Immer wenn die ersten Töne von „Bilder einer Ausstellung“ erklingen, bin ich wieder acht Jahre alt ― im Musikunterricht der Grundschule hörte ich sie zum ersten Mal. Auch jetzt, wo ich dreimal so alt und doppelt so groß bin, scheint mir die Erhabenheit dieser Musik unverändert monumental.
Sie ist aus einer Freundschaft erwachsen, deren vorschnelles Ende zu einem musikalischen Glücksfall führte. Im Jahre 1873 starb im Alter von nur 39 Jahren der russische Architekt, Bildhauer und Maler Viktor Alexandrowitsch Hartmann, seit 1870 ein besonders enger Freund des Komponisten Modest Petrowitsch Mussorgski (1839 bis 1881).
Der bedeutende Kunstkritiker Wladimir Wassiljewitsch Stassow hatte Hartmann mit der Gruppe der Fünf, die man wegen ihrer Eigenwilligkeit spöttisch das „Mächtige Häuflein“ nannte, bekanntgemacht. Diese Vereinigung russischer Komponisten hatte sich 1862 in Sankt Petersburg mit dem Ziel zur Schaffung einer fortschrittlichen nationalen Musik im Geiste Michail Iwanowitsch Glinkas (1804 bis 1857), dem „Vater der russischen klassischen Musik“, formiert und als Gegenpol zu dem verschulten, westlich beeinflussten Stil der Konservatorien eine „Freie Musikschule“ gegründet.
Bei all ihren Kompositionen lag ein großer Schwerpunkt auf traditionell russischem Volksliedgut, das ihrer Musik einen ganz eigenen, unverwechselbaren Klang verlieh.
Weniger glanzvoll, als es klingt: Bis auf einen der Fünf übten die Komponisten hauptberuflich eine andere Tätigkeit aus und waren zudem ständig knapp bei Kasse. Aus einer ärmlichen Kommune heraus führten sie den ideellen Kampf gegen Bürgertum und akademisches Establishment. Als sich ihre verschiedenen Ansichten nicht mehr vereinbaren ließen, löste sich die Gruppe wenige Jahre später wieder auf.
Dort also lernte Hartmann Mussorgski kennen, der, wenn er sich nicht gerade in verschiedenen Ministerien des Zaren den Lebensunterhalt verdingte und diesen gleich wieder für Alkohol auf den Kopf haute, wunderbare Musik komponierte. Bald verband die beiden eine enge, der Kultur verpflichtete Freundschaft. Noch kurz vor seinem Tod philosophierte Hartmann mit Mussorgski über einen neuen russischen Stil im Bauwesen. Während dieses Zusammenseins erlitt Hartmann einen Schwächeanfall. Es sollte das letzte Gespräch der beiden bleiben.
Ein Jahr später organisierte der gemeinsame Freund Stassow eine große Ausstellung zu Ehren Hartmanns mit mehr als 400 seiner Arbeiten; der Großteil davon ist heute leider zerstört oder verschollen. Auch Mussorgski, der bereits einen kurzen Nachruf für seinen Freund in den Petersburger Nachrichten verfasst hatte, war selbstverständlich zu Gast. Und in den Gängen dieser Ausstellung erwachte in ihm der Gedanke, dem verstorbenen Freund ein großes musikalisches Denkmal zu setzen.
Eine Inspirationskette
Hundertfach interpretiert, aber stets unverkennbar leiten 13 Noten den Auftakt der „Bilder einer Ausstellung“ ein. Dieser erste Titel, Promenade genannt, steht symbolisch für den Laufweg des Zuschauers, des Betrachters. Und tatsächlich bietet das Arrangement einen fantastischen Ausblick auf die eingängigen Melodien der Sammlung. In der Orchestrierung mal mit Orgel, mal mit himmlischen Bläsern realisiert, scheint sie im Auftakt zu sagen: „Ich komme von oben, ich betrachte“. Als Spiegel des Innenlebens erklingt sie zwischen den Stücken, versinnbildlicht die Eindrücke, welche die anderen Bilder auf den Betrachter ausüben.
Doch was da geboten wird, ist zunächst verstörend. Gnomus, ein finsteres, von Pausen durchsetztes Stück, zeichnet das Bild einer buckligen Kreatur, die mit knorrigen Beinen einen abgehackten Marsch hinlegt ― mal hinkend, mal zappelnd, bald energisch, bald schwer. Die Illustration Hartmanns zeigt einen pausbäckigen Kerl mit Knollennase, der hinter einem raffinierten Zaun hervorlugt ― der Unbefugte, der Eindringling. Eine „Figur nicht ohne Tragik“, wie es in einem schön gestalteten Programmheft (Download) des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin heißt, das alle erhaltenen Bilder Hartmanns der Ausstellung zeigt.
