Zum Inhalt:
Unterstützen Sie Manova mit einer Spende
Unterstützen Sie Manova
Die erreichte Grenze

Die erreichte Grenze

Dem Philosophen Gunnar Kaiser machte es schwer zu schaffen, dass er mit Argumenten in einer formierten Gesellschaft so wenig ausrichten konnte. Exklusivauszug aus „Habe ich genug getan?“ von Raymond Unger.

Der Beitrag „Meine Grenze ist erreicht“ wird Gunnar Kaisers tatsächlicher Intellektualität kaum gerecht. Das Video entsteht auf dem Kulminationspunkt seiner Karriere und ist zugleich Zeugnis einer tragischen Dekompensation. Zuvor hatte der Philosoph über viele Jahre eine große Selbstausbeutung betrieben. Der empfundene Lehrauftrag lautete, das Bewusstsein für den hohen Wert einer freien Gesellschaft zu fördern. Die Reihe der Interviewpartner, aber auch die vielen zitierten Denker, lassen unschwer eine liberale Aufklärungsarbeit erkennen, die, wie bereits erwähnt, lange vor Corona begann. Doch nach aller Mühsal dieser wichtigen Arbeit muss der hoch motivierte Aufklärer schließlich erkennen, dass unter dem Coronanarrativ alle freiheitlichen Grundlagen im Handstreich einkassiert werden konnten. Der liberale Humus der westlichen Gesellschaft stellte sich als außerordentlich dünn heraus, ein kurzer Starkregen neuer Angstnarrative hatte ihn mühelos hinweggeschwemmt.

Insbesondere das Versagen jener Institutionen, die als Garant und Wächter demokratischer Freiheit galten — freie Wissenschaften, freie Medien und freie Künste — hatten auf ganzer Linie versagt. Mehr noch — ausgerechnet viele Intellektuelle stellten sich in die erste Reihe des neuen Totalitarismus:

„Diese persönlichen Enttäuschungen haben mich aber doch am meisten beschäftigt. Ich habe darüber länger — auch öffentlich — nachgedacht, was das mit mir selbst zu tun hat. Diese Enttäuschung ist offensichtlich die Wirkung einer Täuschung oder einer Erwartung, die ich von anderen hatte. Abstrakt gesagt, war es die Rolle der Intellektuellen, die mich frappiert hat. Dass es dort eben keine deutlichen Stellungnahmen gegen das Narrativ gab. Nicht nur gegen das Narrativ, sondern gegen die Verengung der Debattenräume.

Als Intellektueller muss man nicht unbedingt auf der anderen Seite sein. Es würde aber schon helfen, weil die andere Seite der Macht meistens unabhängig ist und einen besseren und klareren Zugang zur Wahrheit hat. Aber das muss ja nicht automatisch so sein. Es ist doch die Pflicht des Intellektuellen, für eine offene Gesellschaft zu plädieren. Zu merken, wo Menschen ausgegrenzt werden, wo Meinungen verboten, wo Menschen mundtot gemacht werden. Das haben wir nicht nur in den letzten zweieinhalb Jahren gesehen. Dass das überhaupt nicht passiert ist, hat mich wirklich bestürzt. Ich habe mich gefragt, ob ich eine vollkommen falsche Sicht auf die Intellektuellen hatte. Ich habe mir gedacht: Im Notfall werden sich diese Menschen bestimmt nicht vor den Karren spannen lassen beziehungsweise höchstens vor den Karren der Freiheit. Sie werden diese Sichtweise in den Fokus rücken, die bewusst ausgeblendet wird. Oder nur aus Versehen ausgeblendet wird, vielleicht aus einem Systemfehler heraus. Hatte ich da die falsche Sicht auf den intellektuellen Diskurs und auf die Rolle des Intellektuellen?

Ich möchte noch nicht ganz Abschied davon nehmen, zu sagen, ‚ach, der Intellektuelle war eh immer nur eine Witzfigur der Geschichte, die sich angemaßt hat, besser über das Leben der Menschen Bescheid zu wissen als sie selber‘. Das war tatsächlich sehr oft der Fall. Ich halte immer noch dieses Ideal hoch. Meine Enttäuschung ging dann dazu über, zu fordern: Wir brauchen einfach bessere und unabhängige Intellektuelle, deren natürlicher Wohnraum nicht der Enddarm der Regierung ist“ (1).

Gunnars Bitterkeit bestand in der Feststellung, dass die intensive Aufklärung nach 1945 bezüglich der bösartigen Ausgrenzung von Teilen der Gesellschaft, in der Regierung, Medien und Bürger Jagd auf „Schuldige“ machten, nur wenig gefruchtet hatte. Insbesondere die leichtfertige Aufkündigung der ethischen Wertebasis, die die Grundlage der unveräußerlichen Menschenrechte begründet, machte Gunnar zu schaffen.

