Aaron Richter
„Ich habe einen ganz einfachen Geschmack: Ich bin immer mit dem Besten zufrieden.“ So leicht wie Oscar Wilde, von dem dieses Zitat stammt, kann es sich leider nicht jeder machen. Leser der NachDenkSeiten, mit ihrer traditionell links-liberalen Ausrichtung, wissen das. Es steckt aber noch etwas anderes in diesem Zitat, das tatsächlich wegweisend ist, nämlich der Wille zum eigenmächtigen Urteil.
Doch was „das Beste“ ist, hing in der britischen Adelsgesellschaft des 19. Jahrhunderts eben nicht nur vom Blickwinkel Oscar Wildes ab, sondern ganz wesentlich auch von dem seiner Freunde und Rivalen. Die letzteren hielten es irgendwann für das Beste, den Herrn Wilde nicht mehr im Lande zu haben.
So ist das Urteilen also eine knifflige Angelegenheit. Wie können wir darauf vertrauen, dass unsere Ansichten gut fundiert sind und Anklang bei unseren Mitmenschen finden? Ja, wie läuft der Urteilsprozess eigentlich ab? Und was können wir daraus über unseren Umgang mit Medien lernen?
Die Suche nach einer Antwort führt uns an einen amerikanischen Universitätscampus im Herbst des Jahres 1970. Damals hielt Hannah Arendt, einst aus Nazi-Deutschland emigriert und schließlich an der New School for Social Research in New York angekommen, eine Vorlesung über Immanuel Kants „politische Philosophie“. Das hätte dem Königsberger Philosophen, der seine Heimatstadt wohl nie verlassen hat, gar nicht gefallen. Der Aufklärung war er zwar zweifelsohne verpflichtet; als politische Aufgabe hätte er dies aber nicht verstanden. Während Kant sich eher als Weltbetrachter wahrnahm, ging Arendt von sich als Weltbürgerin aus — das Urteil war für sie nur der erste Schritt vor dem Handeln.
Eben diese sozial-politische Komponente wollte Arendt knapp 200 Jahre nach Kants „Kritik der Urteilskraft“ in einer eigenen Schrift hervorheben. Doch 1975, in Arendts Todesjahr, blieb von diesem Ansatz nur die Titelseite in ihrer Schreibmaschine zurück. Dass wir heute von ihrer Kritik an Kant lesen können, ist nicht zuletzt der oben erwähnten Vorlesungsreihe zu verdanken (1). Und diese Erkenntnisse lassen sich auch anwenden, wenn es um die Beurteilung von Medieninformationen geht. Auf das Wesentliche heruntergebrochen, sieht der Urteilsprozess in Anlehnung an die beiden Philosophen wie folgt aus:
- Imagination. Ich konfrontiere mich mit einem Gedanken und stelle sicher, dass ich ihn verstehe. Die Imagination ist, bildlich gesprochen, das innere Abbild eines Gedankens, den ich in mich aufnehme. Ich gehe davon aus, dass er falsch oder richtig, nützlich oder schädlich, schön oder hässlich sein könnte. Doch beurteilen kann ich das erst, wenn ich ihn durchdacht habe.
- Reflexion. Ich frage mich: Wie passt der Gedanke zu meinen bisherigen Erfahrungen, Überzeugungen und Wertvorstellungen? Fügt er sich nahtlos ein oder fordert er mich heraus? Welche Emotionen löst er aus?
- Erweiterte Denkungsart. Ich gehe über mich hinaus und reflektiere die Perspektiven anderer: Wie könnte jemand anderes den gedanklichen Gegenstand betrachten? Wie könnte meine Interpretation des Gegenstands herausgefordert werden? Hält sie einer solchen Herausforderung stand? So möchte ich andere Standpunkte integrieren, auf dass ein besserer entstehe. Ich räume anderen Standpunkten prinzipiell die Autorität ein, meine bisherigen Überzeugungen umwerfen zu können. Wiederhole ich diesen Prozess regelmäßig, nenne ich ihn mit Arendt und Kant „erweiterte Denkungsart“ (2).
- Präzisierung meines Standpunktes. Nachdem ich den Gegenstand betrachtet, reflektiert und durch die Augen anderer gesehen habe, passe ich meinen Standpunkt an die neuen Erkenntnisse an. Arendt nannte das, was auf diese Weise immer erneut entsteht, nur eben verfeinert, den „Generellen Standpunkt“.
