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Die Last der Normalität

Die Last der Normalität

Gedanken über den Zustand der Welt auf einer Busfahrt durch Deutschland.

Der Blick ist frei. Die Windschutzscheibe sauber. Fahrbahnstreifen verschwinden an ihrem unteren Rand. Die Autobahnschilder werden immer größer, drängen sich ins Sichtfeld und gleiten dann ganz schnell wieder vorbei. Die Autos auf der Überholspur zeigen uns nur ihren blechernen, mit Nummernschild und rauchendem Auspuff versehenen Hintern.

Die Sicht des Flixbusfahrers behindert einzig die sich auf dem schimmernden Asphalt spiegelnde Sonne. Doch die Windschutzscheibe ist sehr sauber. Kein noch so kleines Insekt hat auf ihrer Fläche sein jähes Ende gefunden. Dazu hätte dieses Insekt auch erst einmal das Licht der Welt erblicken müssen. Aber das fand nicht statt. Früher, so erzählt man uns Kids aus den 1990ern, war die Windschutzscheibe nach einer Stunde Fahrt auf der Landstraße ein einziges Schlachtfeld zerdrückter Wespen, Fliegen und Bienen.

Heute ist das zum Glück nicht mehr so. Wir, die Menschen, können heute endlich Auto fahren, ohne unsere Scheibe von permanent toten Kadavern reinigen zu müssen. Das macht das Leben so viel einfacher.

Die Welt aus dem Flixbus-Fenster

Da sitzt man nun als (noch) junger Mittzwanziger in einem dieser grünen Kokons, die mal von besser gelaunten, mal von mürrischen Busfahrern über Europas Straßen gelenkt werden. In der Fahrgastzelle herrscht Stille. Die gut isolierten Fenster halten den Lärm von draußen fern. Diese wenigen Stunden der Ruhe und der Abgeschiedenheit, bevor sich die Bustüren öffnen und uns Fahrgäste zurück in das hektische Treiben des Großstadtalltags entlassen, bieten den idealen Nährboden, um Gedanken ihren Lauf zu lassen.

Der Blick geht nach links durch die braun getönte Scheibe, die mir die vorbeiziehende Landschaft in einer künstlich-ästhetisch eingefärbten Farbe präsentiert. Der Bus befindet sich irgendwo im Mittelgebirge. Landschaften ziehen vorbei, Teilausschnitte jener Welt, über die wir so viel reden, diskutieren und schreiben.

Ich blicke auf eine Natur, die, so weit das Auge reicht, vom Treiben menschlicher Zivilisation durchfurcht ist. Der Natur, so scheint es, ist nicht mehr als maximal ein Quadratkilometer wilden, unkontrollierten Wachsens – andere würden sagen „Wucherns“ – gestattet.

Kaum beginnen die Wälder zu verwildern, drängt sich ein stählerner Riese dazwischen und drückt mit seinen ausgebreiteten Armen, die Stromleitungen halten, die umstehenden Fichten weg. Es folgen quadratische Felder, die jegliche Natürlichkeit vermissen lassen.

Es ist Ende Februar, doch die Jahreszeit entbehrt einiger Erkennungsmerkmale. So liegt weit und breit kein Schnee. Die Temperaturen sind mild, die Sonne brennt und der Himmel strahlt blau. Vorboten eines weiteren Hitzesommers? Noch tragen die dünnen Äste, durch die die Wintersonne durchflackert, keine Knospen. Werden die neu entstehenden Blätter wie im Jahr zuvor verfrüht im August wie Herbstblätter vertrocknen?

Ja, über Klimawandel sprechen wir in letzter Zeit viel. Leere Klassenzimmer und wehende Steppenläufer auf den Schulhöfen am Freitag symbolisieren, dass unsere Generation aktuell erwacht ist. Die Bewegung Fridays for Future hält derzeit Politik und Medien in Atem. Die Rede ist von einem Neuerwachen, einem Neuerstarken einer politischen Jugend. Viele erhoffen sich einen flächendeckenden Bewusstseinswandel.

In den Tälern des Mittelgebirges, durch die sich mein Flixbus gerade schlängelt, sehe ich jedenfalls keinen Wandel, auf der Strecke, die ich mit ein paar Cents als atmosfair-Beitrag ausgeglichen habe. Was die paar Cents wohl bewirken?

