Uns geht es heute besser als früher. Dieses „Früher“ ist gemeinhin nicht an ein bestimmtes Datum gebunden, sondern auf ein paar hundert Jahre bezogen oder grenzt sich vom „düsteren Mittelalter“ ab. Hat sich nicht in den vergangenen 150 Jahren, in denen Europa von zwei Weltkriegen heimgesucht wurde, die Lebenserwartung mehr als verdoppelt? Gleichzeitig hat sich der Gesundheitszustand der alten Menschen verschlechtert. Die Zahl der Menschen ist gestiegen, die eine schwere Erkrankung erleiden (1). Kinder sterben weniger. Und es werden immer weniger geboren.
In seinem griechischen Ursprung bedeutet Fortschritt Zugabe, Steigerung, Leistung, im lateinischen Erfolg, Steigerung, Wachstum. Im Gegensatz zu den „kalten“, naturangepassten Gemeinschaften, die den Fortschritt vermeiden und bewährte Lebensweisen beibehalten, werten die „heißen“ Gesellschaften der Industrienationen Fortschritt als positiv. Dem zugrunde liegt die Vorstellung, dass es, anders als in der Natur, ein andauerndes Wachstum gibt, und dass der Mensch nicht Teil der Natur ist.
Geschichtliche Entwicklung, so die Annahme, verlaufe linear und eindimensional, und die Veränderung zum Neuen bringe stets Verbesserung. Diese Vorstellung wird durch die Messbarkeit der evidenzbasierten Wissenschaft untermauert. Faktoren wie Einkommen, Lebenserwartung, Kindersterblichkeit, Rückgang von Seuchen oder Alphabetisierung sollen schwarz auf weiß beweisen, dass wir uns auf dem rechten Weg befinden. Kulturpessimisten, die sich dieser Entwicklung entgegenstellen, gelten schnell als reaktionär oder gar als Nazis.
Eine kurze Geschichte des Fortschritts
Die Bewertung des Fortschritts ist stets anthropozentrisch und nicht ganzheitlich. Wenn ein Großteil der Gesellschaft genug Vorteile hat, erfährt der Fortschritt Zustimmung. Die Idee gab es bereits in der Antike und im frühen Christentum, doch erst während der Hochrenaissance wurde der Fortschritt zu einer Leitkategorie der Moderne. Francis Bacon (1561 bis 1626) kritisierte die übertriebene Verehrung des Alten und sprach von der Würde und dem Fortgang der Wissenschaften, der sich vor allem in den Erfolgen der mechanischen Künste zeigte. Thomas Hobbes (1588 bis 1679) geht von einem chaotischen und von Eigennutz getriebenen Naturzustand des Menschen aus, der sich in einem bellum omnium contra omnes, einem Krieg aller gegen alle äußere.
Im Gegensatz zu den „Barbaren“ Amerikas, Afrikas und Australiens und den von Despoten beherrschten Völkern Asiens sahen sich die aufgeklärten Völker Europas aufgrund ihres rationalen Weltbildes als Vorbilder des Fortschritts. In der deutschen Sprache taucht der Begriff gegen Ende des 18. Jahrhunderts auf. Im späten 19. und 20. Jahrhundert etablierte sich das wissenschaftliche Weltbild der Industriegesellschaften, das dem florierenden technischen Fortschritt bald eine Allmacht zuwies, die den Glauben an ein göttliches Wesen verdrängte.
Immer wieder erhoben sich auch Gegenstimmen.
Albert Schweitzer (1875 bis 1965) kritisierte, dass Fortschritt nur noch im materiellen Sinne verstanden wurde und die menschlichen Qualitäten außer Acht ließ, und Erich Fromm (1900 bis 1980) sah im Fortschritt eine Gefahr für die geistige Gesundheit des Menschen.
Seit der Entstehung der Umweltbewegung in den 1970er Jahren wird vor allem die Annahme kritisiert, der materiell-technologische Fortschritt sei unbegrenzt, und mit dem 21. Jahrhundert kommt die Frage hoch, ob denn unendlicher Fortschritt überhaupt möglich und wünschenswert sei.
