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Jenseits des Sagbaren

Jenseits des Sagbaren

Wo das Bewusstsein in mystische Bereiche vordringt, versagen oft Worte und die viel gepriesene Ratio.

Glauben Sie nicht mir. Glauben Sie nicht den „Esoterikern“, „Spiris“ oder anderen fragwürdigen Personen, die Sie wahrscheinlich nicht mögen. Glauben Sie Albert Einstein. Naturwissenschaft, das ist doch etwas Solides, oder? Von Einstein also stammt die Äußerung:

„Das herrlichste und tiefste Gefühl, das wir spüren können, ist die mystische Empfindung. Dort liegt der Keim jeder wahren Wissenschaft. Derjenige, dem dieses Gefühl fremd ist, der nicht mehr von Bewunderung ergriffen oder von Ekstase hingerissen werden kann, ist ein toter Mensch.“

Ebenso wenig verdächtig, ein religiöser Fanatiker zu sein, ist Vincent van Gogh, der wunderbare Maler, der mit seinen Farben Blumen, Felder und den gestirnten Himmel über der Provence zum Leuchten brachte. Ohne von „Mystik“ oder von „Gott“ zu sprechen, macht van Gogh eine ungemein mystische Aussage, wenn er schreibt:

„Es ist richtig, bei dem Glauben zu bleiben, dass alles wunderbar ist, weit mehr, als man begreifen kann; denn das ist die Wahrheit, und es ist gut, feinfühlig und zart von Herzen zu sein, es ist schön, voller Wissen zu sein in den Dingen, die verborgen sind vor den Weisen und Verständigen dieser Welt. Es ist das Bedürfnis nach nichts Geringerem als dem Unendlichen und Wunderbaren, und der Mensch tut wohl daran, wenn er nicht mit weniger zufrieden ist und sich nicht zu Hause fühlt, solange er das nicht errungen hat.“

Die Wolke des Nichtwissens

„Errungen“ — das klingt nach Arbeit. Ich verrate deshalb die vielleicht wichtigste und tröstlichste Einsicht der Mystik zuerst: Das, was gesucht wird, ist immer schon da. Aber diese Erkenntnis hilft dem in einer entzauberten, „kleinen“ Welt wie in einem Käfig eingesperrten Menschen anfangs nur wenig. Zwischen „mir“ und dem Gesuchten liegt eine gefühlte Kluft, die meist als unüberwindlich erlebt wird.

Man kann auch sagen: Da ist ein Nebel, der die klare Sicht auf das Ziel verschwimmen lässt, sodass ich nicht genau sehen kann, was ich suche, ja genau genommen nicht einmal, ob da etwas ist. Die „Wolke des Nichtwissens“ wird dieser Nebel in einer gleichnamigen mystischen Schrift auch genannt. Der Verfasser der Schrift, die um 1390 in England entstand, ist nicht namentlich bekannt. Das klingt nach Sokrates: „Ich weiß, dass ich nicht weiß.“ Und es ist tatsächlich in der Mystik ratsam, sich zunächst einmal mit seinem Nichtwissen zu bescheiden, anstatt Bescheidwissen vorzutäuschen oder in den ausgetretenen Pfaden des von Autoritäten Vorgegebenen zu wandeln.

Der Mystiker kann durchaus als Agnostiker in Erscheinung treten, außer in dem, was er selbst erlebt hat. Und was er erlebt hat, kann er in der Regel nicht sagen. Das, was er präzise mit Worten umschreiben könnte, wäre nicht das Wahre.

Mystiker sind deshalb aus Erfahrung Sprachskeptiker. Der Dichter Hugo von Hoffmannsthal spricht in seinem fiktiven „Brief des Lord Chandos an Francis Bacon“ von einem vollkommenen und schmerzlichen Verlust jeden Vertrauens in die Sagbarkeit der Dinge.

„Es ist mir völlig die Fähigkeit abhandengekommen, über irgendetwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen. (…) Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte ‚Geist‘, ‚Seele‘ oder ‚Körper‘ nur auszusprechen, (denn) die abstrakten Worte, derer sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muss, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze.“

Ein Stummer, der einen Traum hatte

Dieser Sprachverlust ist im Kern eine mystische Erfahrung. Der Fransziskaner-Pater und Buchautor Richard Rohr schreibt über den kontemplativen Geist: „Er weiß: Wenn es wahr ist, spricht es für sich selbst; jede Ausformulierung wäre demgegenüber bruchstückhaft und unvollkommen.“ Rohr beruft sich dabei auf Paulus, der die unvollkommene Wort-Erkenntnis in Kontrast zur vollkommenen und direkten Schau der Mystik setzte: „Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht“ (1. Korinther 13). Der erste Satz des Tao Te King, Lao Tses zeitlosem Meisterwerk, lautet: „Das Tao, das mitgeteilt werden kann, ist nicht das ewige Tao.“ Auch der Zen-Meister Mumon beschreibt die schwierige Situation eines Menschen, der „es“ erfahren hat, darüber aber nicht zu reden vermag:

„Du wirst dich fühlen wie ein Stummer, der einen Traum gehabt hat: Sprachlos kennst du ihn nur für dich selbst.“

So muss eine seriöse Abhandlung über Mystik seine Leser auch paradoxerweise zunächst frustrieren. Der Autor muss Zweifel daran wecken, dass er seinen Gegenstand überhaupt angemessen vermitteln kann. Sprechen wird er dennoch, jedoch stets im vollen Bewusstsein der Unzulänglichkeit seiner Mittel. Statt von „Agnostizismus“ oder „Sprachskepsis“ kann man dabei auch von „Demut“ sprechen. „Die echten Mystiker sind immer demütig und mitfühlend, denn sie wissen, dass sie nichts wissen“ (Richard Rohr in „Pure Präsenz“).