Zwischen den Feldern und an den Berghängen verteilt liegen kleine Ortschaften. Winzige Häuser, die sich rund um eine kleine Kirche schmiegen, wie Schafe um ihren Hirten. Wie heißen diese Dörfer? Ich weiß es nicht. Sie schleichen sich für einen kurzen Moment in mein Sichtfeld und verschwinden dann für immer. Für mich Studenten, gewöhnt ans Großstadtleben, eine kleine Ansammlung von Häusern ohne Bedeutung. Unbekannt sind mir ihre Bewohner, deren Leben um diesen Ort kreist. Umgekehrt ist für sie, die Bewohner, der nicht abreißende Strom der auf der Autobahn vorbeiziehenden Blechkisten bedeutungslos. Ihre Insassen sind ihnen unbekannt.

Wie nehmen diese Bewohner die Welt wahr? Nehmen sie die Welt, so wie sie jetzt ist, als etwas von dauerhaftem Bestand wahr? Oder haben sie bereits die dunkle Vorahnung, dass auch ihr kleiner, idyllischer Kosmos demnächst aus den Fugen geraten könnte?

Den Bewohnern kleiner Dörfchen, in denen jeder Nachbarschaftsstreit für wochenlangen Gesprächsstoff sorgt, beispielsweise weil der Obstbaumast zu weit über den Gartenzaun ragt? Genau diesen Menschen dürfte doch letztes Jahr nicht entgangen sein, wie die Felder verdorrten und die Wiesen sich gelb färbten? „Ahnen sie etwas?“, frage ich mich immer wieder.

Doch plötzlich versperren mir Bauten großer Gewerbegebiete das Sichtfeld. Fabrikhallen, Lagerstätten und Logistikzentren, für die in der Stadt kein Platz ist. Wie viel abertausend Menschen wohl tagtäglich mit ihren Autos zu ihren dortigen Arbeitsplätzen fahren? Fahren müssen! Und was machen sie dort? Und wie lange schon? Sind sie glücklich dabei? Müssen sie das tun, um ihre Familie zuhause zu ernähren? Oder sind sie ledig? Wofür arbeiten sie dann? Welchen Sinn und Zweck sehen sie in ihrer Arbeit? Oder sind sie mittlerweile selber zu einem Mittel für den Zweck eines anderen geworden? Den Erfolg des Unternehmers.

LKWs mit osteuropäischen Kennzeichen verlassen die Laderampen, um sich bei uns auf der rechten Spur der Autobahn ihren Artgenossen mit den silbernen Löwen und Sternen auf dem Kühlergrill in der Kolonne anzuschließen. In ihrem stählernen Inneren transportieren sie Zwischenbauteile aus Produktionsketten, die seit Beginn der neuesten Globalisierung die ganze Welt umspannen.

Und links die Schlangen kleiner PKWs. Manche im gemächlichen Tempo, andere brausen mit einem Höllentempo an uns vorbei, als hätten die Fahrer den Teufel bereits im Rückspiegel entdeckt. Wo fahren die alle hin? Diese Blechkisten. Und natürlich jene, die darin sitzen. Darin sitzen Menschen. Das vergisst man sehr schnell. Ähneln die Schnauzen von Autos doch manchmal arg menschlichen Gesichtszügen.

Wohin fahren sie? Erwartet sie bei ihrer Ankunft ein wichtiges Ereignis? Oder legen sie wie so oft nur eine der unzähligen Pendelstrecken zurück? Sind sich die Fahrerinnen und Fahrer dieser Gefährte bewusst, auf welcher Etappe ihrer Reise durchs Leben sie sich befinden? Oder ist das, was diese ihr Leben nennen, nur noch ein monotones Trott-Dasein bar jeden Bewusstseins für Zukunft und Vergangenheit, ein Zustand, in dem jeder Tag dem anderen gleicht?

Ein paar der blechernen Tiere biegen ab. Sie müssen rasten, von dem schwarzen Gold trinken, welches ihre Tankzylinder gierig aus den Nippeln der Ölkonzerne nuckeln. Ob sie den metallenen Geschmack von Blut im Öl bemerken?

Ja, die Mega-Maschine läuft unaufhaltsam! Und sie lässt sich von den an Schreibtischen großer Denker konzipierten Utopien nicht stören.

Sie läuft und läuft. Die Schornsteine rauchen, die Auspuffe qualmen, die Menschen hetzen. Und so mancher und manches bleibt auf der Strecke. Verlassene Fabrikruinen ohne Besitzer ziehen jetzt an mir vorbei. Dunkelrote Backsteine überziehen wie verkrustetes Blut die Fassaden des ausgebluteten Produktionskörper.