Hierbei galt die Regel, dass der Staat niemals Menschenleben als wertvoller oder unwerter gegeneinander aufrechnen darf. Selbst bei Szenarien, bei denen wenige Menschen geopfert werden müssen, um eine höhere Anzahl Menschenleben zu retten, galt das absolute Tötungsverbot. Berühmt wurde das von Ferdinand von Schirach beschriebene Gedankenexperiment „Terror“, bei dem der Luftwaffenmajor Lars Koch ein Passagierflugzeug mit 164 Menschen an Bord abschießt, weil die Maschine Kurs auf die Allianz-Arena in München genommen hatte, wo 70.000 Menschen zu Tode gekommen wären. Der Rechtsanwalt Ralf Ludwig führt das entsprechende Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu einer derartigen Abwägungsentscheidung aus:

„Das Bundesverfassungsgericht hat dann das Folgende gesagt — und lassen Sie mal die letzten drei Jahre Revue passieren und hören Sie sich diese Worte an: ‚Sie werden dadurch, dass ihre Tötung als Mittel zur Rettung anderer benutzt wird, verdinglicht und zugleich entrechtlicht, indem über ihr Leben von Staats wegen einseitig verfügt wird. Den als Opfern selbst schutzbedürftigen Flugzeuginsassen wird der Wert abgesprochen, der dem Menschen um seiner selbst willen zukommt.‘ Und das Bundesverfassungsgericht führt weiter aus, unter der Geltung des Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz Menschenwürdegarantie, ‚ist es schlechterdings unvorstellbar, auf der Grundlage einer gesetzlichen Ermächtigung unschuldige Menschen, die sich in einer derart hilflosen Lage befinden, vorsätzlich zu töten.‘ Das ist die Grundlage unserer westlichen Demokratie, unseres westlichen Werteverständnisses — der Staat tötet keine Menschen, auch nicht, um andere Menschen zu retten“ (2).

Die Berater der Bunderegierung argumentierten zwecks Durchsetzung der Massenimpfung jedoch diametral entgegengesetzt: Obgleich nicht abgestritten wurde, dass man mit einer Massen- oder gar Zwangsimpfung eine unbestimmte Anzahl von Menschen töten würde, behauptete man, die Maßnahme würde im Gegenzug eine weitaus größere Menschenmenge vor dem „Killervirus“ retten. Nach heutigem Stand des Wissens ist es mehr als umstritten, dass diese Rechnung jemals aufging. Doch was noch weitaus wichtiger ist: Die Argumentation „wenige gegen ihren Willen töten, um eine Mehrheit zu retten“ war ethisch schlichtweg unzulässig.

Angesichts der Missachtung aller Werte, die die freiheitliche Gesellschaft einstmals ausgemacht hatten, strotzt Gunnars unter hoher Emotionalität und in freier Rede vorgetragener Beitrag „Meine Grenze ist erreicht“ vor Enttäuschung, Resignation und Erschöpfung.

Wie ein Kreisel dreht sich seine spontane Rechtfertigungs- und Enttäuschungsrede um die Begriffe „Grenze“, „Grenzziehung“ und „Abgrenzung“. Mühsam und nur angesichts großer Ratlosigkeit und Erschöpfung leitet sich der Sprecher die Erlaubnis zu einer persönlichen Auszeit ab. Der tiefgründige moralische Anspruch an sich selbst lässt sich besser verstehen, wenn man auch das viele Monate später aufgezeichnete Video „Habe ich genug getan?“ gesehen hat. Beide Beiträge rahmen das Erfassen des persönlichen Schicksals vom ersten Erahnen des Unheils bis zur finalen Gewissheit des nahen Todes ein — ich komme darauf zurück.

Nach meiner Auffassung ist der berührende Stegreif-Vortrag der Schlüssel, um Gunnar Kaisers nachfolgende Krebserkrankung zu verstehen. Natürlich ist der Kausalzusammenhang zwischen aufopfernder Corona-Aufklärung und Krebserkrankung nicht beweisbar. Es wäre ebenso gut möglich gewesen, dass Gunnar Kaiser diese schwere Erkrankung auch während seiner vergleichsweise ruhigen Beamtenkarriere entwickelt hätte — niemand kann dies mit Sicherheit sagen. Als ehemals ganzheitlicher Therapeut empfinde ich meine These allerdings nicht als besonders steil. Seelische Konflikte, Sinnkrisen und tiefe Erschöpfung sind aus dieser Perspektive seit jeher an der Genese von Krebs- und Autoimmunerkrankungen beteiligt. Zudem sollte man Gunnars eigene Aussagen für diese Kausalität schlichtweg respektieren; nicht zuletzt stellte er selbst diesen Zusammenhang her. Außerdem möchte ich an dieser Stelle an die gut erforschte immunsuppressive Wirkung erinnern, die grobe Ausgrenzung und Abwertung mit sich bringen. Kaum hatte Gunnar Kaiser die Segnungen unbelasteter Popularität als Romanautor genossen, da wurde er schon als „rechtsoffener Schwurbler“ diffamiert. Dass sich der große Aufklärer darüber hinaus „wie von außen vergiftet“ fühlte, wird er mir Monate später am Genfer See noch gestehen.