Höher als jede Vernunft

Natürlich wird das Schweigen nicht immer konsequent durchgehalten — gäbe es sonst mystische Schriften? Die allerdings haben mit Poesie oft mehr zu tun als mit Sachtexten. Spontan stellen sich beim Versuch, Unsagbares für Außenstehende erahnbar zu machen, Metaphern, Vergleiche und Mehrdeutigkeiten im Sprachgebrauch ein. Diese machen es fast unmöglich, einen mystischen Text auf eine einzige, klar umrissene Bedeutung festzulegen. Entsprechend bedeutet Mystik auch eine klare Absage an jedweden wortklauberischen Fundamentalismus. Den bezeichnet Richard Rohr als „Folge dieses falschen Sehens. Es handelt sich im Grunde um eine Liebesaffäre mit Worten und Vorstellungen von Gott anstatt mit Gott selbst“.

Der Sprachkritik in der Mystik gesellt sich als logische Erweiterung auch die Vernunftkritik bei. Dabei geht es nicht darum, unserer Ratio die ihr gebührende Anerkennung in einem bestimmten begrenzten Wirkungsbereich zu verweigern. Für die Bewältigung des Alltagslebens ist sie ebenso nützlich wie für das Verständnis von Physik und Technologie. Im Übrigen hilft sie auch dabei, Fanatismus und Aberglauben zu durchschauen, die — entgegen religionsfeindlicher Vorurteile — eben keine Kennzeichen einer mystischen Welthaltung sind.

Wichtig ist es nur, zuzugestehen, dass ein der Vernunft nicht mehr zugänglicher Bereich existiert, ein sie Übersteigendes. Dies hat nichts mit dem „Sacrificium intellectus“ (Opfer des Verstandes) im Sinne des Buckelns vor einer religiösen Obrigkeit zu tun; eher mit jenem schönen Wort vom „Frieden Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft“.

Man kann dieses „Höhere“ auch nicht erreichen, indem man durch ein Abonnement von Lehrbriefen oder durch Debattierseminare auf einer Stufenleiter der Einweihung emporsteigt. Vielmehr geht es um eine prinzipielle Schranke für den Verstand.

Das Kosten der Dinge von innen

Wenn es die Wahrheit ist, scheitert man meist an dem Versuch, es zu erklären. Das bedeutet nicht, dass das Ziel der Mystik für immer unzugänglich bleiben muss, es ist dies eben nur für unseren Intellekt. Gibt es demnach eine andere Kraft, der dies gelingen kann? Ignatius von Loyola, der Gründer des Jesuiten-Ordens, schrieb dazu: „Nicht das Vielwissen sättigt die Seele und gibt ihr Genüge, sondern das Fühlen und Kosten der Dinge von innen.“ Für mich eine der schönsten Definitionen von Mystik. Nicht nur ist die „Vielwisserei“ untauglich, zum Eigentlichen vorzudringen, es ist für den Suchenden sogar ratsam, ganz bewusst eine Haltung des Nichtwissens anzustreben. Das Gefäß muss erst leer werden — leer von Dingen, die wir zu wissen glauben —, bevor es neu befüllt werden kann.

Johannes vom Kreuz, der große spanische Mystiker und Weggefährte Theresa von Avilas, fasste es so in Worte:

„Um zu Gott zu gelangen und mit ihm sich zu vereinen, muss die Seele mehr durch Nichtverstehen als durch Verstehen, in einem Vergessen aller Geschöpfe wandeln. Denn das Veränderliche und Begreifliche an den Geschöpfen muss vertauscht werden mit dem Unbegreiflichen: mit Gott.“

Es mag gerade für gebildete Menschen frustrierend wirken, wenn auf diese Weise das mühsam angehäufte Wissen, der angeschwollene Intellekt an Wert zu verlieren scheinen. Manche werden in solchen Aussagen eher die Tricks religiöser Fanatiker sehen, um Skeptiker davon abzuhalten, ihren kritischen Verstand zu gebrauchen. Aber eben um Propaganda im Sinne religiöser Glaubenslehren geht es in der Mystik nicht. Vielmehr sträubt sich die aus eigenem innersten Erleben geschöpfte Spiritualität schon immer gegen jeden Vereinnahmungs- und Deformationsversuch seitens religiöser Autoritäten.