Was hat nun all dies mit den NachDenkSeiten zu tun? Nun, ganz einfach: Ohne unabhängige Medien wie sie wäre der gesamte politische Urteilsprozess gebremst.
Die derzeitige Diffamierungskampagne gegen die NachDenkSeiten hat schließlich zum Ziel, bereits den ersten Schritt der Urteilskette zu unterbinden. Es geht ihren Urhebern gerade nicht um einen pluralen Diskurs, in dem das bessere Argument gewinnt. Es geht stattdessen darum, einen Akteur aus dem Meinungsspektrum auszuschließen wie Oscar Wilde aus der englischen Gesellschaft.
Dass nicht alles, was in einem Medium erscheint, der Weisheit letzter Schluss ist, gehört zur Realität der Massenmedien. Das passiert auch und vor allem in jenen Medien, die jetzt gegen die NachDenkSeiten Stimmung machen. Ich erinnere in diesem Zusammenhang nur an die Süddeutsche Zeitung, die während der Coronakrise allen Ernstes titelte: „Mehr Diktatur wagen“.
Medienkritik gehört zum Alltagsgeschäft, und das ist gut so. Denn wenn sie fleißig geübt wird, ist das nichts anderes als die breit angelegte erweiterte Denkungsart. Ebenso wie der Wille zum eigenen Urteil entspricht der sachgemäße Austausch von Informationen dem Wesen der Demokratie. Wer ihn aber unterbinden will, indem er den Meinungsgegner seiner Würde beraubt, betreibt das Gegenteil.
Roberto De Lapuente
Als die NachDenkSeiten vor 20 Jahren an den Start gingen, kam ich — wie so viele — gewissermaßen aus der Spaßgesellschaft. Als in den Neunzigern sozialisierter Mensch hielt das neue Jahrtausend recht schnell nicht das, was man uns versprochen hatte. Die Welt wurde zunehmend enger — man rückte zusammen, auch in den Denkvorgaben. Die Welt, die ich kannte, war geprägt von Love Parade und Party, dann schlug die Realität ein. In die Zwillingstürme, die dann den Überwachungsstaat gebaren. Sie schlug auch in meinem Leben ein.
Arbeitslosigkeit: Denn damit hatte ich es plötzlich zu tun. Parallel dazu formierten sich Arbeitsmarktreformen. Hartz IV ließ noch auf sich warten, stand aber in den Startlöchern: Wie man künftig als arbeitender Mensch zu sein habe, erklärten die Medien jeden Tag — mobil, flexibel, allzeit erreichbar: Nur so könne der Standort Deutschland gerettet werden. Ich war jung, fühlte mich überfordert — werde ich bald meine bayerische Provinzheimatstadt verlassen müssen, um in Zinnowitz, Merzig oder Aurich Geld verdienen zu können?
Irgendwann 2004 wies mich ein lieber, nicht mehr unter uns weilender Mensch auf Albrecht Müller und seine NachDenkSeiten hin. Die Entdeckung ging mit Müllers Buch „Die Reformlüge“ einher. Beides waren Offenbarungen, ordneten mein junges Gemüt neu. Ich war jung, mein Kopf voller Gedanken, die ich aus Mangel an Lebenserfahrung als mir exklusiv betrachtete. Denkt denn keiner wie ich? Doch, viele sogar. Nachzulesen unter: www.nachdenkseiten.de
Wie gesagt: Eben war mein Dasein noch von der Lebensfreude der Neunziger geprägt; mein Leben lag vor mir, Chancen hat man mir versprochen — und plötzlich verbiesterte die Gesellschaft. Als Arbeiter, der ich war — ich war gelernter Schlosser —, sollte ich mich nun anbiedern, stets verfügbar sein, länger arbeiten, weniger verdienen, ständig mit Arbeitslosigkeit konfrontiert sein. Neoliberalismus nannte sich dieses verdammte Konzept. Ich wusste das nur noch nicht. Bis ich die NachDenkSeiten entdeckte.