Wer tiefer in die Chronologie der Ereignisse eintaucht, stellt fest, dass Gunnar Kaiser nach der Verarbeitung seiner Enttäuschung ein neues Erklärungsmodell für die Geschehnisse entwickelt. Beeinflusst von dem Naturphilosophen Jochen Kirchhoff sowie dem amerikanischen Dramaturgen CJ Hopkins — mit beiden führte er mehrere Interviews — konzentriert sich Gunnar auf das Phänomen der Massenbildung. Zu seinem eigentlichen Vermächtnis zähle ich daher sein vorletztes Buch „Der Kult“. Darin beschreibt er den Untergang der liberalen Gesellschaft, da diese in eine totalitäre Ersatzreligion abgleitet, die in ihrer hypnotischen Massenwirkung weitaus mächtiger ist als jede intellektuelle Aufklärung:

„(…) müssen wir der Erkenntnis ins Auge sehen, dass immer nur einige wenige immun bleiben, die Entwicklungen dokumentieren, frühzeitig vor dem Schlimmsten warnen und auf ihre je eigene Art Widerstand leisten, dafür mit Ausschluss, Missachtung, Haft oder Tod bestraft und ein paar Generationen später zu Helden erklärt werden, denen man Denkmäler baut, um ihr Andenken, im nächsten Totalitarismus, getrost wieder zu vergessen?“ (3).

Eine zentrale Feststellung in den letzten Videos von Gunnar ist seine intellektuelle Machtlosigkeit. Fast verblüfft gesteht er zu, dass die Welt da draußen anders zu funktionieren scheint als in seinem Kopf, in dem er sich den Zugang zur Wirklichkeit vorwiegend denkend erschließt.

Nun ist es jedoch leider so, dass ein Großteil der Menschen weniger denkt als fühlt, ja, mehr noch, dass zudem vollkommen andere Dynamiken greifen, wenn es um große Menschenmassen geht. In „Der Kult“ formuliert Gunnar Kaiser aus, dass der Mensch von zumeist unbewussten Ängsten und Bedürfnissen getrieben wird, die sich letztendlich als Angst vor dem Tod und dem Bedürfnis nach Transzendenz eines diffusen Schuldgefühls bemerkbar machen. Da diese Ängste in einer materiellen und säkularen Gesellschaft keinerlei Beruhigung über religiöse Sinnkonzepte und Rituale erfahren, entwickeln sich Ersatzkulte, die alle Merkmale einer Religion tragen: Symbole der Gemeinsamkeit (Maskentragen, Lastenfahrräder benutzen), rituelle Handlungen (Desinfektion, Ökostrom bestellen), neue Heilige (Christian Drosten, Greta Thunberg), Buße und Ablasshandel (Veganismus, freiwillige Isolation, CO2-Einsparungen) und die Jagd nach Ketzern (Ungeimpfte, Klimaleugner) kennzeichnen das Pandemie- und Klimanarrativ.

Was anfangs absurd bis amüsant klingt, wird jedoch keineswegs lustig, sobald über weitere kollektive Faktoren die sogenannte Massenbildung einsetzt. Spätestens hier endet jede Freiheit. Wer es jetzt noch wagt, dem „Kult“ zu widersprechen, läuft ernsthaft Gefahr, geschädigt, verfolgt und final sogar getötet zu werden. Sofern man den psychologischen Mechanismus zur Massenformation kennt und über eine entsprechende Medienmacht verfügt, kann man das Phänomen bewusst induzieren, um sich politische Macht zu sichern. Der deutsche Journalist und Autor Milosz Matuschek bringt die Technik auf den Punkt:

„Wenn es eine Lehre aus den letzten drei Jahren der pandemischen Machtergreifung gibt, dann folgende: Es ist möglich, einer Masse von Menschen die Vorstellung einer neuen Realität zu vermitteln und diese als so verbindlich erscheinen zu lassen, dass die Verblendeten sogar bereit sind, die neue Realität bis aufs Blut zu verteidigen. Das gelingt, wenn man Menschen wie Plastilin zu einer Masse formt. Der belgische Psychologe und Universitätsprofessor Mattias Desmet hat die Theorien Gustave Le Bons auf die Coronazeit angewandt und festgestellt: Die ‚Massenformation‘ funktioniert unabhängig vom Bildungs- oder Zivilisationsgrad. Sie ist ein Hack des geistigen menschlichen Programms. Das Ausnützen einer Schwachstelle. Und diese Schwachstelle lässt sich für verschiedene Themen immer wieder neu ausnutzen.