Wenn Worte verstummen

Ausdrücklich umfasst mystische Kritik an angesammeltem Verstandeswissen ja auch das Studium der Theologie und aller Arten von religiösen Schriften. Radikal ist darin zum Beispiel Yoka Daishis Schrift „Shodoka — Gesang vom Erkennen des TAO“, eine aufs Äußerste konzentrierte Quellschrift des Taoismus.

„Seit meiner Jugend habe ich Wissen angehäuft, / Habe Sutren und Kommentare durchforscht, / Teilte alles in Namen und Formen ein — pausenlos, ohne zu ruhn. / Doch es gleicht einem Sprung ins Meer, um den Sand zu zählen. Umsonst habe ich mich völlig erschöpft.“

Oder in einem Gedicht des deutschen Frühromantikers Novalis:

„Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren / Sind Schlüssel aller Kreaturen / Wenn die, so singen oder küssen, / Mehr als die Tiefgelehrten wissen (…).“

In zwei „Disziplinen“, die den meisten Menschen vielleicht vertrauter sind als Mystik, wird das Konzept des „Transrationalen“ (des die Ratio Übersteigenden) besonders schön erfahrbar: in der Liebe und in der Musik.

Gustav Mahler hat dieses Konzept in seiner 3. Symphonie beispielhaft in Töne umgesetzt. Er entwarf dafür in sechs Sätzen eine große Erzählung über die Evolution des Lebens. Die Sätze waren in einem älteren Entwurf wie folgt betitelt: „Pan erwacht. Der Sommer marschiert ein“, „Was mir die Blumen auf der Wiese erzählen“, „Was mir die Tiere im Walde erzählen“, „Was mir der Mensch erzählt“, „Was mir die Engel erzählen“, „Was mir die Liebe erzählt“. Die Musik des „Pan-“, des „Blumen“- und des „Tier“-Satzes bleiben bei Mahler wortlos, während für den „Menschen“ und die „Engel“ das gesprochene Wort — gesungen von Solisten und Chören — einfließt. Im letzten Satz, einem der schönsten Mahlers, verstummt das Wort wieder. In solche Höhen können Verstand und Sprache nicht mehr vordringen. Die Liebe — wohl die göttliche Liebe — ist jenseits des Sagbaren. Die Musik kann jedoch eine Ahnung von ihr vermitteln. Es liegt in der Natur der Sache, dass ich Mahlers Musik hier auch nicht angemessen beschreiben kann, man muss sie hören.

Toleranz und Pluralismus in der Religion

Gerade wenn man Religionen aus politischer Perspektive betrachtet, ist es wichtig, die Sprach- und Verstandeskritik der Mystik zur Kenntnis zu nehmen. Vor ihrem Hintergrund verbietet sich eigentlich jegliche Wortklauberei. Worte eignen sich dazu, Menschen voneinander zu trennen und sie gegeneinander aufzubringen, während das „eigentlich“ Gesagte sie in der Tiefe verbinden könnte.

Mystik ist vielleicht die älteste Form von Religion, zugleich aber auch diejenige, die am besten mit modernen Auffassungen von Toleranz und Pluralismus vereinbar ist. Sie kann schwer mit einem „gläubigen Atheismus“ koexistieren, der gleichsam die Existenz einer Erdbeere leugnet, ohne bereit zu sein, sie selbst zu kosten. Sehr gut ist sie aber mit einem weitblickenden, freilassenden Agnostizismus vereinbar.

Alle, die sich mit dem Reden von „Gott“ nicht anfreunden wollen, können sich damit trösten, dass es Formen der Mystik gibt, die ohne „ihn“ auskommen. Zunächst ist da ein Grundgefühl, im Sinn van Goghs dem „Unendlichen und Wunderbaren“ besonders nah zu kommen, in manchen Momenten gleichsam von ihm angesprungen zu werden, sodass sich das Wahrgenommene in einem besonderen Leuchten offenbart. Nicht umsonst gibt es Naturmystik wie auch sexuelle Mystik, mystische Erfahrungen im Zusammenhang mit Musik (als Interpret oder Hörer), mystische Träume und Gipfelerfahrungen, für die ein Name nicht auffindbar und auch nicht notwendig ist. Andere Formen der Mystik, speziell im Buddhismus, kommen ohne ein personales Gegenüber aus, ohne dass es ihnen deshalb an Tiefe fehlen würde. Bei den Hindus ist die Behauptung gängig, dass jeder Mystik eine ursprüngliche Einheit von Einzelseele („Atman“) und Weltseele („Brahman“) zugrunde liegt.

Wer den Begriff „Gott“ nicht außen vorlassen möchte, sollte sich aber bewusst machen, dass er eher einen Fragenkomplex als eine definitive Antwort umreißt, eher ein großes Rätsel als eine klar umrissene, für alle verbindliche Lösung. Abseits von Glaubensvorstellungen und verschiedenen kulturellen, zeitbedingten „Eintrübungen“ ist Mystik das Kosten der Dinge von innen. Jeder — ob „gläubig“ oder „ungläubig“ — ist dazu prinzipiell in der Lage, und dies ist das Verbindende, zugleich Revolutionäre daran.


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