In die falsche Richtung
Ohne Zweifel: Technisch gesehen sind wir weit gekommen. Zwar gibt es Fragen: ob wir jemals auf dem Mond waren, oder ob wir heute dazu in der Lage wären, so etwas wie die Pyramide von Gizeh zu bauen. Doch wir sehen an den Windparks, für die auch die letzten Urwälder abgeholzt werden, an den Solarfeldern, so weit das Auge reicht, an dem Asphalt und dem Beton, die die Natur verdrängt haben, an einem wachsenden Plastikkontinent, an den Überwachungskameras und den Smartphones, durch die jeder geringste unserer Schritte kontrollierbar ist, wie weit wir es gebracht haben (2).
Aus Leibeigenen sind Lohnsklaven geworden, die um ihr Überleben kämpfen müssen. Frauen dürfen nicht nur arbeiten, sie müssen es auch, da ein Ernährer für die Familie längst nicht mehr ausreicht. Die Pille hat vor allem die Männer befreit. Sie müssen sich überhaupt keine Gedanken mehr über Empfängnisverhütung machen, während die Frauen die alleinigen Nachteile einer Hormonbehandlung tragen. Schwangere werden wie Kranke behandelt und bringen ihre Kinder in Spezialeinrichtungen zur Welt, die vom Säuglingsalter an wiederum in Spezialeinrichtungen „gefördert“ werden.
Sex and Drugs and Rock ‘n’ Roll haben uns letztlich nicht freier gemacht, sondern abhängiger. Der Traum einer ganzen Generation von Frieden und Liebe wurde gekapert und verdreht.
Die Frauenbewegung wurde im Gender-Mainstream erstickt, und die Friedensbewegung von „Omas gegen rechts“. Das Ende des Kalten Krieges mündete in einem Informationskrieg, die Maueröffnung in neuen Blockbildungen und der Nuklearausstieg in einer Öko-Diktatur.
Aus dem Wahlrecht für alle wurde „unsere Demokratie“, aus der Alphabetisierung ein neuer Analphabetismus, aus Umweltschutz Kampf gegen den Klimawandel, aus Toleranz die Woke-Bewegung und aus Gleichberechtigung Gleichmacherei.
Zu hoch geflogen
Nicht alles ist schlecht. Auch ich habe es gerne bequem und bin froh darüber, dass mir kein herumziehender Bader die Zähne ausreißt. Ich schreibe diese Zeilen auf einem Laptop und vor meinem Haus steht ein Auto. Ich möchte keine moralisierende Debatte auslösen, sondern Gedanken darüber, in welche Richtung wir gehen wollen, während die Welt brennt. Unweigerlich geht eine Epoche zu Ende, eine neue beginnt. Zweifellos hatte auch die alte ihr Gutes. Doch an diesen Rettungsinseln festzuhalten, wird uns nicht helfen. Jetzt geht es darum, welche Samen wir mit hinübernehmen.
Die Fortschrittsindikatoren Gesundheit, Nahrung, Frieden, Sicherheit, Freiheit und Glück haben ihren Glanz verloren. Unsere Welt ist nicht friedlicher, und wir sind nicht gesünder, glücklicher oder klüger. Im Gegenteil. Seit Jahrzehnten geht unsere Intelligenz wieder zurück. Umweltverschmutzung, schlechte Ernährung und Digitalisierung machen uns fortschreitend dümmer (3). Die meisten Menschen können mit ihren Händen nichts mehr anfangen, und viele Schüler können nicht mehr richtig lesen und schreiben.
Wir sind zu hoch geflogen. Wie Ikaros haben wir uns die Flügel versengt. Fortschritt ist ein zweischneidiges Schwert: Es wärmt und verbrennt zugleich (4). Wir haben das rechte Maß noch nicht gefunden.
Heraus kam nicht ein Mensch in seiner Ganzheit, sondern ein Homunculus, ein künstliches Wesen aus dem Reagenzglas, ein Frankenstein, ein Smombie ohne Rückgrat und eigenen Verstand, der sein Menschsein einer Künstlichen Intelligenz opfert, die letztlich die Kontrolle übernimmt.
