationen, Objekte und Ergebnisse – zum Beispiel die Bewertung einer Klausur. Bei jeder simplen Ja/Nein-Entscheidung werden Sie bewusst oder unbewusst abwägen, also bewerten beziehungsweise beurteilen.

Zwischen den Begriffen „Beurteilen“ und „Verurteilen“ sollte ebenfalls klar differenziert werden. Beurteilen sollte man keinesfalls mit Verurteilen gleichsetzen.

Wer beurteilt, versucht, die Wahrheit hinter einer Person zu sehen. Beurteilen ist vorerst einmal ein wertneutraler Begriff, ist also weder positiv noch negativ besetzt. Wir dürfen, können und sollen in entsprechenden Situationen auch beurteilen. Völlig urteilsfrei durchs Leben zu ziehen, wäre gleichbedeutend mit „keine Meinung zu haben“.

Anders verhält es sich jedoch mit dem Verurteilen. Das Wort Verurteilung ist uns unter anderem in Form eines Richterspruchs bekannt. Der Richter erkennt den Delinquenten als schuldig und weist ihm eine Strafe zu. Aber wenn wir ein Urteil über einen Menschen beispielshalber aus einer Situation heraus, aufgrund eines Gedankens oder eines Gefühls fällen, handelt es sich ebenfalls um eine Verurteilung. Wir stellen ihn in eine bestimmte Ecke. Im allgemeinen Sprachgebrauch ist der Begriff Verurteilung negativ besetzt. Viele Menschen verurteilen – und das gerne. Meinungen sind sehr schnell gefasst und festgefahren, und eh man sich versieht, hat man wieder einmal jemanden verurteilt.

Manche Menschen verurteilen Dinge und Personen, die sie nicht „be-greifen“. Sie sind für sie nicht fassbar, sie können sie nicht „anfassen“. Also machen sie es sich leicht – und verurteilen. „Diese langhaarigen Affen wollen nichts arbeiten und ernähren sich auf unsere Kosten“ hat es zu meiner Sturm- und Drangzeit geheißen, als ich noch langes, wallendes Haupthaar mein Eigen nennen konnte und von allen möglichen revolutionären Gedanken beseelt war. Manche Menschen merken anscheinend gar nicht, wie sie mit solchen Verurteilungen in erster Linie sich selbst herabsetzen.

Verurteilung ist häufig Projektion. Wenn beispielsweise europäische Kriegstreiber Wladimir Putin dämonisieren, versuchen sie ihren eigenen, oftmals stärkeren bellizistischen Dämon auf den russischen Präsidenten zu projizieren. Das hat für mich etwas Jämmerliches.

Die Polen stehlen, die Schotten sind geizig, Inder vergewaltigen, Motorradfahrer sind gewalttätig, die Flüchtlinge nehmen uns unsere Arbeit weg und zerstören unsere Kultur, Männer sind Schweine, und, und, und ... „Ja, das weiß man doch, das weiß doch jeder!“ Wer bitte ist „man“, und wer ist „jeder“? Der Dumme nennt eben alles das dumm, was er selbst nicht versteht. „Der Autor hat anscheinend Vorurteile gegen Dumme und maßt sich an, weniger dumm zu sein", könnte sich ein Leser denken. Ich würde mir nicht anmaßen zu glauben, klüger als die Allgemeinheit zu sein, aber sicherlich nicht so stupide wie Menschen, die ernsthaft glauben, Putin beziehungsweise Russland könnte nach Deutschland marschieren, wo es nichts zu holen gibt, außer vielleicht hohe Aktienkurse von Rheinmetall. „Der Froschauer verurteilt doch schon wieder!“ Da haben Sie leider recht, da stehe ich anscheinend noch nicht ganz drüber, wenn ich Verurteiler verurteile.

