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Gegen die Barbarei

Gegen die Barbarei

Die Philosophin Hannah Arendt bewunderte Rosa Luxemburg als mutige Revolutionärin, die mitunter auch ihr eigenes Umfeld provozierte. Teil 2/2.

Über die „umstrittenste und mißverstandenste Gestalt der deutschen Linken“ eine Biografie zu schreiben, wertet Arendt als „genialen Einfall“. Gleichzeitig weist sie mit ihrer Rezension an einigen Stellen des von ihr geschätzten umfangreichen Werkes auf Fehlinterpretationen und Lücken des Autoren hin (vergleiche Teil 1/2). Dazu gehört, dass Nettl „nicht entdeckt hatte“, dass Rosa Luxemburg „ganz bewusst Frau“ war. Ihr „Abscheu vor der Emanzipationsbewegung (…) war sehr ausgeprägt“, schreibt Arendt: „Auf den Gleichheitsruf der Suffragetten hätte sie gewiß gern erwidert: ‚Viva la petite différence!‘“ Luxemburg war, so Arendt, „eine Außenseiterin, nicht nur als polnische Jüdin in einem Land, das ihr mißfiel, und in einer Partei, die sie bald verachtete, sondern auch als Frau“.

Auf der anderen Seite sei es Nettls Verdienst gewesen, den Namen Leo Jogiches, Luxemburgs „große Liebe“ und Gefährten, „vor der Vergessenheit bewahrt“ zu haben. Dieser sei, Arendt zufolge, „eine sehr bemerkenswerte und dabei typische Erscheinung unter den Berufsrevolutionären. In Rosa Luxemburgs Augen war er entschieden masculini generis, was für sie von großer Bedeutung war“. Luxemburg hätte Graf Westarp bevorzugt, den Führer der konservativen Partei, „vor allen sozialdemokratischen Prominenten, weil er, wie sie sagte, ‚ein Mann‘ war“. Und, so Arendt: Luxemburg „respektierte nur wenige Leute, und Jogiches stand an der Spitze einer Liste, auf der mit völliger Gewißheit nur die Namen von Lenin und Franz Mehring standen. Er war entschieden ein Mann der Tat, er wußte, was Handeln ist und was Leiden“ (1).

Ohne Jogiches, führt Arendt aus, „hätte es keinen Spartakusbund gegeben“, — eine Vereinigung, die wie keine andere organisierte Gruppe der Linken in Deutschland für kurze Zeit so etwas wie eine ideale ‚peer group‘ darstellte. „Womit“, auch das ist Arendt wichtig anzumerken, „wahrlich nicht gesagt sein soll, daß Jogiches die deutsche Revolution gemacht habe. Sie wurde wie alle Revolutionen von niemandem gemacht. Auch der Spartakusbund ‚lief den Ereignissen eher hinterher’, und die offizielle Ansicht, daß der Spartakus-Aufstand im Januar 1918 von den Führern des Bundes — Rosa Luxemburg, Liebknecht, Jogiches — ausgelöst oder inspiriert wurde, ist ein Mythos“.

Zwei Monate nach dem Mord an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg wurde Jogiches „verhaftet und auf der Polizeiwache hinterrücks erschossen“, schreibt Arendt: „Der Name des Mörders war bekannt, doch kein Versuch wurde je gemacht, ihn zu bestrafen.“ Der gleiche Beamte „brachte noch einen zweiten Menschen auf dieselbe Weise um und setzte dann mit Beförderung seine weitere Laufbahn in der preußischen Polizei fort. So ging es in der Weimarer Republik zu“ (2).

Schmerzhaft würden beim Lesen und Erinnern dieser alten Geschichten zugleich „der Unterschied zwischen den deutschen Genossen und den Mitgliedern von Rosa Luxemburgs Gruppe bewußt“, so Arendt: Denn als „sie während der russischen Revolution in Warschau verhaftet wurde und ihre Freunde Geld für die Kaution sammelten (…), wurde die Zahlung ergänzt durch eine inoffizielle Drohung mit Repressalien: falls Rosa irgendetwas geschähe, würde man mit Aktionen gegen hochgestellte Beamten kontern‘“. Den deutschen Genossen sei „ein solcher Gedanke an ‚Aktionen‘ nie gekommen“, beklagt Arendt: „weder vor noch nach der Welle politischer Morde, bei der die Straflosigkeit derartiger Taten deutlich genug zutage getreten war.“

Arendt streicht hervor, dass sich Luxemburg, gerade nicht „ständig geirrt“ hat, wie seinerzeit von ihren „Mitstreitern“ und Gegnern vor allem innerhalb der sozialdemokratischen Partei behauptet wurde, sondern, im Gegenteil, „alles richtig“ erfasst hat — mit, so die Rezensentin, Ausnahme von zwei „Irrtümern“.