Die darauffolgende Promenade fällt nun gedeckter, melancholischer aus. Lang gezogen und vorsichtig klingen jene Töne, die zuvor noch sprudelnd den Auftakt des Rundgangs verhießen, nun wie ein Nachruf. Doch auch Hoffnung ist in dieser kurzen Schlenderei enthalten. Behutsam klingt sie im nächsten Titel durch, dem „Alten Schloss“, einer ruhigen Romanze. Spätestens aber die darauffolgende dritte Promenade verheißt eindeutig Helleres: ein belebtes Kinderspiel in den Gärten der Pariser Tuilerien, das jedoch von Bydło, einem schweren Ochsenkarren, sogleich wieder auf den Boden der Tatsachen geholt wird. Die Last des Karrens, der Trab der Tiere, das Schleifen der Räder ― alles schwillt zu einer unerträglichen Überfrachtung an, der Alltag wird zu viel. Als der Wagen am Betrachter vorbeifährt und in der Ferne verschwindet, verliert sich dieser Trott in der Stille.
Doch leichtfüßig und vergnügt wird sogleich das Ballett der Küken in ihren Eierschalen aufgeführt, das auf eine Kostümskizze Hartmanns zurückgeht. Und erfrischend skurril geht es weiter. In der Charakterstudie Samuel Goldenberg und Schmuyle stehen sich zwei jüdische Persönlichkeiten gegenüber, die unterschiedlicher nicht sein könnten: der eine wichtig und gewichtig, gebieterisch, stolz ― der andere jammernd, aufmüpfig, mahnend. Das Gespräch der beiden gipfelt in einem unversöhnlichen, dissonanten Dreiklang: Die Macht hat gewonnen und schickt den Untergebenen abwinkend nach Hause.
Auf dem Marktplatz von Limoges gewinnt ein lebhaftes, städtisch-merkantiles Treiben Kontur. Ein buntes, wirbelndes Getümmel, aufgeregt über eine „Neuigkeit“ sich austauschende Marktfrauen, laute Rufe hier und noch lautere dort. Unaufhaltsam schraubt sich das energetische Getöse in die Höhe ― bis der Blick im unvermittelt erklingenden Catacombae zwanghaft in die Pariser Katakomben hinabsinkt, rau und weitläufig, eine Kanalisation aus Totenschädeln und Tränen, der Zustand eine einzige Katastrophe. Die jetzt folgende Promenade ist fast nicht mehr erkennbar, so sehr hat der Eindruck dieser Unterwelt sie verzerrt.
Und es bleibt aufregend: Ruckartig kündigt sich die Hütte der Baba Jaga an. Dieses Hexenhäuschen läuft in einem russischen Märchen auf Hühnerbeinen, verfolgt mitunter sogar die Sterbenden. Wie ein Gewitter zieht diese Gefahr herauf, zunächst nur mit vereinzelten Tropfen, doch schon kracht und blitzt es heftig in einem musikalischen Ritt, der an die bewegten Actionsequenzen alter Hollywood-Abenteurfilme à la Indiana Jones erinnert.
Die größte Ehre aber gebührt dem Grande Finale: Das Große Tor von Kiew.
Das gleichnamige Aquarell von Viktor Hartmann zeigt ein imaginäres, prachtvolles Stadttor. © Public Domain via Wikimedia Commons / Viktor Hartmann.
Rundheraus bombastisch eröffnet eine halbe Armee aus Bläsern das Hauptthema, das sich stolz über jede Grenze der Bescheidenheit erhebt. Dieses Stück will nicht beachtet, nicht bewundert, sondern konkurrenzlos vergöttert werden. Es wird alles auffahren, was das Orchester zu bieten hat, wird sich völlig verausgaben, doch verschießt es sein Pulver nicht sofort. Nachdem es den Bläsern auch Streicher, Trommler und Pauker hinzugesellt hat, wird es erst einmal ruhig.
Mit sanfter Klarinette lullt es seine Zuhörer in einer entschleunigten Variation des Hauptthemas ein, nur um sie gleich wieder fest beim Ohr zu packen und in luftige Höhen zu entreißen. Und weil es so schön war, noch einmal! Nur dass wir uns auf dem Weg nach oben jetzt mehr Zeit lassen, den Turm umrunden, seiner goldenen Spitze entgegenstreben; wir passieren die Kirchenglocke, die nun unablässig klingt, apotheotisch bricht das Promenadenthema durch ― höher, höher, noch höher!