Menschen, für die Verurteilungen auf der Tagesordnung stehen, haben meist auch eine begrenzte Fähigkeit zu lieben, weil sie sich nicht die Mühe machen, jemanden wirklich kennenzulernen. Liebe kann man doch nur erfahren, wenn man jemandem vollkommen vertraut und versucht, den anderen zu verstehen. Mit Verurteilungen und Vorurteilen kommt man da nicht weiter. Mutter Teresa meinte hierzu:

„Wenn du die Menschen beurteilst, hast du keine Zeit, sie zu lieben.“

Klasse Aussage finde ich, wenn auch das Wörtchen „verurteilen“ meines Erachtens passender als „beurteilen“ gewesen wäre.

„Einen Menschen zu verurteilen“ ist gleichzusetzen mit „einen Menschen nicht zu verstehen“. Wie kann ich einen anderen Menschen schuldig sprechen, ihn verdammen, ihn bestrafen, ohne mir ein Bild von ihm verschafft zu haben? Ist meine Weste wirklich so blütenweiß, mir das anmaßen zu können?

„Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!“

Haben wir uns anderen gegenüber immer fair verhalten? Wenn ein Mensch uns einmal etwas Schlechtes angetan hat, sollten wir nicht den Fehler machen, ihn deswegen von Grund auf für schlecht zu halten. Jeder hat doch zumindest eine zweite Chance verdient, oder?

Bei einer Mitarbeiterbeurteilung beispielsweise spricht man in diesem Zusammenhang vom „Halo-Effekt“ oder auch Ausstrahlungseffekt, wenn die Führungskraft aufgrund einer guten oder schlechten Verhaltensweise die gesamte Beurteilung des Mitarbeiters gut oder schlecht ausfallen lässt. Neben diesem Beurteilungsfehler bei Mitarbeitern gibt es noch weitere, wie zum Beispiel die Tendenz zur Milde/Mitte/Strenge, den Egozentrikfehler, den Hierarchiefehler, und andere.

Die brennende Frage, die einer Antwort bedarf, ist natürlich: Wann soll ich werten und urteilen, und wann nicht? Eine pauschale Antwort hierauf kann es nicht geben. Es wäre schön, mit so wenig Bewertung und Beurteilung wie möglich auszukommen, aber dennoch zu urteilen und zu werten, wenn es nötig erscheint. Sie können Tätigkeiten und Verhaltensweisen einer Person beurteilen, nicht aber ihr ganzes Wesen. Hierfür ist der Mensch zu vielschichtig.

Wenn „schlechte“ Menschen – auch eine einseitige Betrachtung – anderen Gewalt antun, kann man als humanes Wesen nicht einfach wegsehen, sondern sollte eine klare Stellung hierzu beziehen und, wenn möglich, etwas tun. Sich zurückziehen und für mehr Liebe in der Welt meditieren, ist meines Erachtens bei konkreten abscheulichen Ereignissen zu wenig und weltfremd. Wie kann man dabei zusehen, wenn aggressive Menschen die Rechte anderer mit Füßen treten? In der Coronazeit wurden teilweise Achtzigjährige zu Boden gerissen, weil sie das Grundgesetz in ihren Händen hielten. Wie kann ich das Vorgehen der Ordnungskräfte und ihrer Befehlsgeber gutheißen, und diejenigen, die für die Rechte aller auf die Straße gehen, verurteilen? Wie kann ich Wladimir Putin einen Berserker nennen und gleichzeitig die Schandtaten von Benjamin Netanjahu dulden? Da stimmt doch etwas nicht! Unethisches Verhalten sollte man nicht akzeptieren, wenn man damit konfrontiert wird. Es gibt nichts Richtiges im Falschen.

Fazit

Für Menschen, die bewusst oder unbewusst zur Verurteilung anderer neigen, wäre es für ihre persönliche Entwicklung sehr förderlich, sich in dieser Hinsicht in den Griff zu bekommen. Sie sollten sich darüber bewusstwerden, welche Wirkungen Verurteilungen auf sie selbst und andere haben. Sie schränken ihr persönliches Wachstum durch Verurteilungen erheblich ein, da sie nicht bereit sind, auf andere wirklich einzugehen und sie in ihrer Vielfältigkeit zu erkennen. Sie öffnen sich nicht andersartigen und neuen Sichtweisen und verzichten dadurch auf wichtige und bereichernde Erfahrungen. Sie werden es auch schwer haben, andere zu lieben, wenn sie ständig urteilen und insbesondere verurteilen.

