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Die Fantasy-Welle

Die Fantasy-Welle

Obwohl die Corona-Epidemie praktisch zuende ist, aktiviert die Schweiz „Notstandsrecht“, um Zwangsmaßnahmen durchzusetzen.

„Die Fallzahlen steigen!“:

Seit Tagen malen die Medien in immer schrilleren Tönen das Bild der zweiten Welle. Dass mehr Tests denn je zuvor gemacht werden, verschweigen sie tunlichst. Seit der Bund die Kosten übernimmt, ist die Anzahl Tests auf Rekordhöhe gestiegen.

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Die Tests wurden in den letzten vier Wochen auf Höchststände ausgeweitet. Die Positivrate bleibt stabil unter 1 Prozent. (Grafik: BAG, Ergänzung in blau: Zeitpunkt)

Dass der Anteil der Testpositiven seit Mitte März stetig sinkt — während der Hochsaison des Corona-Virus lag er 40 mal höher —, wird dagegen nicht genannt. Seit fünf Wochen liegt er beharrlich unter 1 Prozent, was in etwa dem viralen Grundrauschen entspricht. Bei Billionen von Viren in jedem Individuum hat es immer von allem ein bisschen in der Gesellschaft.

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Zahlen: BAG, Grafik: Zeitpunkt

In den letzten vier Wochen starben gerade noch 7 Menschen mit Covid-19, vielleicht einer „an“ dem neuartigen Virus. In derselben Zeitspanne wurden pro Woche noch 8 Menschen mit dem Corona-Virus ins Spital eingeliefert (wöchentliche Situationsberichte des BAG) — ein winziger Anteil von 0,18 Prozent der 4.830 Menschen, die pro Woche in der Schweiz hospitalisiert werden (Basis 2018, Bundesamt für Statistik)

Das ist beim allerbesten Willen keine Krise, die eine Aktivierung von Notrecht erfordert. Es ist nicht einmal eine „besondere Lage“. Es ist vollkommen normal, dass jederzeit ein paar Menschen am Ende ihrer statistischen Lebenserwartung mit Grippesymptomen und Atemwegserkrankungen im Spital behandelt werden müssen und dass einige von ihnen sterben.

Trotzdem zogen die Medien die Alarmglocken: „Die Kantone schlafen!“ in den Worten des Boulevards. Der Bundesrat musste handeln — vielleicht wollte er auch. Die Bundespräsidentin, die zwei Tage zuvor eine Foto von sich mit Maske verbreiten liess, konnte sich während der Ankündigung der erneuten Verschärfungen mehrmals ein Lächeln nicht verkneifen (2:20 der Medienkonferenz).

Und der Gesundheitsminister machte schon in der Samstagsrundschau von Radio SRF vom letzten Samstag klar, dass es bei der „Epidemie“ längst nicht mehr um Tote oder fehlende Intensivbetten geht, sondern nur noch um die Bekämpfung eines Virus von mittlerer Gefährlichkeit (bis dato starben 0,006 Prozent der Weltbevölkerung mit Covid-19). „Die Epidemie bleibt bei uns, bis wir einen Impfstoff haben“, sagte er gleich zweimal in der halbstündigen Sendung.

Notrecht wird also nicht mehr angewendet, um eine Not abzuwenden, sondern um ein Virus zu bekämpfen, das viel weniger gefährlich ist, als man angenommen hat. Im März, als die Hochrechnungen noch nicht entkräftet waren — siehe dazu das Fiasko des Modells des angesehenen Imperial College — konnte man dem Bundesrat eine gewisse Übervorsichtigkeit noch nachsehen.

Die Zahlen sind eindeutig, die Pandemie ist zu Ende.

Aber heute kann sich der Bundesrat nicht mehr mit einem „Blindflug“ rechtfertigen. Heute weiss er, was Sache ist. Die Zahlen sind eindeutig, die Pandemie ist zu Ende. Wenn er trotzdem in die falsche Richtung fliegt, dann tut er es vermutlich gegen besseres Wissen.

Die „Fallzahlen“ sind heute sein Kampfbegriff erster Wahl. Wenn es um Medizin geht, stellen sich die meisten Menschen unter einem „Fall“ etwas von Bedeutung vor. Eine Grippe dürfte kaum diesem Kriterium entsprechen.

Die „steigenden Fallzahlen“ bezeichnen aber bloss positive Tests. Sie verschleiern den Anteil der Symptomfreien und natürlich den Anteil der echten Krankheitsfälle. Von den 762 „Fällen“ der letzten vier Wochen führten nur gerade 30 (3,9 Prozent) zu einer Hospitalisation (Situationsbericht des BAG). Damit ist der „Fall“ als Begriff ähnlich vage wie die „asymptomatische Krankheit“, dei als Bezeichnung eines Zustandes populär wurde, den es gar nicht gibt: eine Krankheit ohne Krankheitsmerkmale.