Im Kern ist der Mechanismus so einfach wie perfide: Es ist eine Spielart von ‚Teile und herrsche‘, aber auf besonders manipulative Weise: Mache große Teile der Bevölkerung über Jahrzehnte einsamer und verlassener. Erfinde dann einen gesellschaftlichen Zweck (Gesundheitsschutz et cetera), den du mit massiver Propaganda in die Köpfe hämmerst. Nutze unbegründete Angst und falsche ‚Solidarität‘ als Hebel. Siehe da, die einsamen und vereinzelten Individuen beginnen sich mit dem höheren Ziel zu identifizieren, sie fühlen, wie eine Art Gruppenidentität entsteht. Und sie sind endlich Teil davon und plötzlich nicht mehr allein. Erst teilt man also, und dann fügt man die Gesellschaftsteile unter einem neuen Zweck wieder zu einem Kollektiv zusammen. Ein alter Trick mit immer wieder neuen Hasen, die man aus dem Hut zaubert. (…)

Gefangen genommen wird man so letztlich vom eigenen Glauben, nun endlich der richtigen Seite anzugehören und dafür eine Aufwertung zu erfahren. Der Preis der Gefangenschaft ist das gute Gefühl. Die Falle besteht darin, dass die selbst gewählte Knechtschaft nur um den viel höheren Preis des Eingeständnisses der Selbsttäuschung verlassen werden kann. Das Angenehme versklavt also, erst das Unangenehme befreit.

Im Kern ist die Massenformation eine Art der Gruppenhypnose, ein extremer Kollektivismus. Dieser erstarkt, weil er die Energie aus den persönlichen Beziehungen heraussaugt, die direkten Verbindungen, selbst zwischen Verwandten, schwächt und brüchig macht, bevor er das Bedürfnis nach Beziehung auf ein Kollektiv umpolt. Massenformation ist damit eine Form der Umprogrammierung des Menschen“ (4).

Milosz Matuschek ist ebenfalls ein enger Freund Gunnar Kaisers; es verwundert daher nicht, dass sich auch sein Erklärungsmodell bezüglich des Freiheitsverlustes um das Thema der Massenformation dreht. Verschiedene Freidenker greifen das Thema auf, und der von Matuschek erwähnte Professor für Klinische Psychologie Mattias Desmet schreibt das Grundlagenwerk „Die Psychologie des Totalitarismus“ (5), das diesbezüglich keine Fragen offenlässt.


Dieser Text ist ein Auszug aus „Habe ich genug getan? In memoriam Gunnar Kaiser“ von Raymond Unger. Hier können Sie das Buch bestellen.


Wenn Sie für unabhängige Artikel wie diesen etwas übrig haben, können Sie uns zum Beispiel mit einem Dauerauftrag von 2 Euro oder einer Einzelspende unterstützen.

Oder senden Sie einfach eine SMS mit dem Stichwort Manova5 oder Manova10 an die 81190 und mit Ihrer nächsten Handyrechnung werden Ihnen 5, beziehungsweise 10 Euro in Rechnung gestellt, die abzüglich einer Gebühr von 17 Cent unmittelbar unserer Arbeit zugutekommen.


Quellen und Anmerkungen:

(1) The Epoch Times, „Gunnar Kaiser: Krebs als Chance zur Selbsterkenntnis“, 29. November 2022
(2) YouTube, „Ralf Ludwig auf der Zukunftskonferenz für Thüringen, Bündnis für Thüringen“, 25. Oktober 2023
(3) Gunnar Kaiser: Der Kult, Rubikon 2022
(4) Freischwebende Intelligenz, „Massenwahn und Methode: Wir müssen die Versklavungsmechanismen der Moderne durchbrechen“, Milosz Matuschek, 21. Oktober 2023
(5) Mattias Desmet: Die Psychologie des Totalitarismus, Europa Verlag 2023

Weiterlesen

"Tote laden nicht nach!"
Aus dem Archiv

"Tote laden nicht nach!"

Der NSU-Prozess in München neigt sich dem Ende zu. Die Geduld auch. Ein Interview, das drei zentrale Schauplätze noch einmal abgeht.