Dieser Tage werden sie vielen Angriffen ausgesetzt. Markus Linden, Auftragsschreiber des Zentrums Liberale Moderne, setzte erst kürzlich wieder in der Zeit an: „Wagenknechts Schreibbrigade“, titelte er. Ein solcher Angriff auf die NachDenkSeiten ist immer auch ein Angriff auf mich — denn ich fühle mich diesem Projekt verpflichtet. Es hat mich politisch geprägt. Mir Orientierung geliefert. Mal mehr, mal weniger. 20 Jahre sind eine lange Zeit, es ist normal, dass während dieser Zeit Entfremdungen und Annäherungen stattfinden. Meine Zuneigung stellte das jedoch nie in Frage.
Vergessen werde ich nie, dass ich als politischer Mensch bin, was ich bin, weil es die NachDenkSeiten gibt.
Ich umarme euch, liebe NachDenkSeiten, in Freundschaft, Dankbarkeit und Respekt. Danke für alles. Vielleicht sollte auch mal jemand Markus Linden umarmen. Mir schwant, er könnte das brauchen.
Nicolas Riedl
Karl Valentin wird das Zitat nachgesagt: „Wo alle dasselbe denken, wird nicht viel gedacht.“ Wo es an verschiedenartigen Gedankenanstößen mangelt, da verarmt zugleich die Vielfalt des Gedachten. Bereits vor zwanzig Jahren — als die leitmediale Landschaft im Vergleich zur heutigen Gedankenwüste noch geradezu ein geistiges Eldorado darstellte — gründeten sich die NachDenkSeiten im damals noch zu Recht als „Neuland“ zu bezeichnenden Internet. Ein kritischer Blog im Netz als Gegengewicht zu den damals noch auflagenstarken Leitmedien-Blättern, gegründet und herausgegeben von einem altgedienten Sozialdemokraten – das muss damals in dieser Form ein Novum gewesen sein.
Ich sage hier bewusst „muss“ — denn selbst habe ich es nicht erlebt. Als die NachDenkSeiten gegründet wurden, war ich gerade einmal 10 Jahre alt und drückte noch die Grundschulbank. Politik — damit verband ich lediglich irgendwelche Anzugträger, die allabendlich durch unseren Röhrenfernseher liefen. Das, was gemeinhin als „Alternativmedien“ bezeichnet wird, war ein neuartiges Phänomen, mit dem ich erst mit Anfang 20 und damit im Montagsmahnwachen-Jahr 2014 in Berührung kam.
Insofern erfüllt es mich beim Lesen, Anhören oder beim Recherchieren auf den NachDenkSeiten mit einer gewissen Ehrfurcht, wenn ich mir bewusst mache, dass dieses Medium seit nun zwei Dekaden am Start und am Werk ist. Dieses Magazin publizierte schon kritische Inhalte in Zeiten, die im Vergleich zur heutigen „Zeitenwende“ geradezu paradiesisch anmuten. Einen solch hohen Standard an inhaltlicher Qualität und Vielfalt zwei Jahrzehnte konstant zu halten, ist eine beachtliche Leistung. Für ebenso bewundernswert erachte ich den Balanceakt, mit der Zeit zu gehen, ohne dabei dem Zeitgeist zu verfallen. Will heißen, dass die NachDenkSeiten ihre Form modernisiert — neues Seitendesign seit 2018 sowie eine zunehmende Multimedialität in Form von Podcasts —, aber gleichzeitig die zeitgeistliche Tendenz der inhaltlichen Verflachung stets abgewendet haben.
Angesichts dieser Leistung und der Demonstration von aufrechtem Journalismus empört es mich außerordentlich, wie brutal und unverschämt gewisse Institutionen wie das Zentrum Liberale Moderne mit ihrem steuergeldfinanzierten „Gegneranalyse“-Projekt gegen dieses Medium vorgehen. Nicht unerwähnt sollten die auf Existenzvernichtung abzielenden Versuche bleiben, dem Trägerverein „Initiative zur Verbesserung der Qualität politischer Meinungsbildung e.V.“ (IQM) die Gemeinnützigkeit abzusprechen.
