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Der Untergrund-Kampf

Der Untergrund-Kampf

Werden wir aktiv zur Rettung der Natur! Exklusivabdruck aus „Im Untergrund“.

Bei unserem nächsten Treffen im Bath House kam ein junger Mann von 20 Jahren mit Dreadlocks und sehr zerschlissenem Gewand vorbei. Er hieß Joseph.

„Eine Baufirma will mitten durch den Wald bei Newbury eine vierspurige Autobahn legen“, begann er zu erzählen. „Das ist einer der letzten alten Wälder, der da gefährdet wird. Auf unserer kleinen Insel England gibt es praktisch keinen Wald mehr. Jedenfalls keinen, der diesen Namen verdient. Auch viele Tiere wohnen dort bei Newbury, die dann ihr Zuhause verlieren würden. Wir haben Baumdörfer in diesem Wald angelegt. Jetzt droht eine Räumung.“

„Aber brauchen wir nicht Autobahnen?“, fragte Christopher. „Möchtest du nicht rasch von A nach B kommen können?“ „Es gibt daneben bereits eine Schnellstraße“, sagte Joseph. „Die Autobahn soll nur doppelt so breit gebaut werden. Und wir wissen aus der Vergangenheit, dass breitere Straßen den Verkehr ankurbeln. Die Staus werden durch breitere Straßen nicht weniger, der Verkehr wird einfach mehr. Und mehr Verkehr bedeutet mehr Umweltverschmutzung.“ „Und einen schnelleren Klimawandel“, fügte ich nachdenklich hinzu.

Der Begriff war zu diesem Zeitpunkt noch nicht etabliert, sondern kam erst zehn Jahre später auf. Deshalb hatte ich mir ein T-Shirt selbst gemacht: „Stop Global Warming“ stand darauf und auf einem Bild darunter konnte man eine Art Atombombenexplosion sehen. Mir war kein anderes Motiv eingefallen, das den Klimawandel besser darstellen würde.

„Wir können nicht anderen Ländern wie Brasilien sagen, sie sollen ihre Wälder erhalten, damit wir atmen können, aber selbst sägen wir unsere allerletzten Bestände um“, ergänzte Steve. „Die Straße dort ist auch gar keine wichtige Verkehrsverbindung“, meinte Joseph. „Die braucht niemand. Jedenfalls haben wir 28 Baumhausdörfer errichtet, mit insgesamt etwa 300 Häusern. Der älteste Baum bei uns hat einen 4,5 Meter dicken Stamm an der Basis und ist 84,5 Meter hoch, also wirklich riesig. Dass man solche ehrwürdigen Bäume einfach umsägt, um so etwas Profanes wie eine Asphaltfahrbahn zu bauen, sodass in Zukunft tausende Autos pro Minute dort vorbeirasen können, ist der ultimative Beweis des Wahnsinns der Menschheit.“

Wir schwiegen eine Zeit lang beeindruckt. Als Bergsteiger und Naturmensch war Umweltschutz immer schon von Bedeutung für mich.

„Wir sind der Stamm der Tongas“, fuhr Joseph fort. „Wir sind Aktivisten und Aktivistinnen aus ganz England, die ihren Wohnsitz in der Zivilisation aufgegeben haben, um diesen Wald zu schützen. Wir haben ihn besetzt und leben dort nun in oft 30 Meter Höhe und mehr in den Bäumen über dem Boden. Die Besitzer des Waldes wollen nicht, dass er gefällt wird, sie sind auf unserer Seite.

Aber der Staat hat sie enteignet, jedenfalls in der Einfallsschneise der geplanten Fahrtrasse. Seit 2 Jahren prozessiert die Baufirma nun gegen uns, um eine Räumung zu erreichen. Das entsprechende Urteil ist jetzt eingelangt, die Räumung steht unmittelbar bevor. Deshalb gehen wir von Stadt zu Stadt, um Leute zu mobilisieren, uns zu helfen. Wir können euch Kost und Logis bieten, daran soll es nicht scheitern. Aber wir sind vielleicht 30 Personen. Wenn uns niemand hilft, sind wir dort in kurzer Zeit wieder draußen.“

Die meisten Anwesenden bei unserem Tierrechtstreffen empfanden das als ein Thema, das sie kaum anging. Sie wollten Tiere in Tierfabriken, Zoos und Zirkussen schützen, und auch Tiere in Versuchslabors und Tiere, die gejagt werden. Eine Autobahn zu verhindern, war nicht ihre Priorität.