Die Fensterscheiben größtenteils zerborsten. Sprayer haben bereits jeden freien Quadratzentimeter mit Botschaften vollgesprüht, die ungelesen ihr Dasein fristen, zwischen aus Asphaltrissen wucherndem Gras und krächzenden Raben. Auf den freien Flächen vor dem Gebäude steht wahllos verteilt alter Klump und Plunder, von dem wohl niemand mehr so recht weiß, wofür dieser mal gut gewesen ist. Es fühlt sich auch niemand dafür verantwortlich. Keine hysterische Bezirks-Hausfrau weit und breit, die sich über diesen „Saustall“ echauffiert.

Da türmt sich auch schon die Gebärmutter dieses Schrotthaufens vor mir auf. Ein architektonisches Schwerverbrechen an der Naturlandschaft. Ein Baumarkttempel. Dort gibt es den Müll von morgen, verpackt in dem Müll von heute.

Wieder ziehen Rastplätze am Fenster vorbei. Auch sie warten neben riesigen Fleischmengen geschlachteten Lebens mit immensem Verpackungsmüll, dessen wenige Minuten währende Existenz sich darauf gründet, Essen und Trinken von der Ladentheke bis in die Mäuler der Konsumenten zu transportieren. Die Weltmeere sind voll davon.

Diese Gesellschaft hat nicht den Verstand verloren – sonst wäre es um uns alle besser bestellt. Abhanden gekommen sind das Bewusstsein und die Empathie für das, was wir anrichten. Der Geist formt die Materie.

Wenn ich so aus dem Flixbus gucke, sehe ich, dass wir, so scheint‘s, von allen guten Geistern verlassen sind.

Wie formulierte es Rousseau?

„Geist ist eingedrungen in die Natur, wie das Messer dringt in eines Baumes Mark. Nunmehr freilich kann die toddrohende Schneide nicht aus dem Stamme herausgezogen werden, denn der Baum würde dabei verbluten. Aber niemand darf behaupten, dass ein Schwert im Herzen der Weltesche das Merkmal sei für ihre Gesundheit.“ (1)

Hoffnung?

Man solle ja immer bei sich selber beginnen. Ich fokussiere zurück. Die Landschaft wird unscharf und in der Fensterscheibe reflektiert sich mein Gesicht. Fühle ich das Ganze eigentlich? Also diesen ganzen Wahnsinn? Fühle ich die Plastikteppiche in den Weltmeeren? Fühle ich den menschengemachten Klimawandel, der mir wieder freundliche Leserbriefe bescheren wird, weil ich mich in diesen Zeilen zu diesem bekenne?

Meine Reise mit Flixbus dauert vier Stunden und fünfundvierzig Minuten. In dieser Zeit sterben 1.710 Kinder an Unterernährung. Fühle ich die? Jedes Einzelne? Die mehr als 80 Schulklassen, die während meiner Busfahrt auf einem Planeten mit genügend Nahrungsmitteln für alle verhungern?

Die schlichte und ernüchternde Antwort lautet: Nein! Nein, ich fühle diesen Irrsinn nicht! Nicht einmal im Ansatz! Wie könnte ich diesen Irrsinn auch nur länger als eine Sekunde in seiner Gänze fühlen, ohne dabei zugrunde zu gehen oder wahnsinnig zu werden?

Meine Psyche fährt Schutzwälle auf. Sie entschärft dieses unsägliche Leid, den Weltenschmerz, kastriert ihn und präsentiert ihn mir lediglich auf der Verstandesebene. Soll das so sein? Wäre es besser, unsere seelische Firewall würde bei uns allen gleichzeitig und schlagartig ihren Dienst einstellen?

Oder hat es sein Gutes, dass wir diese Schrecken nur gut gefiltert erhalten? Erhalten wir so einen Schutzwall für unsere Nerven, damit wir eine Veränderung herbeiführen können?

Aber kann man bei solchen Schrecken überhaupt noch irgendwas hoffen? Das ist wohl der Punkt, an dem die Menschen beginnen, sich in Religionen oder in den Glauben an irgendetwas Höheres zu flüchten. Es muss doch schließlich etwas Anderes geben als nur das hier! Das irdische Leben, welches einem kein Paradies, ja nicht einmal ein halbwegs sorgenfreies Leben oberhalb der untersten Ebene der Maslowschen Bedürfnispyramide garantiert. Soll das hier etwa alles sein? Was ist das für ein Leben, wenn man zu dem ärmeren Siebtel dieser Erdbevölkerung oder einer vom Aussterben bedrohten Spezies gehört? Ein kurzes, qualvolles Dasein, um anschließend im totalen Nichts zu enden?