Und so endet es: oben in den Wolken, wir, die Herren dieser Welt, göttlich. Eine Hymne der unverhohlenen Größe. Kaum ein Stück erweckt solchen Pathos in mir. Hochgenuss, jedes Mal.
Ein Russe in Großbritannien
Ich habe mir diese ausschweifende Beschreibung erlaubt, um empfindbar zu machen, warum „Bilder einer Ausstellung“ weltweit Faszination auslöst. Noch im Kalten Krieg hat Mussorgskis Werk erst den Weg über die Nordsee und dann über den Atlantik geschafft, als die Progressive-Rock-Supergroup Emerson, Lake and Palmer (ELP) mit „Pictures at an Exhibition“ eine Neuinterpretation vorlegte und damit sogar in Amerika auf Platz 10 der Charts landete.
Und diese Fassung, die ausschließlich als Livealbum von 1971 vorliegt, war meine Einführung in die Welt der Keyboards und klassischen Synthesizer. In der Newcastle City Hall spielte Keith Emerson die einführende Promenade sogar auf der dortigen Orgel, mit der er den sakralen Charakter der Musik hervorragend einfängt.
Von den zehn Bildern, die Mussorgski inspiriert hatten, haben es vier aufs ELP-Album geschafft, teilweise musikalisch oder textlich angereichert. Gnomus und Das Große Tor von Kiew sind auch in ihrer Rockvariante ikonisch. Für Das alte Schloss gruben die Musiker eine Idee von Wladimir Stassow aus, dem Mentor des Mächtigen Häufleins, der dem Schloss seinerzeit einen „singenden Troubadour“ andichtete. Mit The Sage ist hieraus eine anmutige Einleitung entstanden, die an mittelalterlichen Minnesang erinnert. Und The Hut of Baba Yaga wurde von ELP völlig zerschnitten, seziert, elektrisiert, in drei Iterationen neu fusioniert. Als Zugabe krönte mit Nutrocker eine Variation von Peter Tschaikowskis Nussknacker das legendäre Konzert.
Damals störte sich niemand daran, dass die Vorlage aus der Feder eines Russen stammte. Warum auch? Doch seit im Februar 2022 russische Soldaten in die Ukraine einmarschierten, hat sich dies geändert.
Mussorgski war einer der ersten, die im blinden Aktionismus einiger Opernhäuser auf der Abschussliste landeten, um „ein Zeichen der Solidarität mit der Ukraine“ zu setzen. Mittlerweile geht es in der öffentlichen Debatte über russische Klassik längst nicht mehr um Kultur, sondern schlechterdings um ihre Negierung.
Kultur? Nein, danke!
Eine peinliche Episode aus Mailand mag dies verdeutlichen. Im Dezember 2022 geriet der Kunstdirektor des berühmten Teatro alla Scala unter Druck. Er wollte die Opernsaison mit Mussorgskis „Boris Godunow“ eröffnen. Seit 1909 genießt das Werk eine lange und erfolgreiche Aufführungstradition in Mailand.
Dies erzürnte den Chef der Kiewer Oper Anatoliy Solovinianenko, der befand, dass weder Mussorgski noch Tschaikowski im Jahr des russischen Einmarschs eine Bühne erhalten sollten. Er echauffierte sich ungezügelt darüber, dass den Mailändern „nichts anderes“ einfalle, und nannte das Repertoire „schockierend“. Unerwähnt ließ er, dass die Planung bereits drei Jahre zuvor begonnen hatte, was ihm, der selbst Intendant ist, nicht unbekannt sein dürfte.
Geschichtsklitternd und Empörung heischend behauptete Solovinianenko zudem, die Mailänder Scala hätte „erstmalig in ihrer Geschichte“ eine russische Oper für den Saisonauftakt gewählt. Die Tagesschau, welche seiner Kritik eine Plattform bot, versäumte die Richtigstellung. Tatsächlich ist allein „Boris Godunow“ bereits 26 Mal an der Scala aufgeführt worden.