Mir dagegen imponierte der junge Mann. Ich konnte verstehen, warum man so alte Wälder schützen will. In Österreich haben wir auch bereits so viel Natur zerstört und die Tannen-Buchen-Urwälder durch artfremde Fichtenmonokulturen als Wirtschaftsforste ersetzt. Grauenhaft. Ich wollte helfen. Und nicht nur um den Wald, sondern auch um die Wildtiere, die dort wohnen, zu schützen. Wie kamen sie dazu, dem Expansionsdrang der Menschheit weichen zu müssen!

Ich nahm mir eine Woche Urlaub. Aus Cambridge wollte nur Jenny mitkommen. Ich kannte sie kaum, war sie doch relativ neu bei uns dabei. Martina sah keine Möglichkeit, ihre Pflegearbeit zu unterbrechen. So machten Jenny und ich uns gleich am nächsten Tag mit einem der Autos unserer Gruppe auf den Weg. „Ist das kein Widerspruch, mit einem Auto zu fahren, um den Bau einer Straße verhindern zu wollen?“, fragte sie mich auf der Fahrt. „Zugegeben, das klingt seltsam“, meinte ich. „Aber wir werden doch nicht zu Fuß anreisen, da würden wir uns viel an Effektivität nehmen. Ich fürchte diesen Widerspruch müssen wir jetzt akzeptieren, wenn wir da mithelfen wollen. Die Straßen, auf denen wir fahren, stehen ja schon. Deshalb kann man immer noch widerspruchsfrei gegen den Bau neuer, und vor allem riesengroßer Straßen sein, die durch Urwälder führen sollen.“

Am Abend trafen wir beim besetzten Gelände in der Nähe von Newbury ein. Zuerst versteckten wir das Auto im Ort, dann gingen wir bis zum Waldrand. Dort mussten wir einen Wassergraben überwinden, der erst kürzlich ausgehoben worden war.

Eine Wache der Besetzer und Besetzerinnen begrüßte uns. „Ja, da müsst ihr rüberspringen“, meinte sie. „Den haben wir angelegt, um die Zufahrt durch Fahrzeuge zu behindern. War ein hartes Stück Arbeit, um das gesamte Gelände herum.“ Als wir bei ihr waren, nahm uns die Besetzerin ins Baumdorf mit. „Einige der Baumdörfer sind bereits geräumt worden“, erzählte sie weiter. „Das hier ist das größte und wichtigste. Es liegt mitten in der geplanten Route der Autobahn. In den nächsten Tagen wird es hier losgehen. Am besten ihr bleibt heute Nacht da.“

Tatsächlich, überall auf den Bäumen tauchten jetzt kleine gezimmerte Holzhütten auf, mindestens 30. Sie waren sehr hoch oben, jedenfalls zu hoch, um sie mit einer Leiter zu erreichen. Von den Baumhäusern hingen Seile herab. Die Häuser oben, ja der ganze Wald, jeder einzelne der großen Bäume, waren durch zwei parallel übereinander laufende Seile verbunden.

„Hi, ich bin Seth“, grüßte uns ein Mann mit rußgeschwärztem Gesicht. „Ihr solltet euch auch gleich alle bemalen. Hier gibt es schwarze und rote Erdfarben. Das ist sinnvoll, weil dann erkennen euch weder die Polizei noch die Bezirksbehörde oder die Baufirma, die jeden auf Besitzstörung klagt, den sie identifizieren kann.“ Und es sieht netter aus als unsere Ballys, die wir bei der Jagdsabotage tragen, dachte ich mir. Da wendet sich die bürgerliche Welt nicht gleich vor so viel Radikalität ab. Jenny optierte für die rote Farbe, ich für die schwarze. Bald sahen wir aus wie alle anderen hier, kaum zu erkennen, insbesondere, wenn man über die Haare ein Tuch band.

Ich blickte mich um. Die meisten der gut 50 Personen, die hier um drei Lagerfeuer saßen, hatten Dreadlocks und punkige Kleidung. Gewaschen hatten sie sich sicher auch länger nicht, dachte ich mir. Wie auch, hier heraußen auf Baumhäusern. Das sind also die Tongas. Sie nennen sich nicht nur wie ein Indianerstamm, sie sehen auch so aus. Mir wurde Essen angeboten, alles natürlich vegan, erklärte man mir. „Wo habt ihr das her?“, fragte ich. „Wir schicken Leute aus, die in der Umgebung dumpstern und aus den Kompostkübeln essbares Gemüse sammeln. So bekommen wir bei weitem genug zusammen“, antwortete eine ebenfalls schwarz bemalte Frau.

