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Die Mutter aller Kriege

Die Mutter aller Kriege

Der Trojanische Krieg, wie ihn Homers „Ilias“ dargestellt hat, zeigt die Fatalität der Gewalt — sie bemächtigt sich der Menschen und ist somit die eigentliche Hauptfigur des Epos.

Am Ursprung der abendländischen Literatur steht die Ilias. War ihr Dichter ein Mann, eine Frau? Oder waren mehrere Verfasser an der Niederschrift des Epos beteiligt? Die sogenannte homerische Frage nach Autorschaft und Genese wird sich wohl niemals abschließend beantworten lassen, liegt die Periode des Übergangs von der mündlichen Tradition zur frühen Schriftkultur, in der die Ilias entstand und die man heute auf den Zeitraum zwischen dem 8. und 7. Jahrhundert v. Chr. datiert, doch weitgehend im historischen Dunkel. Es ist aber gerade die Rätselhaftigkeit ihrer Entstehungsgeschichte, die das Werk in den Rang eines Mythos erhebt.

Der sagenumwobene Trojanische Krieg zwischen Griechen und Trojanern, der sich fest in das kulturelle Gedächtnis Europas eingeschrieben hat, liegt nur auf den ersten Blick fern – sind seine Schauplätze und Handlungsverläufe in Wahrheit doch die literarische Ausgestaltung eines Krieges, der für alle Kriege steht.

Das Thema der Ilias ist der Krieg an sich: die Mechanismen nach denen Krieg funktioniert und die Frage nach den Motiven, die Menschen zu allen Zeiten der abgründigen Faszination von Gewalt und Zerstörung verfallen lässt. Das Gründungsmanifest der abendländischen Literatur ist ein Buch über den Krieg: Er ist der Schatten, der über allen unseren Kulturleistungen liegt. Ohne sich der Frage zu stellen, was er mit uns – seinen Tätern, Opfern und Zuschauern – zu tun hat, werden alle Bilder, die wir vom Menschen entwerfen, unweigerlich zu Fälschungen.

Zwei im deutschsprachigen Raum weitgehend unbekannte Philosophinnen, Rachel Bespaloff (1895 bis1949) und Simone Weil (1909 bis 1943) haben in den frühen 1940er Jahren unabhängig voneinander die Ilias auf ihren Erkenntniswert für die Gegenwart befragt. Bespaloffs Essay Die Ilias und Weils Aufsatz Die Ilias oder das Poem der Gewalt, die beide zuerst im Jahr 1943 erschienen, verstehen sich nicht als Beiträge zur Philologie, vielmehr wird der Text – unter unterschiedlichen Vorzeichen – als Kronzeuge auf der Suche nach den gemeinsamen Wurzeln aller Kriege aufgerufen.

Aus einer Alltagssituation heraus – sie soll ihrer heranwachsenden Tochter bei den Schularbeiten helfen – beginnt Bespaloff mit der Lektüre der Ilias. Die studierte Musikerin ist eine philosophische Autodidaktin, die durch gute Vernetzung in die maßgeblichen intellektuellen Kreise ihrer Zeit bereits auf eine Serie von Veröffentlichungen in renommierten Zeitschriften zurückblicken kann. So erschien 1933 in Paris eine Annäherung an Heideggers Sein und Zeit: die erste in Frankreich überhaupt.

Rachel Bespaloff stammte aus einer bürgerlichen jüdischen Familie. Sie wurde in Bulgarien geboren, hat in Kiew, Genf und Paris gelebt, bis sie 1942 gemeinsam mit ihrer Familie in die USA ausreisen konnte, wo es ihr allerdings nicht gelang, Fuß zu fassen. 1949 nahm sie sich im Alter von 54 Jahren gemeinsam mit ihrer unheilbar kranken Mutter das Leben.