Im Rückblick waren das „die wenigen entscheidenden Fälle, in denen Rosa Luxemburg nicht ‚aus der Reihe tanzt‘, sondern sich in Übereinstimmung mit den herrschenden Mächten der deutschen sozialistischen Bewegung befand“. Beide Irrtümer hätte sie „schließlich als solchen erkannt und bitter bereut. Der harmloseste betraf die nationale Frage“.

1898 war Luxemburg aus Zürich nach Deutschland gekommen. In der Schweiz durften, im Gegensatz zu fast allen europäischen Ländern, auch damals schon Frauen studieren und akademische Abschlüsse erlangen. Dort hatte sie „ihr Doktorexamen mit einer hervorragenden Dissertation über die industrielle Entwicklung in Polen bestanden“. Sie wurde „zur Polen-Expertin der deutschen Partei und deren Propagandistin bei der polnischen Bevölkerung der östlichen deutschen Provinzen“. Das, so Arendt, rückte sie jedoch in die „unangenehme Nachbarschaft derjenigen, (…) die am liebsten Polen bis zum völligen Verschwinden germanisiert und alle Polen einschließlich der polnischen Sozialisten von Herzen gern hinauskomplimentiert hätten“.

„Sehr viel ernster“, so Arendt, war Luxemburgs „trügerische Übereinstimmung mit der Parteiobrigkeit in der Revisionismus-Debatte, in der sie eine führende Rolle spielte“. Ausgelöst worden war „diese berühmte Debatte“ durch Eduard Bernstein. „In der Geschichte ist der Revisionismus festgelegt als Reform im Gegensatz zur Revolution.“ Doch diese Parole ist aus zwei Gründen irreführend. Einmal, so Arendt, „wirkt sie so, als ob die SPD um die Jahrhundertwende überhaupt noch auf die Revolution festgelegt war (und das ist unzutreffend), und zweitens verbirgt sie die objektive Richtigkeit von vielem, was Bernstein zu sagen hatte“. Dessen Stoßrichtung habe sich „insbesondere gegen die Marx’schen Voraussagen” wie die der zunehmenden Verengung „des Kreises der Wohlhabenden und die Zunahme der Verelendung der Armen“ gerichtet (3).

Für Luxemburg war die bestehende Gesellschaft aus Gründen der Gerechtigkeit moralisch untragbar

„Die Reaktion der deutschen Partei auf die unwillkommenen Wahrheiten war zweifellos hauptsächlich dem tiefsitzenden Widerwillen geschuldet, ihre theoretischen Grundlagen kritisch zu überprüfen“, urteilt Arendt. Infrage gestellt wurde dadurch auch „die Rolle der SPD als ‚Staat im Staate‘“. Angeschwollen zu mittlerweile „einer riesigen und wohlorganisierten Bürokratie“, hatte die Partei ihren angestammten Platz außerhalb der Gesellschaft und schien nur noch daran gelegen, „diese Position zu halten. Eine Revision à la Bernstein würde die Partei in die deutsche Gesellschaft zurückgeführt haben und eine solche Integration empfand man als mindestens genauso gefährlich für die Partei wie eine Revolution“.

Die „brilliante Analyse“ des Biografen zur Lage der SPD beruhe, so Arendt, auf dessen 1965 veröffentlichtem Aufsatz „The German Social Party 1890 — 1914 as a Political Model“. Nettl spricht „von der ‚Paria-Stellung‘ der SPD innerhalb der deutschen Gesellschaft und von ihrem Versäumnis, sich an der Regierung zu beteiligen“. Deren Mitglieder wären der Ansicht, „daß die Partei‚ ‚in ihren eigenen Reihen eine überlegene Alternative zum korrupten Kapitalismus anbieten konnte‘“. Und: In der Tat erzeugte die Partei, „indem sie die ‚Verteidigungsposten gegen die Gesellschaft an allen Fronten intakt‘ hielt, ein unechtes Gefühl der ‚Zusammengehörigkeit‘, das die französischen Sozialisten mit großer Verachtung behandelten“.