Daraus den Bedarf einer notrechtlichen Intervention abzuleiten, ist kühn. Sie zeigt, was vom Versprechen des Bundesrates zu halten ist, „eine Verordnungsregelung[, die] sachlich nicht mehr nötig und gerechtfertigt ist, […] — im Einklang mit dem verfassungsrechtlichen Verhältnismässigkeitsprinzip — bereits vor Ablauf der Geltungsdauer aufzuheben“. Dies schreibt er auf Seite 8 der Erläuterungen zum Entwurf des „Covid-19-Gesetzes“, mit dem er die Verlängerung seiner notrechtlichen Kompetenzen bis Ende 2022 legalisieren will.

Es ist ausserordentlich mutig, ein Gesetz für verlängerte notrechtliche Kompetenzen mit dem Versprechen in die Vernehmlassung zu bringen, sie massvoll anzuwenden und diese Zusage acht Werktage später zu brechen. So etwas kann der Bundesrat nur wagen, wenn er sich der Unterstützung der Medien sicher ist, wenn er die Mehrheit der Parlamentarier dank seiner corona-bedingten Geldgeschenke auf seiner Seite weiss und wenn er damit rechnen kann, dass das Publikum weder Tabellen lesen will noch selber einfache Berechnungen anstellen kann. Der deutsche Mathematikprofessor Wolfram Meyerhöfer hatte recht, als er die Corona-Krise „auch eine Krise der mathematischen Bildung“ nannte.

Trotzdem: Die schikanöse Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr, die der Bundesrat gestern ankündigte, ist absurd und entbehrt jeder wissenschaftlichen und gesundheitspolitischen Grundlage. Die Wirkung der Gesichtsmaske ist umstritten und die Gesundheitsbehörden der meisten Staaten bezeichneten sie mal als unnötig, mal als empfehlenswert, mal als zwingend erforderlich.

Zudem wird die Maskenpflicht willkürlich angewendet. Sie gilt auf Schiffen, wo man sich auf Deck gerne und ganz ohne Risiko den Fahrtwind ums Gesicht säuseln lässt, sie gilt nicht in Flugzeugen, wo man so eng sitzt, wie sonst nirgends. Dafür gilt sie, wenn man seine Meinung an einer Demo frei äussern will und kein contact tracing eingerichtet ist.

Was ist die politische Bedeutung dieser Verschärfung? Der Bundesrat gibt damit nach verschiedenen Lockerungen gewissermassen den Startschuss für die zweite Welle. Sie basiert, wie schon die erste, auf Hochrechnungen.

Während man den ersten noch glauben durfte, sind die Modelle für die zweite Welle nachweislich falsch.

Ein besonders deutliches Beispiel lieferte Prof. Fellay von der ETH Lausanne, Mitglied der bundesrätlichen „Swiss national Covid-19 Task Force“. Er hat im April berechnet, dass es diesen Sommer 5.000 bis 20.000 Corona-Tote geben wird, also bis zu zwölf Mal mehr als während der Hauptwelle. Um auf dieses bedrohliche Resultat zu kommen, beging er zwei unbegreifliche Fehler.

Zum einen ging er davon aus, dass alle Infizierten auch erkranken. Dabei wusste man schon im April, dass 50 bis 80 Prozent der Infizierten keinerlei Symptome haben. Sein zweiter kapitaler Fehler: Seiner Hochrechnung zufolge haben alle Altersgruppen dieselbe Sterbewahrscheinlichkeit. Auch damals wusste man schon, dass alte Menschen mit Vorerkrankungen den allergrössten Teil der Todesopfer ausmachen.

Es spricht nicht gerade für die wissenschaftliche Qualität der Task Force, dass eine derart mangelhafte Studie nicht zurückgezogen wird oder sich die anderen Mitglieder nicht wenigstens von ihr distanzieren. Die bundesrätliche Task Force rechtfertigt sonst den Vorwurf, nicht die Pandemie zu bewältigen, sondern sie zu verlängern.

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Zufall? Die Zustimmung zur Maskenpflicht im öV entspricht ziemlich genau dem automobilen Anteil an der Verkehrsleistung von 69 Prozent.

Viel Protest für seine unverhältnismässige Massnahme wird der Bundesrat nicht ernten. Die Medien, die ihm das Terrain geebnet haben, werden ihm nicht in den Rücken fallen. Die Mehrheit der Bevölkerung ist von der Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr kaum betroffen. 68 Prozent der Leser des St. Galler Tagblatts begrüssen gemäss einer „Live-Umfrage“ die Maskenpflicht im öV. Das entspricht ziemlich genau dem Anteil des Autos an der gesamten Verkehrsleistung von 69 Prozent. Mit der Corona-Krise ist der Anteil des motorisierten Privatverkehrs inzwischen auf 75 Prozent geklettert, derjenige des öffentlichen Verkehrs von 22 auf 16 Prozent gefallen (Mobilitäts-Monitoring Covid-19).