Auf der Folie ihrer eigenen Lebenserfahrung liest Bespaloff die Ilias als ein Kompendium archetypischer Verkettungen. Ohne ein konkretes Ziel zu verfolgen, überlässt sie sich ganz dem Fluss der Erzählung. Im Fokus ihres Interesses stehen dabei die Figuren in der Dynamik ihrer Beziehungen zueinander. Ebenso wenig wie den Menschen, denen wir im wirklichen Leben begegnen, folgt ihr Handeln einem festen Muster, was es unmöglich macht, sie in ihrer Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit auf einen Nenner zu bringen.

So verkörpern der anständige Hektor und der grausame Achill nicht, wie man annehmen könnte, das absolut Gute beziehungsweise Böse. Das Epos, dessen Grundstruktur auf dem dialektischen Verhältnis von Protagonist und Antagonist beruht, braucht sie vielmehr als Gegenspieler, um seine Handlung glaubhaft zu entfalten. Die Rollen, die ihnen die Götter zugewiesen haben, stehen für keine moralische Qualität an sich.

In Bespaloffs Lesart ist die Ilias weder ein Helden- noch ein Antikriegsepos. Ihre Wahrheit liegt in der Fatalität, dass Kriege stattfinden und immer stattfinden werden, weil sie auf der inneren Landkarte des Menschen vorgezeichnet sind.

Nicht zufällig ist die Handlung in der Endphase des Trojanischen Krieges angesiedelt und nicht an dessen fulminantem Beginn. Nach zehn Jahren erinnert sich fast niemand mehr an den Auslöser des Krieges, den Raub der schönen Helena durch Paris. Längst haben die verheerenden Wirkungen die anfängliche Kriegsbegeisterung erkalten lassen. Je länger der Krieg dauert, desto irrationaler und unnachvollziehbarer erscheinen seine einstigen Beweggründe.

Keine Botschaft, kein Trost und kein moralischer Appell lassen sich aus der nüchternen Einsicht in die vollendete Sinnlosigkeit des institutionalisierten Massentötens ableiten:

„Homer wundert sich nicht, noch empört er sich, noch hofft er auf eine Antwort. Wo sind in der Ilias die Guten? Wo die Bösen? Wohin man auch blickt, nichts als leidende Menschen, Krieger im Kampf, die triumphieren oder unterliegen. Die Forderungen der Gerechtigkeit werden allein in der Trauer um sie und im Bekenntnis zum Schweigen kenntlich. Die Kraft, sie zu verdammen oder sie freizusprechen, würde bedeuten, das Leben zu verdammen oder freizusprechen.“

Anders als Rachel Bespaloff befragt Simone Weil die Ilias konsequent in Hinblick auf das Thema, das sie selbst am meisten beschäftigt, die Gewalt. In den ersten Zeilen ihres Aufsatzes legt sie ihre These dar:

„Der wahre Held, der wahre Gegenstand, das Zentrum der Ilias ist die Gewalt. Die Gewalt, wie sie von den Menschen geübt wird, die Gewalt, die die Menschen unterwirft, die Gewalt, vor der das Fleisch der Menschen zusammenschrumpft. Unaufhörlich wird die menschliche Seele durch ihre Beziehungen zur Gewalt gewandelt, sie wird fortgerissen, geblendet durch die Gewalt, die sie zu beherrschen glaubt, gebeugt durch den Zwang der Gewalt, den sie erleidet. Die Gewalt macht aus jedem, der ihr unterworfen ist, eine Sache. Wird sie bis zum Äußersten geübt, so macht sie aus dem Menschen eine Sache im wörtlichen Sinn, sie macht einen Leichnam aus ihm. Da war jemand, und einen Augenblick später ist niemand mehr da. Das ist ein Bild, das die Ilias nicht müde wird, uns vor Augen zu stellen.“

Simone Weil ist eine der schillerndsten Gestalten in der Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts. Als Tochter einer wohlhabenden jüdischen Familie wird sie in Paris geboren. Sie studiert Philosophie, arbeitet als Lehrerin und beginnt zu publizieren. Ihr Lebensthema ist die soziale Ungerechtigkeit: Um ihren Ursachen auf den Grund zu gehen, sucht sie nach Antworten im Marxismus, der christlichen Mystik und dem Buddhismus. Auf Seiten der Internationalen Brigaden zieht sie als Freiwillige in den Spanischen Bürgerkrieg, wird Fabrikarbeiterin und tritt als soziale Aktivistin auf den Plan. Einen Ruhepunkt findet sie zeitlebens nicht. Im Alter von 34 Jahren stirbt sie im englischen Exil. Die offizielle Todesursache lautet: Lungentuberkulose. In Wahrheit hatte Simone Weil ihren Tod selbst herbeigeführt, indem sie einfach aufgehört hatte zu essen.