Solovinianenkos Kritik gipfelte in einer traurigen Geisteshaltung, die wider jede Vernunft auch in Deutschland en vogue ist:
„Die Kultur des angreifenden Landes sollte so weit wie möglich ignoriert werden, da jede Erwähnung bereits eine Förderung ist.“
Kaum je wird dieser Fehlschluss in westlichen Medien durchdacht. Manch russisches Kulturgut gilt seit dem Krieg, ähnlich schlecht begründet, als anrüchig. Anderenfalls aber wird erklärt, was eigentlich keiner Erklärung bedarf: Einen Zusammenhang zwischen der Aufführung Mussorgskis und dem Angriff Russlands auf die Ukraine gibt es nicht. Der Komponist ist seit 150 Jahren tot. Es gibt viele gute Gründe, sich unvermindert an seinem Werk zu erfreuen.
Die Absage musikalischer Errungenschaften erwirken zu wollen, weil ihre Urheber Russen waren, ist dagegen nichts anderes als rassistisch.
Der Vorwurf „russlandfreundlicher Politik“ hat in Mailand Geschichte. Auch 1979, mitten im Kalten Krieg, schlug die Godunow-Inszenierung Mussorgskis durch den Intendanten Claudio Abbado Wellen. Sein damaliger Assistent, der heutige Musikdirektor und Dirigent der Mailänder Skala Riccardo Chailly, spricht also aus Erfahrung, wenn er sagt:
„Es ist notwendig, denen, die sie haben, politische Verantwortung zuzuweisen, aber die Kunst muss unabhängig und frei bleiben.“
Dies ist der Sinn unserer Manova-Reihe Russlands Schätze: Auf dass wir inmitten des Krieges nicht aus dem Blick verlieren, was uns mit Russlands Kultur und seinen Bürgern verbindet, obgleich ihr Machthaber Krieg führt. Auch in den 1970ern war das möglich.
Übrigens: Die Orgel der Newcastle City Hall, die einst Mussorgskis Promenade zu neuem Leben verhalf, ist heute aufgrund mangelnder Wartung in höllisch schlechtem Zustand. Den westlichen Beziehungen zur Kultur Russlands droht dasselbe. Wie herrlich es wäre, beide gleichsam zu restaurieren!
Der voraussichtliche Ablauf der Reihe (weitere können folgen):
(23. Juni 2023) Lilly Gebert: Jenseits von Schuld und Sühne (über Nikolai Gogols „Tote Seelen“ und die Eigenheiten der russischen Literatur
(30. Juni 2023) Michael Meyen: Mit dem Wolf nach Russland (über die sowjetische Kinderserie „Hase und Wolf“)
(7. Juli 2023) Nicolas Riedl: Russischer Tiefgang (über die apokalyptische Science-Fiction-Trilogie „Metro 2033-35“ von Dimitry Glukhovsky)
(14. Juli 2023) Bilbo Calvez: Eine Gemeinschaft in Sibirien (über ihre Zeit in einem sibirischen Dorf, in dem sie Ende vorigen Jahres mit gebrochenem Arm gestrandet ist)
(21. Juli 2023) Kenneth Anders: Die Russen und wir (über seine persönlichen Erfahrungen vom Kontakt mit der russischen Besatzungsmacht in einer Garnisonsstadt der DDR)
(28. Juli 2023) Felix Feistel: Antiautoritäres Russland (über die anarchistische Mentalität der Russen und seine Eindrücke während einer Reise in der Coronazeit)
(11. August 2023) Aaron Richter: Ein Monument der Freundschaft über Modest Mussorgskis „Bilder einer Ausstellung“)
(18. August 2023) Renate Schoof: Weltliteratur und Birkenwälder (über die Gedichte von Jewgeni Jewtuschenko, „Die Brüder Karamasow“ von Fjodor Dostojewski und „Der Weg des Schnitters“ von Tschingis Aitmatow)
(25. August 2023) Hakon von Holst: Versöhnung im Land der Verbannung (über den Baikalsee und die ZDF-Dokuserie „Sternflüstern“)
(8. September 2023) Owe Schattauer: Die harten Neunziger (über die beiden russischen Filme: „Bruder“ von Alexei Balabanow und „Toschka ― Der Punkt“ von Yuri Moroz)
(15. September 2023) Roland Rottenfußer: Der Himmel auf Erden (über russische Spiritualität und Orthodoxie)
(22. September 2023) Wolfgang Bittner: Hinter dem neuen eisernen Vorhang (über seine Vortragsreise durch Russland und die damit verbundenen Erlebnisse)
(29. September 2023) Lea Söhner: Der Feindkomponist (über die Musik und das Leben von Pjotr Iljitsch Tschaikowski)
(6. Oktober 2023) Laurent Stein: Ein unbekanntes Viertel (über das Viertel Sokolniki in Moskau und die Erinnerungen an seine russische Großmutter)
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