In Wahrheit aber stellte, so zitiert Arendt Luxemburgs Biografen, diese „Paria-Gesellschaft“ nichts anderes dar „als ein ‚verkleinertes Spiegelbild‘ der deutschen Gesellschaft“.

Arendt spricht von einer „Sackgassenentwicklung der deutschen sozialistischen Bewegung“. Diese konnte nun von entgegengesetzten Standpunkten aus zutreffend analysiert werden: „also entweder aus dem Blickwinkel des Bernsteinschen Revisionismus, der die Emanzipation der Arbeiterklasse in der kapitalistischen Gesellschaft als vollendete Tatsache ansah und die Forderung erhob, nicht weiter von einer Revolution zu reden, an die“, so Arendt, „sowieso niemand dachte; oder aber aus der Sicht derjenigen, die nicht nur der bürgerlichen Gesellschaft entfremdet waren, sondern die Welt zu verändern wünschten.“ Letzteren Standpunkt vertraten die Revolutionäre im Osten, „die den Angriff gegen Bernstein führten — Plechanow, Parvus und Rosa Luxemburg — und die von Karl Kautsky, dem bedeutendsten Theoretiker der deutschen Sozialdemokratie, unterstützt wurden, obwohl er wahrscheinlich besser mit Bernstein zurecht kam als mit diesen neuen Verbündeten“.

Das wahre Problem, so Arendt, war jedoch „weder ein theoretisches, noch ein wirtschaftliches. Es ging vielmehr um Bernsteins schamhaft in einer Fußnote verborgene Überzeugung, daß die ‚Bourgeoisie‘ — die deutsche nicht ausgenommen — in ihrer großen Masse noch recht gesund ist, nicht nur wirtschaftlich, sondern auch moralisch“. Entscheidend aber war, „daß sich Bernstein und Kautsky in ihrer Aversion gegenüber der Revolution trafen“. — Für Kautsky galt „das ‚eiserne Gesetz der Notwendigkeit‘“ — dass nämlich der Kapitalismus krisengeschüttelt und zwangsläufig in sich zusammenfalle und dessen Überwindung somit nur eine Frage der Zeit sei, — „als beste Entschuldigung, nichts zu tun“ (4).

Arendt zufolge blieben allein die „Gäste aus Osteuropa [… übrig], die sich nicht damit zufrieden gaben, an die Revolution als eine theoretische Notwendigkeit zu ‚glauben‘, sondern irgendetwas dafür tun wollten, gerade weil sie die bestehende Gesellschaft moralisch, aus Gründen der Gerechtigkeit, für untragbar hielten“. Bernstein und Rosa Luxemburg verband wiederum, „daß sie ehrlich waren (…), daß sie analysierten, was sie sahen, daß sie die Realität in Rechnung stellten und Marx kritisch betrachteten“. So hätte Bernstein in seiner Entgegnung auf Rosa Luxemburgs Angriffe zu Recht bemerkt, „daß sie ebenfalls ‚alle marxistischen Voraussagen über die künftige gesellschaftliche Entwicklung‘ in Frage gestellt habe, ‚soweit diese auf die Krisentheorie basierten‘“.

Nach Arendt beruhten Rosa Luxemburgs frühe Erfolge in der deutschen Partei somit auf einem doppelten Missverständnis. Um die Jahrhundertwende war „die SPD der Neid und die Bewunderung der Sozialisten in der ganzen Welt‘“. Und August Bebel, ihr politischer und geistiger Führer von der Reichsgründung bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges hatte „immer wieder verkündet: ‚Ich bin und werde stets Todfeind der derzeitigen Gesellschaft sein‘“. Klang das, fragt Arendt, „nicht wie der Geist der polnischen Peer-Group?“ Zeigte sich die SPD „angesichts einer solchen herausfordernden Haltung [… nicht wie] ein vergrößertes Abbild der SDKPIL“, der Sozialdemokratie des Königreiches Polen (und Litauens), die Luxemburg 1893 in Polen zusammen mit Leo Jogiches und anderen gegründet hatte?