Neben den öV-Nutzern sind von der Maskenpflicht vor allem die öffentlichen Transportunternehmen betroffen. Aber diese sollen die Massnahme nach Angaben der Bundespräsidentin gewünscht haben. Wenn ihr Wunsch, den eigenen Markt zu behindern, vielleicht nicht so dringend war, dann dürfte die Kompensation von 800 Mio. Franken für die Corona-Einbussen, die der Bundesrat mit der Maskenpflicht beschlossen hat, doch sehr beruhigend wirken. Aber es sind immerhin 100 Franken pro Einwohner, die der Steuerzahler dafür aufwenden muss.

Ein Einfallstor für ein Impfobligatorium? Das „Covid-19-Gesetz“ bietet keine direkte Handhabe zur Einführung eines Impfobligatoriums. Die Kompetenz dazu liegt gemäss Art. 22 Epidemiengesetz bei den Kantonen:

„Die Kantone können Impfungen von gefährdeten Bevölkerungsgruppen … für obligatorisch erklären, sofern eine erhebliche Gefahr besteht.“

Aber:

Der Bundesrat öffnet mit dem neuen Gesetz eine Hintertür. In den Erläuterungen zum Covid-19-Gesetz schreibt er auf Seite 9/10:

„In einer besonderen Lage nach Artikel 6 EpG kann der Bundesrat nach Anhörung der Kantone in Bezug auf Covid-19 folgende Massnahmen anordnen: … Impfungen für obligatorisch erklären.“

Er nimmt dabei nicht Bezug auf die Regelung der Impfpflicht im Epidemiengesetz, sondern auf Art. 40 „Massnahmen gegenüber der Bevölkerung und bestimmten Personengruppen“ mit einer abgeschlossenen Liste von Massnahmen, in denen das Impfen nicht aufgeführt ist.

Ob dabei die Beschränkung des Obligatoriums „auf gefährdete Bevölkerungsgruppen“ bestehen bleibt, ist offen. Obwohl das Gesetz das Obligatorium beschränkt, könnten durchaus alle als „gefährdet“ bezeichnet werden. Im heutigen Verständnis gelten auch alle Träger des Virus als gefährdet. Dabei hat Covid-19 nur bei gewissen Risikogruppen einen schweren Verlauf und auch da nur bei einer Minderheit. Das sind Rechtsfragen, die in Krisenzeiten leicht unter den Tisch geraten.

Der Wind kann sich schnell und radikal drehen. In der Botschaft zum Epidemiengesetz schrieb der Bundesrat 2010 auch, dass die Ausrufung der ausserordentlichen Lage ein Ereignis von der Dimension einer spanischen Grippe erfordere und dass in einer solchen Lage „mit keinen Mehrkosten zu rechnen sei.“ (S. 432) Mit Adenauer könnte sich der Bundesrat sagen: „Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern; nichts hindert mich, weiser zu werden.“ Nur: Vielleicht wird der Bundesrat nicht weiser, sondern vor allem selbstherrlicher.

Auch wenn die epidemische Lage die Aktivierung des Notrechts keineswegs rechtfertigt, wird der Bundesrat den ersten grossen Test seiner Unglaubwürdigkeit seit Beginn der Lockerungen vermutlich bestehen. In der verrückten Corona-Zeit muss das berühmte Sprichwort wohl umgeschrieben werden: Wer einmal lügt, dem glaubt man auch, selbst wenn er nicht die Wahrheit spricht.

Nur scharfe Beobachter werden erkennen, dass der Bundesrat die in der Krise erworbene Ermächtigung zu missbrauchen beginnt. Talleyrand hatte recht, als er schrieb:

„Kein Abschied auf der Welt fällt schwerer als der Abschied von der Macht.“

Man tut deshalb dem Bundesrat einen Gefallen, den unvermeidlichen Abschied von seinen Sondervollmachten früh und schnell zu gestalten.

Das geeignete Mittel dazu ist das Referendum gegen die geplante Verlängerung des Notrechts. Der Bundesrat beantragt für seinen Gesetzesentwurf allerdings die Dringlichkeit, was einem Referendum die aufschiebende Wirkung entzieht und die Erfolgschancen an der Urne beträchtlich schmälert. Aber vielleicht gelingt es ja, bis zur Herbstsession und der Verabschiedung des Covid-19-Gesetzes genügend politische Muskelmasse aufzubauen, um das Parlament zur Rückweisung zu bewegen. Den Versuch ist es wert; nicht weil er grosse Chancen hätte, sondern weil es die einzige Möglichkeit ist.


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien unter dem Titel „Der Bundesrat startet die zweite Welle“ zuerst auf Zeitpunkt.


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