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Leben geht durch den Magen

Leben geht durch den Magen

Im Interview mit Indra Shekhar Singh erklärt Vandana Shiva die Gefahren, die von amerikanischen Großkonzernen für die Ernährungssicherheit und die Gesundheit der Menschen in Indien und weltweit ausgehen.

Indra Shekhar Singh: Sie wurden mithilfe einer Nichtregierungsorganisation (NGO) von der US-Regierung ins Visier genommen. Diese erstellte eine Liste von Personen, die sich für Ökologie einsetzen und gegen gentechnisch veränderte Organismen (GVO) sowie gegen Pestizide kämpfen. Ihr Name aus Indien stand ganz oben auf dieser Liste. Warum sollte die US-Regierung Sie ins Visier nehmen? Warum gelten Sie als Bedrohung für die Machthaber? Ihre Arbeit betrifft Ökologie, Saatgut und Landwirtschaft. Wie gehen Sie mit dieser Erkenntnis um? Und warum glauben Sie, dass gerade Sie ins Visier geraten sind?

Vandana Shiva: Mich rief ein Journalist an. Es war ein Bericht veröffentlicht worden über einige von uns, die sich für den Schutz der Erde, der Bauern und der Gesundheit der Menschen einsetzen, auf die die US-Konzerne es tatsächlich schon seit Langem abgesehen haben.

Dieses Mal sind sie besser organisiert — eher wie eine Mafia. Denn sie nehmen nicht nur mich ins Visier, sondern auch meine Familie, obwohl diese nichts mit meiner Arbeit zu tun hat. (…) Es auf Menschen abzusehen, die mit mir verwandt sind, ist ein Verbrechen. Das ist ein klarer Verstoß gegen jede Form angemessener Privatsphäre. Sie fragen, warum die US-Regierung das tut? Nun, mit der Globalisierung sind die Grenzen zwischen Regierungen und Unternehmen einfach verschwunden.

Ich habe selbst miterlebt, wie die US-Regierung seit Beginn der Grünen Revolution als verlängerter Arm von Unternehmen agiert. Die grüne Revolution war eine Marketingmaßnahme, die von der US-Regierung, der US-Entwicklungshilfe, der Weltbank usw. vorangetrieben wurde. Dabei habe ich gesehen, wie sie in Wirklichkeit Monsanto vertreten haben.

Unabhängig davon, wer Präsident war und was vor den Wahlen versprochen wurde — am Ende ging es immer nur darum, die Agenda der Konzerne voranzubringen und deren Interessen zu schützen.

Der jüngste Schritt in dieser Angelegenheit ist die Übernahme von Monsanto durch Bayer. Wir hatten ein Monsanto-Tribunal einberufen, um die Verbrechen dieser Konzerne offenzulegen — und diese Verbrechen werden auch ans Licht gebracht. Bayer verliert Milliarden aufgrund des Schadens, den sie verursacht haben, und wegen des bekannten Zusammenhangs zwischen Glyphosat und Krebs.

In den Vereinigten Staaten versuchen sie jetzt Gesetze zu verabschieden für das, was wir als „Freiheit zu schaden“ bezeichnen. Damit wollen sie ermöglichen, die biologische Vielfalt zu zerstören, die Gesundheit der Menschen zu zerstören, die Krebs-Epidemie zu verbreiten, ohne dass jemand sie dafür vor Gericht bringen kann. Sie versuchen, sich abzuschirmen, und greifen zugleich jeden an, der auf den Schaden hinweist. Natürlich bin auch ich ins Visier geraten. Aber ebenso der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, der betonte, dass jedes Jahr rund 200.000 Menschen an den Folgen von Pestiziden sterben.

Diese Pestizide stammen aus dem Krieg — aus Hitler-Deutschland. Auch damals gab es eine enge Partnerschaft: US-Unternehmen wie Standard Oil kooperierten eng mit IG Farben und setzten dieses Kriegsexperiment in der Landwirtschaft fort. Heute jedoch entstehen immer mehr Alternativen.