Nach der Rückkehr Rosa Luxemburgs aus der ersten russischen Revolution dauerte es fast ein Jahrzehnt, so die Rezensentin, ehe sie „entdeckte, daß das Geheimnis dieser stolzen Ablehnung in der entschlossenen Nichteinmischung in die öffentlichen Angelegenheiten der Welt und der ausschließlichen Beschäftigung mit dem Anwachsen des Parteiapparats lag“.

Aus dieser enttäuschenden Erfahrung heraus entwickelte Luxemburg „nach 1910 ihr Programm der konstanten Reibung mit der Gesellschaft, ohne die — wie sie damals erkannte — der Quell des revolutionären Geistes zum Austrocknen verdammt war“. Luxemburg lag es fern, so Arendt, „ihr Leben in einer Sekte zu verbringen, wie groß diese auch immer sein mochte. Ihre Beschäftigung mit der Revolution war in erster Linie eine moralische Angelegenheit, und das bedeutete, daß sie weiterhin leidenschaftlich am öffentlichen Leben Anteil nahm und die Geschicke der Welt im Auge behielt“.

Ihr Engagement in der europäischen Politik äußerte sich, „weit über den Horizont aller Marxisten hinaus“, wie Arendt schreibt, „in ihrer wiederholten Forderung nach einem ‚republikanischen Programm‘ für die deutsche und für die russische Partei.“ Das sei auch „einer der Hauptpunkte ihrer berühmten ‚Junius-Broschüre‘, die sie im Gefängnis während des Krieges schrieb und die dann später dem Spartakusbund als Programm diente“ (5).

In dieser unter ihrem Pseudonym verfassten, Anfang 1916 erschienenen Analyse über „Die Krise der Sozialdemokratie“ zerstörte sie auch „die beiderseitigen Legenden vom Verteidigungskrieg und entlarvte deutscherseits die Beherrschung der Türkei als das uneingestandene Ziel eines imperialistischen Angriffskrieges“, streicht der Autor Helmut Hirsch in seiner erstmals 1969 veröffentlichen „Monographie“ über „Rosa Luxemburg“ heraus (6).

Politische Freiheit muss unter allen Umständen garantiert werden

Ohne zu wissen, wer die Junius-Broschüre geschrieben hatte, hatte Lenin sofort erklärt: „Die Ausrufung der Republik bedeutete praktisch die Ausrufung der Revolution mit einem falschen revolutionären Programm.“ Nun, so Arendt, „ein Jahr später brach die russische Revolution aus, ohne ein wie immer geartetes Programm zu haben, und ihre erste Leistung war die Abschaffung der Monarchie und die Errichtung einer Republik, was sich dann ebenfalls in Deutschland und Österreich ereignen sollte“.

Mehr noch als die nationale Frage trennte die republikanische Frage Luxemburg entscheidender von allen anderen. „In dieser Hinsicht stand sie vollständig allein“, so Arendt, „genau so allein, wenn auch weniger prononciert wie in ihrer Betonung, daß Freiheit, nicht nur Gedankenfreiheit, sondern politische Freiheit unter allen Umständen garantiert werden müsse.“

Ein anderes Missverständnis stand im unmittelbaren Zusammenhang mit der Revisionismus-Debatte, schreibt Arendt, denn „Rosa Luxemburg hielt irrtümlich Kautskys Widerstreben, Bernsteins Analysen zu akzeptieren, für eine authentische Verpflichtung zur Revolution. Doch nach der ersten russischen Revolution von 1905, zu der sie eigens mit falschen Papieren nach Warschau zurückgeeilt war, konnte sie sich nicht länger mehr darüber täuschen“. Für Luxemburg „waren diese Monate nicht nur ein umwälzendes Erlebnis, sondern auch die ‚glücklichste Zeit meines Lebens‘“ (7).