Langsam wurde es dunkel. Die düsteren Gesichter der Aktivisten und Aktivistinnen gewannen an Wirkung. „Wir haben hier noch einiges an Hindernissen aufgebaut, sollte die Polizei kommen“, sagte Seth zu uns. „Soll ich euch das zeigen?“ Jenny und ich nahmen das Angebot an.

„Den Wassergraben habt ihr schon gesehen“, begann Seth seine Führung durchs Gelände. „Hier haben wir ein großes Holzfass in den Boden eingelassen, in dem vier Stahlrohre stecken, an die man sich ketten kann.“ Ich musste an unsere Blockade des Hafens denken, griff mir unwillkürlich an mein Handgelenk, das die Polizei damals gebrochen hatte, und beschloss, diese Taktik anderen zu überlassen.

„Da beginnt ein Tunnel“, fuhr Seth fort und zeigte auf ein Loch im Boden. „Er soll verhindern, dass hier mit schwerem Gerät durchgefahren wird. Unten verbarrikadieren sich zwei Personen im hintersten Eck. Davor haben wir eine Stahltür eingezogen und fix vermauert. Es gibt aber ein Luftloch.“ „Ist da jetzt jemand unten?“, fragte ich. „Nein“, sagte Seth. „Das hielte niemand so lange aus. Um das Gelände stehen Tag und Nacht Wachen. Die warnen das Lager, wenn etwas passiert. Dazu verwenden sie große Muscheln, die einen ganz tiefen Ton erzeugen, wenn man hineinbläst. Nicht zu überhören. Diejenigen, die sich für die Besetzung dieser Löcher eingeteilt haben, müssen dann rasch hinein und alles verschließen.“ „Na hoffentlich geht sich das aus“, meinte ich.

„Habt ihr Kletterzeug mit?“, fragte Seth. „Natürlich“, antwortete ich und hielt ihm meinen Sitzgurt hin. Jenny dagegen wollte auf keinen Baum hinauf. „Sich mit einer Bandschlinge zu befestigen reicht nicht“, erklärte mir Seth. „Ihr braucht ein dynamisches Seil, kein statisches, sonst treten, wenn ihr stürzt und in den Gurt fallt, so hohe Kräfte auf, dass das Seil reißt.“ Mit diesen Worten hielt er mir einen Teil eines abgeschnittenen Kletterseils hin. In dem Seilstück befanden sich bereits zwei Achterknoten, einer in Armlänge und einer deutlich näher an jenem Ende, das ich in die Anseilschlaufe meines Sitzgurtes band.

„Kommt mit, ich zeige euch, wo ihr schlafen könnt“, sagte Seth. Jenny verabschiedete sich und ging zum Lagerfeuer zurück. Sie werde am Boden schlafen, meinte sie.

Wir blieben unter einem Baumhaus stehen. „Kannst du daran raufklettern?“, fragte Seth und zeigte auf ein von oben herunter hängendes Seil. „Ja“, sagte ich. „Bin Bergsteiger. Ich habe Reepschnüre und einen Abseilachter mit.“ „Bestens, wenn du dich auskennst“, meinte Seth. „Ich klettere vor. Hier ist ein zweites Seil, das kannst du verwenden. Das Raufklettern dauert ewig, deshalb lassen wir von jedem Baumhaus mehrere Seile herunterhängen. Wenn es ernst wird, müssen wir die alle rasch von oben einziehen.“

Ich band zwei Reepschnurschlingen mit einem Prusikknoten an das Seil und jümarte mich hinauf. Es freute mich, meine Kletterfähigkeiten mit einer sinnvollen Aktion verbinden zu können. Dennoch dauerte es schier ewig lange. 30 Meter sind viel, wenn man sich Zentimeter für Zentimeter hinauf hangeln muss. Mittlerweile war es dunkel geworden. Ich blickte hinunter Richtung Waldboden, der nicht mehr zu sehen war. Es war zu verstehen, dass sich viele Leute dem nicht aussetzen wollten, wie Jenny oder meine Freunde, die zu Hause geblieben waren. Vor allem, wenn sie nicht schon Erfahrung mit Klettern in der Höhe hatten.

Schließlich langte ich am Seilende an. Mit einem Griff, der extra dafür an einem Ast befestigt war, zog ich mich auf die Holzplattform. Sie bildete eine kleine Terrasse. Hier oben brannte Licht von einer Laterne, sodass ich mich orientieren konnte.