Manche Menschen fühlen sich durch ständiges Urteilen und Verurteilen auch stärker, überlegener und mächtiger. Nun, wenn es den Betroffenen hilft, ihr schwaches Selbstwertgefühl aufzuputschen, nur zu! Weiterbringen wird sie diese Verhaltensweise im Leben nicht.

Insbesondere die Wirkungen auf den Verurteilten sind zu bedenken. Wenn ein Mensch sich möglicherweise zu Recht kritisiert fühlt, wird er wahrscheinlich auch die hieraus resultierenden Konsequenzen tragen. Was aber, wenn er sich zu Unrecht verurteilt sieht? Er fühlt sich wahrscheinlich ungerecht behandelt oder zurückgesetzt, ist verletzt oder leidet eventuell an Minderwertigkeitsgefühlen. Davon hat keiner etwas, weder der Verurteilende noch der Verurteilte!

Besonders schlimm für den Be- oder Verurteilten ist es, wenn ihm das Urteil nicht mitgeteilt wird, er aber merkt, dass irgendetwas nicht stimmt. Um diese missliche Situation zu vermeiden, sollten beide Seiten ein klärendes Gespräch suchen.

In gut geführten Unternehmen erfolgt nach einer Mitarbeiterbeurteilung immer ein Beurteilungsgespräch, in dem die Führungskraft ihr Urteil in allen Punkten begründet.

Wenn man urteilt, ist es in den meisten Fällen angeraten, dem Beurteilten das Ergebnis mitzuteilen und eine Begründung anzubieten.

Kurz und gut: Wir sollten Menschen nach Möglichkeit nicht in irgendwelche Ecken stellen, sondern versuchen, uns ein persönliches Bild von dem konkreten Menschen zu machen. Im Laufe des Lebens bilden sich viele Urteile, das ist normal und gut so, solange es sich nicht um ein Vorurteil oder eine Verurteilung handelt.

Viele Menschen drücken sich vor einem Urteil, weil sie keine Stellung beziehen wollen. Das ist meines Erachtens auch nicht in Ordnung und trägt nicht zu einer Bereinigung ungerechter oder gefährlicher Situationen bei. Für den Triumph des Bösen reicht es, wenn die Guten nichts tun, wie wir in den letzten zwei Weltkriegen gesehen haben. Die Guten, die etwas getan haben, wie zum Beispiel die Geschwister Scholl, Claus Schenk Graf von Stauffenberg, Dietrich Bonhoeffer, wurden von den Nazis hingerichtet – nicht zuletzt deswegen, weil zu wenige „Gute“ etwas getan haben. Heute werden sie als Helden gefeiert, auch von denen, die wieder zu „Verurteilern“ werden könnten.

Einen dritten Weltkrieg gilt es zu verhindern, indem wir klar Stellung beziehen und den Bellizisten die rote Karte zeigen.

Wir sollten einem anderen den Stempel nicht „für immer“ aufdrucken, ohne ihm die Möglichkeit zu geben, etwaige „Fehler“ wieder gut zu machen. Jeder macht Fehler, auch Sie und ich, möglicherweise größere als der Be- oder Verurteilte.

Denken Sie an den Balken und den Splitter.


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Quellen und Anmerkungen:

Ende März und Anfang April 2025 wurden meine beiden Bücher
Die Friedensuntüchtigen“ und „Im Taumel des Niedergangs“ veröffentlicht.

Rezension zu diesem Buch: Manova
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Ende September 2024 erschien das Buch „Gefährliche Nullen – Kriegstreiber und Elitenvertreter“.
Rezension zu diesem Buch: Manova

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