Doch diese Angriffe sprechen ganz klar für die NachDenkSeiten. Denn sie zeigen, wie außerordentlich gefährlich dieses Medium für die Diskurshoheit der korporatistischen Oligarchenpresse ist. Die NachDenkSeiten stellen für die angestrebte „Entdimensionalisierung“ des Meinungsspektrums deswegen eine so große Gefahr dar, weil sie so unangreifbar sind. Unangreifbar sind sie ob ihrer Seriosität und Ausgewogenheit. In dieser Kategorie — das muss neidlos anerkannt werden — ist das Magazin von Albrecht Müller der Platzhirsch unter den alternativen und freien Medien. Hier kann man der Redaktion nur schwerlich „Schwurbelei“ unterstellen. Selbst ein oberflächlicher Blick auf die saubere Arbeit belehrt jeden Seitenbesucher eines Besseren. Deswegen müssen die Gegner der NachDenkSeiten in ihrer Gegneranalyse auch irgendwelche „antisemitischen Codes“ aus dem luft- und faktenleeren Raum herbeischwurbeln, die sie den NachDenkSeiten in Ermangelung wahrlicher Gegenargumente andichten.
Aber sprechen wir es doch klar aus:
Wer die NachDenkSeiten zum Gegner erklärt, der erklärt sich selbst zum Gegner von redlichem Journalismus, von Perspektivenvielfalt und von jedwedem Denkprozess als solchem.
Um die Aufmerksamkeit junger Leser wie mich buhlen „Medien für junge Menschen“ wie wats.on oder SZ Jetzt. Doch ich will keine Schrottpresseerzeugnisse, die mir Inhalte „altersgerecht“ mit visueller Zuckerglasur darbieten. Als Leser und Denker möchte ich ernst genommen werden. Und das werde ich auf den NachDenkSeiten. Im Gegensatz zu den Haltungsjournalisten gehen die Redakteure und Autoren der NachDenkSeiten von mündigen Lesern aus. Und das merkt man in jeder Zeile.
Daher verneige ich mich dankbar vor den Leistungen dieses Urgesteins der freien Medien und wünsche selbigem noch viele erfolgreiche Jahrzehnte, in denen weitere großartige Gedankenarbeit in dieses geistige Füllhorn fließt.
Roland Rottenfußer
Ich lese die NachDenkSeiten schon fast so lange wie sie existieren. Konstantin Wecker war es, der mir eine Liste von politischen Webseiten schickte, die ich mir für unser damals gemeinsames Magazin „Hinter den Schlagzeilen“ anschauen sollte. Die „NachDenkSeiten“ waren die beste davon. Ich habe seither nicht mehr aufgehört, sie regelmäßig aufzusuchen.
Politisch gibt es kaum einen Journalisten des „alternativen“ Spektrums, der sich nicht in irgendeiner Weise als „Sohn“ oder „Tochter“ von Albrecht Müller verstehen könnte. Auch Jens Berger und andere Stammautoren schreiben seit vielen Jahren mit großem Fleiß und Spürsinn jede Woche Nachdenkenswertes zu immer relevanten Themen. Die NachDenkSeiten haben das Muster des freien, konzernunabhängigen Journalismus neuen Typs erschaffen.
Ihre Bedeutung ist mit dem sich verfinsternden politischen und medialen Umfeld noch gewachsen. Während andere „linke“ Magazine, die es vor 20 Jahren im Netz gab, über das eine oder andere Thema gut informierten, lenkten die NachDenkSeiten den Blick zurück auf den Journalismus selbst — auf die Art und Weise, wie Informationen ausgewählt und in oft manipulativer Weise zur Menschenbeeinflussung eingesetzt wurden.
Mit den NachDenkSeiten verliert man quasi den „unschuldigen“ Blick des Gläubigen, der „seinem“ Medium vertraut. Man wird ent-täuscht im Sinne der Aufhebung einer das Hirn vernebelnden Täuschung.
Mehr noch als eine Sammlung zutreffender Berichte und Thesen sind die NachDenkSeiten also eine Anleitung zum kritischen Medienkonsum, zum Hinterfragen und Selberdenken. Das so geschulte Bewusstsein hilft mir bis heute sehr beim Umgang mit Mainstream-Nachrichten und auch bei der Arbeit mit meinem eigenen Magazin Manova. Großer Dank und Glückwünsche also zum 20. Jubiläum an das Team der NachDenkSeiten!
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Quellen und Anmerkungen:
(1) Arendts Vorlesung über Kants politische Philosophie ist hier zum Download verfügbar.
(2) Arendt spricht in ihrer Vorlesung von „enlarged thought“, was hier sinngemäß als „erweiterte Denkungsart“ übersetzt wurde.