Mit ihren Freunden in der deutschen Partei versuchte sie nach ihrer Rückkehr, die Ereignisse durchzusprechen. Dabei machte sie „schnell die Erfahrung, daß das Wort Revolution ‚nur mit einer echten revolutionären Situation in Berührung zu kommen braucht, um alsbald in bedeutungslose Silben zu zerfallen‘“. Die deutschen Sozialisten seien überzeugt davon gewesen, „daß solche Dinge nur in weit entfernten barbarischen Ländern passieren konnten. Das war der erste Schock, von dem Rosa sich niemals erholen sollte. Der zweite kam 1914 und brachte sie an den Rand des Selbstmords“ — mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges und der Bewilligung der Kriegskredite, beschlossen, unter Fraktionszwang, mit dem einstimmigen Votum auch der SPD-Reichstagsfraktion, zuerst noch (8). Damit brach für die Revolutionärin eine Welt zusammen, schreibt Ernst Piper in seiner 2019 veröffentlichten Biografie „Rosa Luxemburg — Ein Leben“:

„Alles, woran sie geglaubt hatte — der bedingungslose Internationalismus, die grundsätzliche Systemopposition, der kompromisslose Kampf gegen den Krieg —, waren dahin“ (9).

Aus ihrer ersten „Berührung mit einer richtigen Revolution“ gewann Luxemburg „auch ihren Einblick für die Natur politischen Handelns, den Nettl mit Recht“, so Arendt, „als ihren wichtigsten Beitrag zur politischen Theorie bezeichnet.“ Vor allem „lernte sie von den revolutionären Arbeiterräten (den ‚Sowjets‘), daß ‚gute Organisation der Aktion nicht voraufgeht, sondern erst ihr Ergebnis ist‘, daß ‚die Organisation der revolutionären Aktion nur in der Revolution selbst erlernt werden kann, so wie man Schwimmen nur im Wasser lernen kann‘“. Schließlich: „daß Revolutionen von niemandem ‚gemacht‘ werden, sondern ‚spontan aufbrechen‘, und daß der ‚Druck zur Aktion‘ immer ‚von unten‘ kommt. Eine Revolution“, so ihr Erkenntnisgewinn, „ist so lange groß und stark, als die Sozialdemokraten (damals noch die einzige revolutionäre Partei) sie nicht zerschlagen.“

Entgangen sei Luxemburg bei ihren Analysen aber, „daß die Revolution als Ergebnis der russischen Niederlage im Kriege mit Japan eintrat“. Lenin, schreibt Arendt, „zog aus den Ereignissen die folgenden beiden Lehren: Man brauchte keine große Organisation — eine kleine, straff organisierte Gruppe mit einem Führer, der genau wußte, was er wollte, genügte vollauf, um die Macht zu ergreifen, sobald die Autorität des alten Regiments hinweggefegt war“. Und:

„Da Revolutionen nicht ‚gemacht‘ werden, sondern als Ergebnis von Umständen und Ereignissen entstehen, die niemand beeinflussen kann, sind Kriege durchaus willkommen, große revolutionäre Organisationen dagegen hinderlich.“ (10)

Besser eine erfolglose als eine deformierte Revolution

Der erste Punkt, führt Arendt aus, lag Rosa Luxemburgs Meinungsverschiedenheit mit Lenin während des Ersten Weltkrieges zugrunde, der zweite bezieht sich auf ihre Kritik an Lenins Taktik während der russischen Revolution von 1917. Denn, so Arendt, Luxemburg „weigerte sich von Anfang bis zum Ende kategorisch, im Krieg etwas anderes als das schreckliche Unheil zu erblicken, was auch immer dabei herauskommen mochte“.

Die Kosten an Menschenleben, „besonders am Leben proletarischer Menschen“, waren nach ihrer Meinung in jedem Falle zu hoch. Außerdem, so Arendt, ging es Luxemburg „einfach gegen den Strich, die Revolution als Nutznießerin von Krieg und Blutvergießen zu betrachten — was Lenin nicht das geringste ausmachte“.

Auch in Fragen der Organisation unterschied sie sich von Lenin, denn sie glaubte „nicht an einen Sieg, an dem die breite Masse keinen Anteil und kein Mitspracherecht hatte“. Sie fürchtete „eine deformierte Revolution weit mehr als eine erfolglose“. Ihr ging es nicht „um jeden Preis“ darum, die Macht in Händen zu halten, — im Grunde, so Arendt, war das „der Hauptunterschied zwischen ihr und den Bolschewiken“ (11).