Fatale Entwicklung
In ihrem Vortrag „Das Nichts ist nahe“ beschreibt Claudia von Werlhof treffend den Omnizid, in den uns unser sogenannter Fortschritt unablässig treibt: den Tod von allem (5). So weit haben wir es gebracht in dem Bestreben, Gott zu spielen und den Tod zu überwinden — oder zumindest sehr lange hinauszuschieben.
Unsere Wissenschaft hat das Lebendige in seine einzelnen Bestandteile zerlegt, um es wieder neu zusammenzusetzen: perfekt funktionierend und unkaputtbar. Dafür muss das Lebendige sterben. Die Welt wird einigen Wenigen zum Opfer gebracht, die abgetrennt von Allem die Mittel haben, sich mit dem Fortschritt der Technologie ein ewiges Leben zu erkaufen. Ihre Seele haben sie einer Wissenschaft geopfert, die Leben verspricht, doch letztlich Tod bringt.
Soratisch nennt die Anthroposophie die Kraft, die hier am Werk ist: eine kalte, verschlossene Intelligenz, die der Menschenseele den Zugang zur geistigen Welt verschließt. Der Mensch wird an die materielle Sphäre gebunden, um das seelische Vorankommen des Ichs zu verhindern und den Menschen zu animalisieren. Erscheinungsmerkmale Sorats sind der Missbrauch moderner Wissenschaften, ihre Pervertierung in das Unmenschliche, und die Durchdigitalisierung aller Lebensbereiche (6).
Den Willen befreien
Damit die Menschen diese Entwicklung mitmachen, musste ihnen der technische Fortschritt als etwas Gutes verkauft werden. Vor allem aber mussten sie es freiwillig tun. Wurde die Sklaverei nicht abgeschafft? Können wir nicht alle wählen? Gibt es Propaganda und Manipulation nicht nur in Schurkenstaaten? Gleichzeitig wurde uns der freie Wille ausgeredet. Der Mensch ist nichts weiter als ein mehr oder weniger triebgesteuertes Tier, das nur an der Leine vor sich selbst geschützt werden kann.
Determinismus, Darwinismus, Materialismus, Marxismus und schließlich die Künstliche Intelligenz sorgen dafür, dass viele Menschen auf die Freiheit verzichten, ihr Leben aus eigenen Entscheidungen heraus zu gestalten. Mehr und mehr verliert der Mensch den letzten Rest seiner schöpferischen Kraft: die Kraft, die aus Gedanken Realitäten entstehen lässt.
Das Sein soll das Bewusstsein bestimmen. Wer das glaubt, der macht sich gewissermaßen käuflich. Man muss ihm nur in hübschen Farben eine Agenda präsentieren, mit der bald, schon sehr bald die ganze Welt gerettet werden soll (7).
Er sieht nicht die kalte, berechnende und todbringende Macht, die sich hinter den bunten Kästchen verbirgt. Doch auch für ihn kommt der Tag, an dem er zur Verantwortung gezogen wird. Wird er sich besinnen? Vor ihm steht die Möglichkeit, es fortan anders zu machen und einen Fortschritt zu erfinden, der sich nicht das Lebendige einverleibt, sondern es achtet und schützt. Einen Fortschritt für den Menschen und nicht gegen ihn. Einen Fortschritt, der nicht auseinandernimmt, sondern verbindet, und der den Menschen sich nicht nur in seiner Menschlichkeit entfalten lässt, sondern auch in seiner Göttlichkeit.
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Quellen und Anmerkungen:
(1) https://de.wikipedia.org/wiki/Fortschritt
(2) https://www.manova.news/artikel/orbitale-offensive-3
(3) https://www.pressenza.com/de/2025/08/der-rueckgang-des-intelligenzquotienten-im-digitalen-zeitalter-kognitive-umstrukturierung-und-globale-trends/
(4) https://www.freischwebende-intelligenz.org/p/ki-wir-zauberlehrlinge-20?utm_source=post-email-title&publication_id=95541&post_id=176389633&utm_campaign=email-post-title&isFreemail=true&r=a0i9v&triedRedirect=true&utm_medium=email
(5) https://www.manova.news/artikel/das-nichts-ist-nahe
(6) https://anthrowiki.at/Sorat#Sorat_und_die_schwarze_Magie
(7) https://sdgs.un.org/goals