Das Baumhaus war erstaunlich groß und geräumig. Man hatte es sorgfältig zwischen die Äste des riesigen Baumes eingepasst, sodass es stabil wirkte. Unter dem Dach befanden sich etwa zehn Schlafplätze. Ich hatte einen kleinen Rucksack mit einer Schlafmatte und einem Sommerschlafsack dabei. Damit legte ich mich zwischen die Aktivisten und Aktivistinnen, die leise miteinander sprachen. Wie dieses Baumdorf wohl morgen bei Sonnenlicht aussehen wird, dachte ich noch, und schlief bald im Glauben ein, morgen früh entspannt aufzuwachen und in der Sonne zu frühstücken.

Falsch gedacht. Plötzlich schrecke ich aufgrund eines lauten Tones aus dem Schlaf. Es ist noch dunkel, 4 Uhr morgens. Im April kann man da noch nicht viel sehen. Die Aktivisten und Aktivistinnen um mich sind in heller Aufruhr. Alle springen aus den Schlafsäcken, Taschenlampen gehen an.

„Was ist los?“, frage ich. „Die Muschel, das Alarmsignal!“, sagt jemand. Immer und immer wieder dringt der düstere Ton durch den Wald, mittlerweile aus mindestens zwei Richtungen. Schatten seilen sich von den Baumhäusern Richtung Waldboden, andere wiederum beginnen den langen Aufstieg zu uns herauf. „Die Polizei kommt!“, schreit jemand. Die hektische Tätigkeit um mich intensiviert sich. Was soll ich jetzt tun, frage ich mich.

„Raus auf die Walkways“, wird nun durch den Wald gerufen, „die Walkway Cutters kommen!“ „Was heißt das?“, frage ich eine Frau neben mir. Kurz blickt sie mich an, als käme ich vom Mond.

„Walkways sind die beiden Seile, die die Bäume und Baumhäuser verbinden“, sagt sie dann. „Walkway Cutters sind lange Messer, mit denen sie von unten die Walkways durchschneiden. Das kann man nur verhindern, wenn sich jemand mitten auf den Walkway stellt. Schneiden sie das Seil, dann stürzt diese Person ab. Wenn wir sie die Walkways abschneiden lassen, dann sind die Baumhäuser und auch manche Bäume voneinander getrennt und können nicht mehr verteidigt werden. Dann fällen sie sie ganz einfach.“ Ich verstehe nicht viel, folge ihr aber hinaus auf einen Walkway.

Ich hänge dafür meine kurze Schlinge, die an meinem Sitzgurt befestigt ist, mit einem Karabiner in das obere Seil des Walkways. Dann nehme ich es mit beiden Händen und stelle meine Füße auf das untere Seil. So kann man ziemlich rasch diese Walkways entlanglaufen. Das muss ich auch, weil wir die Außenteile des Dorfes schützen müssen. Ich folge der Aktivistin über vielleicht fünf Baumhäuser und die dazwischen gespannten Seile, und stelle mich schließlich auf einen Walkway, der an einem Baum endet.

„Yeep! Yeep! Yeep!“, gellt es durch den Wald. Die schwarz bemalten Gesichter laufen oberhalb auf den Walkways über den Polizisten hin und her und geben diesen Ruf dabei von sich, sodass alle wissen, wo sich die Polizei befindet. Da sehe ich einen der Beamten. Seine starke Taschenlampe richtet er zu mir hinauf. „Kommen sie herunter, sie halten sich hier illegal auf!“, ruft er mir zu und leuchtet mir dabei ins Gesicht.

„Yeep!“, antworte ich und bin froh, schwarz bemalt zu sein. Wer weiß, ob irgendjemand Fotos aufnimmt und sie dann mit einer Datenbank der Polizei abgleicht. Und schon kann mir eine Anzeige oder auch Klage ins Haus stehen.

Jetzt kommen auch die Walkway Cutters. Beamte und Beamtinnen mit langen, dünnen Stöcken, zusammengebunden zu mehr als 20 Metern. Ganz oben ist ein Messer montiert. Damit können sie allerdings nur die unteren Walkways gefährden. Manche reichen deutlich höher hinauf. Die „Yeep!“-Schreie schwellen an. Ich spüre richtig, wie es mich mitreißt. Irgendwie wirken die Tongas auf mich wie eine Horde Primaten, die von den Bäumen aus gefährliche Karnivoren verfolgen, um sie zu vertreiben und ihre Sippe vor ihnen zu warnen. Jemand wirft einen kleinen Ast nach unten. Das scheint mir in die Szenerie zu passen und auch ich greife nach einem Ästchen, breche es ab, und lasse es auf den Cutter unter mir fallen. Dass er einen Helm aufhat und davon völlig unbehelligt bleibt, ändert nichts. Als Primat bewirft man nun mal große Karnivoren aus den Bäumen mit Ästchen, vielleicht auch nur, um sie zu verspotten oder zu reizen.