„Haben“, so fragt Arendt, „die Ereignisse ihr nicht recht gegeben? (…) Hat nicht der ‚moralische Zusammenbruch‘, den sie vorhersah — ohne freilich die Errichtung eines Verbrecherstaats unter Stalin zu ahnen —, der Sache der Revolution, wie sie sie auffaßte, mehr geschadet als ‚jede nur erdenkliche Niederlage (…) im ehrlichen Kampf gegen überlegene Kräfte und gegen den Strom der historischen Entwicklung? Hatte sie nicht recht (…), daß die einzige Rettung in der ‚Schule des öffentlichen Lebens selber lag, in der unumschränktesten, breitesten Demokratie und öffentlichen Meinungsäußerung‘, daß der Terror jedermann ‚demoralisiere‘ und alles zerstöre?“ Luxemburg lebte nicht lange genug, schließt Arendt ihren Essay, „um noch zu sehen, in welchem Maße sie recht gehabt hatte, um noch die fürchterliche und fürchterlich schnelle moralische Zersetzung der kommunistischen Parteien der unmittelbaren Nachkommen der russischen Revolution überall auf der Welt zu beobachten“.

Die Rezensentin spricht von einer „gewissen Ironie“, die darin läge, dass ausgerechnet Luxemburgs Broschüre mit den oben zitierten Bemerkungen über die russische Revolution, die sie 1918 „nur für sich“ niedergeschrieben hatte, die aber von Paul Levi, dem Nachfolger von Leo Jogiches in der Führung des Spartakusbundes drei Jahre nach derer beider Ermordung veröffentlich wurde, „als einzige ihrer Schriften heute noch allgemein bekannt ist“.

Man hätte, so Arendt, „Lenin verzeihen können, wenn er scharf und unbeherrscht darauf geantwortet hätte. Doch er schrieb: ‚Wir entgegnen mit (…) einer guten alten Fabel: Ein Adler kann manchmal niedriger als ein Huhn fliegen, ein Huhn jedoch kann niemals die gleichen Höhen wie ein Adler erreichen. Trotz ihrer Fehler war und blieb Rosa Luxemburg ein Adler‘“(12).

Lenin verlangte die Veröffentlichung ihrer Biografie und einer vollständigen Ausgabe ihrer Werke, „einschließlich ihrer Irrtümer“, und er tadelte die deutschen Genossen, „diese ihre Verpflichtung ‚unglaubwürdigerweise‘ vernachlässigt zu haben. Das war im Jahre 1922“. Arendt zufolge erhoffte sich Lenin von der Veröffentlichung ihrer Werke, sie könne der „Belehrung vieler Generationen von Kommunisten“ dienen.

„Es kommt darauf an, die Welt zu verändern“

Arendt bedauert, dass Nettl „die Flut“ polnischer Literatur und Biographien nach 1956 nicht aufnahm, denn, so die Rezensentin:

„Man möchte die Hoffnung nicht aufgeben, daß mit großer Verspätung noch erkannt wird, wer Rosa Luxemburg war und was sie geleistet hat — ebenso wie man weiter hoffen möchte, daß sie endlich ihren Platz im Pensum der Politologen der westlichen Welt finden wird.“

Zu Recht hätte Nettl gesagt:

„Wo immer ernsthaft die Geschichte der politischen Ideen gelehrt wird, da müssen auch ihre Ideen genannt werden“ (13).

Die von ihr bewunderte Rosa Luxemburg war in erster Linie eine Frau der Tat. Hannah Arendt selbst sah sich dagegen vor allem „nur“ als politische Theoretikerin. Schließen möchte ich daher meine Zusammenfassung von Arendts „Hommage“ mit dem bekannten Zitat von Karl Marx (1818 bis 1883):

„Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt darauf an, sie zu verändern.“

Wobei diese Aufforderung des Denkers und Revolutionärs zu Folklore-Zwecken sogar von der gegenwärtigen SPD, der Partei des „America-First“, der Kriegstreiber und Karrieristen also, in Image-Broschüren wie „200 Jahre Karl Marx“ eingesetzt wird, in dem Fall, kitschig schon auf dem Titel, um in dem Text selbst „Lenin und Stalin in einen Topf zu werfen“ (14). Treffender zur Beschreibung zumindest ihres Leitungspersonals in Bezug auf Großkapital, Weltbankiers und Monopolkonzerne wäre doch wohl der „Spot“: Früher bildete ihre Spitze der klassenbewusste Lassalle, heute der vergessliche Vasall.