Unter dem Eindruck der sich zuspitzenden weltpolitischen Lage, die schließlich zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs führen sollte, beginnt Weil 1939 mit der Niederschrift ihres Aufsatzes Die Ilias oder das Poem der Gewalt.

In ihrem Verständnis ist es nicht der Mensch, der Gewalt ausübt, sondern die Gewalt selbst, die sich seiner bemächtigt und damit zum eigentlichen Subjekt wird. Ihr Augenmerk liegt auf der strukturellen Gewalt, die ihren jeweiligen Manifestationen als Prinzip zugrunde liegt:

„Die Gewalt zermalmt. Am Ende erscheint sie als etwas Äußerliches dem, der sie übt, wie dem, der sie erleidet; so entsteht die Idee eines Schicksals, vor dem Henker und Opfer gleich unschuldig sind, Sieger und Besiegte, Brüder im gleichen Elend. Der Besiegte verursacht das Unglück des Siegers, wie der Sieger das des Besiegten.“

Dass die Idee von Sieg und Niederlage eine Illusion ist und dass der Krieg früher oder später alle Beteiligten zum Opfer macht, ist die Botschaft ihres leidenschaftlichen Appells an die menschliche Vernunft, an die sie selbst allerdings längst nicht mehr glauben kann.

Die Texte der beiden eigenwilligen Autorinnen, die zum Zeitpunkt der Niederschrift ihrer Essays keine Kenntnis voneinander hatten, treffen sich im Ausblick darauf, wie die Fatalität des Kriegsgeschehens unterbrochen werden kann. Dabei lassen sie sich von derjenigen Perspektive leiten, welche die Ilias selbst vorgibt.

Nachdem alle Gräueltaten begangen worden sind, nachdem Menschen sich auf jede nur erdenkliche Weise gegenseitig ihrer Würde beraubt haben, kommt es im letzten Kapitel zu einer unerwarteten Wendung: Hektors Vater, der alte König Priamos, begibt sich zu Achill, dem Mörder seines Sohnes, um ihn zur Herausgabe von dessen Leichnam zu bewegen. Erst im Angesicht der vollendeten Katastrophe gelingt es den beiden Männern, aus den ihnen vorbestimmten Rollen herauszutreten und sich als Menschen zu begegnen.

Achill erkennt in Priamos den eigenen Schmerz über den Verlust einer geliebten Person, während Priamos in Achill den Inbegriff männlicher Kraft und Schönheit erblickt. Das begangene Unrecht verblasst in diesem Augenblick realer Gegenwart zu einem fernen Schatten. Wenngleich der Krieg noch lange nicht beendet ist – das Gleichgewicht der Kräfte wird erst durch den Tod von Achill wieder hergestellt werden, der nicht mehr Gegenstand der Ilias ist – deutet sich in dem gemeinsamen Mahl gleichwohl die Menschheitsutopie eines friedlichen Miteinanders an.

Mehr als dieses Moment des Innehaltens ist der Ilias nicht zu entlocken. Schon warten die Götter auf die nächste Gelegenheit, um die Menschen in die Fallen ihrer Ränkespiele zu locken, und schon warten die Menschen, um ihrer Langeweile zu entfliehen, auf eben diese Gelegenheiten.

Das ist die leidenschaftslose Sicht der Antike auf das Weltgeschehen, die erst durch das Motiv der Vergebung im Christentum eine radikale Neuinterpretation erfahren hat.