Jetzt hören wir lauten Maschinenlärm. Grelle Scheinwerfer leuchten durch die Nacht, sodass sich das Licht an den Stämmen der Bäume bricht. Ein Konvoi großer Fahrzeuge kommt von Newbury durch die Feldwege auf unseren Wald zu. Wie wollen die durch den Wassergraben, frage ich mich. Da ertönen wieder die Muscheln mit ihrem hohlen, tiefen Klang. Die Warnung betrifft nun eine große Gruppe von ca. 100 Personen in hellen Warnwesten, die am Waldboden durch die Bäume auf uns zu gehen. Einige von ihnen haben Motorsägen dabei und beginnen die kleinen Bäume, die nicht in den Schutz des Netzwerks von Walkways eingebunden sind, zu fällen.

Das Dröhnen der Sägen ist erschreckend. Es wirkt so brutal und unnatürlich. In diesem alten Wald ist es eindeutig fehl am Platz.

Gegen das Fällen dieser kleinen Bäume können wir nichts unternehmen, aber solange die Walkways aufrecht bleiben, haben sie damit nicht viel gewonnen. Am Waldrand setzt nun großer Baulärm ein. Die Walkway Cutters sind fort und einige der Aktiven sitzen an den Bäumen um mich herum, jederzeit bereit, einzugreifen, sodass ich es wagen kann, meinen Walkway zu verlassen und in Richtung Baulärm zu queren.

Die Walkways reichen bis zum Waldrand. Dort stehen bereits 20 Aktive auf den Ästen und blicken hinunter. „Was passiert?“, frage ich. „Sie bauen eine Brücke über unseren Wassergraben“, sagt jemand. „Schau, dahinter stehen zwei Cherry Picker. Sie wollen mit diesen Kränen in den Wald, um uns aus den Baumhäusern zu holen.“ „Cherry Picker?“, frage ich. „Ach, das sind Kräne mit Plattformen, auf denen ein halbes Dutzend Beamte und Beamtinnen Platz hat“, antwortet der Mann. „Die hieven sie zu unseren Baumhäusern hinauf und stürmen sie. Das ist sehr gefährlich!“

Mittlerweile ist die Sonne aufgegangen und ich kann die geschäftige Tätigkeit an der Baustelle verfolgen. Am Waldboden ist ein Großaufgebot von Polizei damit beschäftigt, die Aktivisten und Aktivistinnen aus den Rohren zu bekommen. Laute Hilfeschreie sind zu hören. Hoffentlich sind die Cops hier weniger brutal als in Brightlingsea, denke ich.

Plötzlich schaltet sich auf einem der Bäume ein Stromgenerator ein und kurz darauf dringt Technomusik mit großer Lautstärke aus einer Reihe von Boxen, die am höchsten der Bäume befestigt sind. Ich blicke hinüber und sehe, dass an diesem Baum eine zehn Meter lange Eisenstange vom Wipfel nach oben ragt. Am Ende dieser Stange, also noch einmal fast zehn Meter höher als der höchste Baum, hängt ein Aktivist. Wow, denke ich. Es gibt hier einige sehr mutige Leute.

Die Technomusik ist ohrenbetäubend. Versucht da jemand, die Staatsmacht mit Schall zu vertreiben? Jedenfalls kann man einen Beamten nicht verstehen, der uns über Lautsprecher irgendetwas vorliest. „Das ist die Eviction Order, der Räumungsbescheid“, sagt eine Frau neben mir. „Die muss man vorgelesen bekommen haben, wenn sie rechtsgültig sein soll. Also ich kann nichts hören. Du?“ Ich muss lächeln.

Doch die Technomusik bleibt uns in voller Lautstärke erhalten, auch als der Behördenvertreter wieder weg ist. Dann spielen sie „I Shot the Sheriff“. Mangelnden Humor kann man dieser Waldbesetzerszene nicht vorhalten.