Immerhin, so mein letzter Einschub, ihren „Parteigründer“ Ferdinand Lassalle (1825 bis 1864) zitiert die SPD auf ihren Seiten noch mit seinem erkenntnisreichen Ausspruch vom November 1862: „Alle große politische Aktion besteht im Aussprechen dessen, was ist, und beginnt damit. Alle politische Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und Bemänteln dessen, was ist.“ Letztlich wirkt aber auch dieses von der heutigen SPD als Zierde bemühtes Zitat nur noch wie Folklore, vollkommen inhaltsleer, ohne jeden Bezug zur Gegenwart und ohne jede Aufforderung zur Tat von einer Partei, die nur noch der Schatten ihrer selbst ist (15).


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Quellen und Anmerkungen:

(1) Hannah Arendt, „Rosa Luxemburg“, Der Monat, Berlin und Frankfurt am Main, 20.Jahrgang, Dezember 1968, Seite 33 bis 34
(2) Hannah Arendt, aaO. Seite 35;
vergleiche Klaus Gietinger, „Der Konterrevolutionär, Waldemar Pabst — eine deutsche Karriere“, Hamburg, 2008, Seite 129 folgende
(3) Hannah Arendt, aaO. Seite 35 bis 36;
(4) Hannah Arendt, aaO. Seite 36 bis 37
(5) Hannah Arendt, aaO. Seite 37 bis 38, vergleiche Frederik Hetmann, "Die Junius-Broschüre (Auszug)", aus: "Rosa Luxemburg, Ein Leben für die Freiheit, Reden – Schriften – Briefe, Ein Lesebuch, Herausgegeben von Frederik Hetmann", 21.-23. Tausend, Frankfurt am Main, , Juni 1986, Seite 237 folgende; vergleiche Rosa Luxemburg, "Die Krise der Sozialdemokratie (Junius-Broschüre)" in: "Die Freiheit ist immer nur die Freiheit des Andersdenkenden", Reihe "Hauptwerke der großen Denker", Paderborn, Seite 549 folgende
(6) Helmut Hirsch, „Rosa Luxemburg“, Reinbek bei Hamburg, 79. — 83. Tausend, 1988, Seite 103 folgende; vergleiche Ernst Piper, „Rosa Luxemburg, — Ein Leben“, München, 2019, Seite 519 folgende

(7) Hannah Arendt, aaO. Seite 38;
vergleiche, Helmut Hirsch, aaO., Seite 45 folgende
(8) Hannah Arendt, aaO. Seite 38 bis 39;
vergleiche Klaus Gietinger, „Der Konterrevolutionär, Waldemar Pabst — eine deutsche Karriere“, Hamburg, 2008, Seite 37 und Seite 50 folgende; vergleiche: Karena Kalmbach, „Die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD)“, Lebendiges Museum Online (Lemo), Berlin, 6. September 2014, https://www.dhm.de/lemo/kapitel/weimarer-republik/innenpolitik/uspd.html;

(9) Ernst Piper, aaO. Seite 460 folgende;
vergleiche Helmut Hirsch, , aaO., Seite 107
(10) Hannah Arendt, aaO. Seite 39
(11) Hannah Arendt, aaO. Seite 39, Hannah Arendt, aaO. Seite 39;

vergleiche Frederik Hetmann, "Die Russische Revolution (Auszüge)", aaO. Seite 279 folgende; vergleiche Rosa Luxemburg, "Zur russischen Revolution", aus: Luxemburg, Rosa, Gesammelte Werke, Institut für Maxrxismus-Leninismus beim ZK der SED, Redaktion Georg Adler, untere anderem, "Band 4, August 1914 bis Januar 1919", 4. Auflage, Berlin 1987, Seite 332 folgende
(12) Hannah Arendt, aaO. Seite 39 bis 40;
vergleiche Helmut Hirsch, aaO. Seite 103 folgende; vergleiche Ingeborg Kaiser, „‚Ich war, ich bin, ich werde sein‘, Rosa Luxemburg — Rainer Werner Fassbinder — Hinterlassenschaften“, Norderstedt, 2015, Seite 75