Meine Hoffnung beginnt, sich an den psychisch-anthropologischen Erkenntnissen von Arno Gruen festzuklammern. Nach Gruen sei es bei der Entwicklung der ersten Zivilisationen zur Umpolung der dominanten Gehirnhälften gekommen, die zunehmend den Verstand, das Kognitive und das abstrakte Denken in den Vordergrund und das Empathische und das „Weibliche“ in den Hintergrund rückten. (2) Sind wir in den letzten 10.000 Jahren unseres vier Millionen jährigen Daseins einfach mal kurz falsch abgebogen und nun an einem Punkt angelangt, wieder umkehren zu können? Ist nun die Zeit der großen Veränderung gekommen?

„Woher und von wem soll diese Veränderung nur kommen?“, denke ich mir, während mein Blick durch die Fahrgastzelle schweift. Jedes zweite Ohrenpaar ist mit Ohrstöpseln verstopft – genau wie bei mir. Häufig gehören die Stöpsel zu diesen bescheuerten, kabellosen Air Pods von Apple, als Symbol für die Entwurzelung ihrer Träger. Die meisten starren apathisch auf ihr Smartphone oder Tablet. Der eine spielt den Geist zermürbende Spiele aus dem App-Store, der andere ist in den Untiefen einer Netflix-Serie versunken.

Das Mädchen zu meiner Rechten betrachtet zumindest das wunderschöne Abendrot der untergehenden Sonne hinter den Bergkuppen. Durch das Display ihres Smartphones. Die Welt erstarrt für den Bruchteil einer Sekunde in der Bildfläche dieses Smartphones. Das Mädchen hat diesen Moment eingefangen, ist dem Seienden des Naturphänomens habhaft geworden und wird es nun verarbeiten, weiter verwerten und konservieren. Die Sonne muss ohne sie untergehen. Ihr Gesicht ist nun – wie das der anderen – wieder in das kalte Blaulicht des Displays getaucht. Sie sucht nach einem passenden Instagram-Filter für diesen Sonnenuntergang – die Realität ist wohl nicht gut genug –, um diesen dann ihren Followern zu zeigen, die ihn mit eigenen Augen betrachten könnten, würden sie nach draußen gehen, statt zuhause auf ihr Smartphone zu blicken.

Diese Beobachtung erinnert mich daran, dass ich ja selber ein Smartphone habe. Ich zücke es, denn der Landschaft draußen kann ich mittlerweile nicht mehr abgewinnen als noch trübere Gedanken. Doch so recht unterhalten will und kann mich mein Smartphone nicht. Um Artikel zu lesen, habe ich nun keinen Kopf. Die neuen KenFM-Tagesdosen habe ich bereits alle gehört. Und auf Spotify und innerhalb meiner Musikalben will mich auch nichts so recht ansprechen. Selbst das Grün meiner persönlichen Evergreens trägt mittlerweile die Farbe eines verblichenen Herbstblattes. Interpreten mit ehemals systemkritischen Texten öden mich mittlerweile ob ihrer Konformität und Radiotauglichkeit an.

Und während ich so durchscrolle, poppt permanent am oberen Bildschirmrand das Feld einer brodelnden WhatsApp-Gruppen-Konversation auf. Herrgott! Was kann denn nur so wichtig sein, dass man sich hier die Finger wundtippt? Ich öffne die Gruppe eines meiner Freundes- und Bekanntenkreise. Die Inhalte dieser Diskussion drehen sich um eine ganz profane Frage:

„Wo gehen wir heute Abend saufen?“

Hach, das Leben könnte so unkompliziert sein.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Rousseau, Jean-Jacques (1750): Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen. Zitiert nach Theodor Lessing: Die verfluchte Kultur (1921), Neuaufl. München 1981, S.7
(2) Gruen, Arno: Dem Leben entfremdet – Warum wir wieder lernen müssen zu empfinden, 2013 Stuttgart, Klett-Cotta, S.21-40
(3) https://www.rubikon.news/artikel/schwarzmaler-oder-schonfarber
(4) https://www.rubikon.news/artikel/ich-liebe-dich


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