Ich blicke mich um. Erstmals ist es mir möglich, die Umgebung zu betrachten. Überall kleben kleine und größere Häuschen in den Bäumen, dazwischen quasi als Dorfplatz auch eine größere Plattform. Tatsächlich, die Bäume sind wirklich alte Urwaldriesen. In East Anglia, wo ich wohne, gibt es derartige Wälder überhaupt nicht mehr. Ein guter Grund, sie hier zu verteidigen, denke ich mir.

Nach einigen Stunden hat die Polizei die Brücke fertiggestellt und die beiden Cherry Picker fahren darüber. Doch im Wald kommen sie nicht weit. Die Bäume stehen zu dicht. Die Polizei muss sich daher mit diesen Geräten langsam von einer Seite durch unser Baumdorf vorarbeiten und die Bäume Stück für Stück fällen, um mit ihren Maschinen manövrieren zu können. „Die Kletterer kommen!“, rufen plötzlich viele Stimmen.

Als ich einen Aktivisten neben mir dazu befrage, erklärt er mir, dass sie bei Räumungen von Baumdörfern immer gleichzeitig mit Cherry Pickern von der Seite und mit Kletterern von unten kämen. Ich sehe drei Teams von jeweils vier Kletterern, die die äußersten Bäume unseres Walkway-Netzwerkes besteigen. Dabei bohren sie Spieße in die Rinde und legen Sicherungsschlaufen. Leicht ist es nämlich nicht, auf diese Bäume zu gelangen. Wie in jedem alten Wald sind die Stämme der meisten Bäume die ersten 20 Meter über dem Boden ohne Äste.

Die Tongas rennen nun kreischend die Walkways entlang, um ihre Bäume zu verteidigen. Auf jedem befinden sich bald um die zehn Personen, als die Kletterer zum unteren Seil der Walkways kommen. Aber dort ist Endstation. Ein Aktivist steht jeweils direkt über dem obersten Kletterer und steigt ihm mit vollem Gewicht auf den Helm. Die Kletterer können nicht mehr weiter hinauf. Da fährt der erste der Cherry Picker seine Plattform in die Höhe und greift einen dieser Bäume an.

Zu meinem Erstaunen werden die sieben Polizisten auf dieser Plattform von einer Lawine an Wasser- und Schlammbomben getroffen. Auf meinen fragenden Blick hin kommentiert der Aktivist neben mir, dass überall in den Baumhäusern haufenweise solche „Bomben“ gelagert sind. Das gehöre zur Verteidigung dazu, den Gegner nass zu machen und völlig zu verdrecken.

Als der Cherry Picker ein zweites Mal seine Plattform dem Baum nähert, fliegen wieder Wasserbomben. Ich sehe, wie eine Kette von Aktiven diese Wasserbomben aus den anderen Baumhäusern über die Walkways an die Front schafft. Tatsächlich, dieser ganze Konflikt hat eine Frontlinie.

Ich bin noch unschlüssig, wie ich mich beteiligen soll, da sehe ich am Boden einige Aktivisten und Aktivistinnen, die von der Polizei aus dem Wald getragen werden. Jenny ist darunter. Offenbar räumen sie jetzt einmal den leicht für sie erreichbaren Bereich. Der Tunnel, in dem sich zwei Aktivisten verschanzen, versperrt den Cherry Pickern die weitere Zufahrt. Sie sind zu schwer und könnten einbrechen, und dadurch das Leben der Tongas gefährden. Also muss der Tunnel zuerst geräumt werden.

Als ich wieder zum ersten umkämpften Baum blicke, wird mir klar, dass der nicht mehr zu halten ist. Die Kletterer sind das kleinere Problem, aber die Polizisten auf dem Cherry Picker können einzelne Aktive einfach festhalten und auf ihre Plattform ziehen. Ist das gelungen, werden sofort Handschellen angelegt und die Plattform wieder nach unten gefahren. Der Aktivist landet im Arrestwagen und die Plattform wandert wieder nach oben. Auf diese Weise können sie wirklich die „Cherries“, also die Kirschen, aus den Bäumen picken!

Ist die Bedrängnis zu groß und eine Festnahme zu wahrscheinlich, flüchten schließlich die Aktiven vom Baum auf die Walkways, die sich unter der Last mehrerer Personen stark durchbiegen. Die Kletterer übernehmen nun den Baum, allerdings können die Walkways noch immer nicht abgeschnitten und der Baum gefällt werden, solange sich noch Aktivisten und Aktivistinnen auf dem Walkway befinden, der diesen Baum mit anderen verbindet. Wow, denke ich, diese Räumung wird noch lange dauern!


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