(13) Hannah Arendt, aaO. Seite 40
(14) Christian Krell, Thomas Meyer, Hans-Jürgen Scherer, „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern, 200 Jahre Karl Marx“, Hrsg. SPD Parteivorstand, Berlin, https://kulturforum.spd.de/fileadmin/kulturforum/Dokumente/Reden_und_Beschluesse/Karl_Marx_Broschuere.pdf; vergleiche Hannah Arendt, aaO. Seite 30; vergleiche Werner Rügemer „‚America First‘ in Europa, Kritik an Trumps ‚America First‘ ist heuchlerisch“, Manova, 15. Mai 2017, https://www.manova.news/artikel/america-first-in-europe; vergleiche Werner Rügemer, „Wie die USA Deutschland eroberten“, Multipolar, 28. September 2023, https://multipolar-magazin.de/artikel/wie-die-usa-deutschland-eroberten;

vergleiche: Hans-Jürgen Nagel, „Der Tag, der die D-Mark bescherte“, Ossietzky 12/2023, S. 412, https://www.ossietzky.net/artikel/der-tag-der-die-d-mark-bescherte/(88); vergleiche Christian Kreiß, „Ungebremst in die Armut — In den USA steigen die Zinsen parallel zum US-Verschuldungsgrad, wodurch die Schere zwischen Arm und Reich immer dramatischer auseinanderklafft “, Manova, 21. September 2023, https://www.manova.news/artikel/ungebremst-in-die-verarmung; vergleiche kla.tv, 25042, „Krieg in Deutschland? Kommandozentrale direkter Kriegsführung“, April 2023, https://www.kla.tv/USA/25042; vergleiche: Hermann Ploppa, „Händler des Todes — Angesicht sich zuspitzender Konflikte stehen der Rüstungsindustrie hohe Gewinne ins Haus“, Manova, 17. Dezember 2022, https://www.manova.news/artikel/handler-des-todes-2
(15) „Über 160 Jahre SPD — Auf dem Weg zum modernen Deutschland“, Der SPD-Parteivorstand; https://www.spd.de/partei/geschichte;
vergleiche Julius Leber, „Die Todesursachen der deutschen Sozialdemokratie, Schrift von 1933“, aus: „Julius Leber — Schriften, Reden, Briefe 1920-1945, Mit einem Vorwort von Willy Brandt und einer Gedenkrede von Golo Mann“ herausgegeben von Dorothea Beck und Wilfried F. Schoeller, München 1976;
vergleiche Christian Kreiß, „Armes Deutschland — Die Einkommensschere geht immer weiter auf — den einfachen Leuten geht es immer schlechter“, Manova, 17. September 2023, https://www.manova.news/artikel/armes-deutschland;
vergleiche Christian Kreiß, „Wohnen nur für Reiche“, Manova, 8. August 2023, https://www.manova.news/artikel/wohnen-nur-fur-reiche; vergleiche Werner Rügemer, „Pandora Papers: Weißwäsche des westlichen Finanzsystems — Es fehlen die wichtigsten Finanzoasen und deren Nutzer“, Lunapark 21, 56/2021, S. 20 f., https://www.lunapark21.net/pandora-papers-weisswaesche-des-westlichen-finanzsystems/; vergleiche Seymor M. Hersh, „Die Vertuschung — Die Biden-Regierung verschleiert weiterhin ihre Verantwortung für die Zerstörung der Nordstream-Pipelines“ in der Ausgabe zum Schwerpunkt „Deutschlands 9/11“, Free21 Magazin, April 2023, https://free21.org/magazine/02-2023/; vergleiche Michel Chossudovsky, „Der Schock-Putsch — Die Schließung der Volkswirtschaften vieler Länder während der Corona-Zeit war ein geplantes, beispielloses Verarmungs- und Enteignungsprogramm“, Manova, 23. November 2023, https://www.manova.news/autoren/michel-chossudovsky;
vergleiche Franziska Heinisch, unter anderem, „Ihr habt keinen Plan — darum machen wir einen, 10 Bedingungen für die Rettung unserer Zukunft“, Jugendrat der Generationen Stiftung, Claudia Langer, Hrsg., München, 2019,

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