Dass Krieg und Gewalt so nicht die Ultima Ratio sind, lautet die Botschaft des Neuen Testaments, die Geschichtsschreibung liefert die kruden Tatsachen: keine Epoche, in der nicht irgendwo auf der Welt Krieg herrscht, kein Tag, an dem nicht irgendwo auf der Welt Verbrechen begangen werden, keine Minute, in der nicht irgendwo auf der Welt ein Mensch durch Waffengewalt zu Tode kommt. Wie gehen Ideal und Wirklichkeit zusammen? Erscheint das Mahl von Mörder und Opfer auf der Folie kruder Fakten nicht gar wie ein Hohn?

Interessanterweise entspricht gerade der nüchterne Blick des antiken Epos, das nichts verspricht, was die Wirklichkeit nicht halten kann, einer Beobachtung, auf die die neuere Konflikt- und Gewaltforschung aufmerksam gemacht hat. Es geht um das Moment der Besinnung, das in der winzigen Zeitspanne, die zwischen Affekt und Handlung liegt, es dem Menschen ermöglicht, sich für oder gegen die Gewalt zu entscheiden.

Von solchen Epiphanien des Alltags, die es im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz in Zukunft wohl nicht mehr geben wird, zeugen Begegnungen, wie sie aus dem Ersten Weltkrieg überliefert sind: wenn sich die verfeindeten Soldaten in den Gefechtspausen zum Kartenspiel zusammenfanden, bevor sie wenig später wieder wie seelenlose Tötungsmaschinen handeln mussten.

Die sozialpsychologische Forschung hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in eindrücklichen Studien beides nachgewiesen: die unleugbare Existenz gewalttätiger Impulse und die Fähigkeit des Menschen zu Mitgefühl und Solidarität. Die Reaktionen, die in ihm abgerufen werden können, sind maßgeblich den jeweiligen äußeren Umständen geschuldet, die ihn bestärken, sich auf die eine oder andere Weise zu verhalten.

Unbestritten ist, dass, wenn Gewalt zum legitimen Mittel der Konfliktbewältigung erklärt wird, immer neue und immer grausamere Gewalt die Folge ist. Nichts anderes meint Simone Weil, wenn sie davon spricht, dass im Krieg die Gewalt selbst zum Protagonisten avanciert und damit einen zeitlosen Mechanismus beschreibt, der seine Gültigkeit bis in unsere Gegenwart hinein behauptet.

Der angestrengte Versuch, das eskalierende Kriegsgeschehen in der Ukraine mit dem Recht des Angegriffenen auf Verteidigung zu rechtfertigen, erklärt die Gewalt und den zu ihrer Ausübung unverzichtbaren internationalen Waffenhandel zu einer moralischen Notwendigkeit, vor dessen Absolutheitsanspruch jede differenzierende Sichtweise zum Verstummen gebracht wird.

Ihrer Würde und im schlimmsten Falle ihres Lebens beraubt werden zu Kriegszeiten jedoch am Ende alle Beteiligten: die Angegriffenen, die Angreifer, die Anfeuerer und all diejenigen – ich schätze es sind die weitaus meisten – die keinerlei Interesse am Krieg haben, denen kein finanzieller Vorteil aus ihm erwächst, deren Stimmen es jedoch, wenn alle Zeichen auf Sturm stehen, schwer haben, sich Gehör zu verschaffen.

Der Auslöser des Trojanischen Kriegs war der Raub der schönen Helena durch Paris: eine Galanterie! Im zehnten Kriegsjahr und angesichts des Leidens, das Griechen und Trojaner einander zugefügt haben, erinnert sich niemand mehr daran, weshalb der Krieg einst begann. Gründe und Gegengründe haben sich längst als das entlarvt, was sie zu allen Zeiten waren und sind: wohlfeile Vorwände für das Machtstreben der jeweiligen Eliten, deren Preis der Tod ist. Die Toten allein sind die Wahrheit über den Krieg, die Wahrheit über jeden Krieg.


Quellen und Anmerkungen:

Rachel Bespaloff: Die Ilias, Berlin, 2019.

Simone Weil: Die Ilias oder das Poem der Gewalt: https://www.merkur-zeitschrift.de/simone-weil-ilias-dichtung-und-gewalt/


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