Wir haben Samen gesammelt, die Artenvielfalt geschützt und gezeigt, dass man durch die Intensivierung der Artenvielfalt tatsächlich mehr Lebensmittel und Nahrung anbauen kann, und dass einheimische Samen bis zu 200 Prozent nährstoffreicher sind.

All diese Beweise kommen ans Licht. Und wenn ich mich recht erinnere, hat ein Anführer dieser Mafia-Gruppe, damals noch bei Monsanto, gesagt: „Wir müssen sie töten, bevor sie uns töten.“ Das ist also ihre Mentalität. Sie handeln wie Kriminelle.

Unsere Aufgabe war es, Indiens reiches landwirtschaftliches Erbe zu bewahren. Von hier aus hat Harvard gelernt und den ökologischen Anbau weltweit verbreitet. Von hier aus hat Steiner gelernt und die biodynamische Landwirtschaft in die Welt getragen. Wir sind also die Heimat einer hochentwickelten Landwirtschaft, die im Einklang mit der Erde arbeitet.

Indra Shekhar Singh: Lassen Sie uns auf die Grüne Revolution eingehen. Heute wissen wir natürlich, dass sie durch US-Hilfsgelder, die US-Regierung und die Rockefellers finanziert wurde — wie Sie in Ihren eigenen Forschungen und in Ihrem Buch „Eine Erde für alle! — Einssein versus das 1 %“ dargelegt haben. Wir sehen, dass die indische Regierung in jüngster Zeit ihre Arme weit öffnet und ausländische Unternehmen einlädt, in das Land zu dringen und etwas umzusetzen, was wie eine ausländische Übernahme indischer Agrarinstitutionen wirkt.

Es ist allgemein bekannt, dass Unternehmen wie Amazon und Microsoft sowie andere Konzerne Exklusivverträge erhalten haben und dass sich hinter den Kulissen des Landwirtschaftsministeriums gewisse Machenschaften abspielen, über die wir jeden Tag lesen. Wir hören von neuen Kooperationsvereinbarungen, neuen Modellen. Wie sehen Sie das? Wenn die indische Landwirtschaft so gut ist — warum sollten wir dann diese digitalen Unternehmen in unsere Landwirtschaft einbeziehen?

Vandana Shiva: Sie beeinflussen politische Entscheidungen und umgehen damit den demokratischen Prozess. Es geht längst nicht mehr um wissenschaftliche Diskussionen, wie wir sie über die genmanipulierte BT-Aubergine geführt haben. Diese Aubergine enthält ein Gen des Bakteriums Bacillus thuringiensis (kurz: BT), das dafür sorgt, dass die Pflanze ein Insektengift produziert und so resistent gegen Schädlinge ist. Auch dieses Projekt war von der US-Regierung und Harvard finanziert worden. Ich denke, das liegt daran, dass man Technologie nicht mehr als Werkzeug versteht — nicht begreift, dass die Digitalisierung nur ein neues Werkzeug der Kontrolle und Kolonisierung ist.

Es umgeht sämtliche Gesetze, die wir zum Schutz der Saatgutsouveränität sowohl auf internationaler als auch auf nationaler Ebene erlassen haben. All dies wurde zusammengetragen, um die Souveränität über Saatgut und Biodiversität zu verteidigen — und digitale Giganten wie Microsoft sind dabei führend. Das wird in meinem Buch „Einssein versus das 1%“ beschrieben, das ich gemeinsam mit meinem Sohn geschrieben habe.

Bill Gates hat technologische Hilfsmittel wie die Digitalisierung genutzt, um formale Genehmigungen zu umgehen. Dabei führte er digitale Genomkartierungen an teilweise gestohlenem Material durch und sicherte sich auf diese Weise Patente. Die digitale Landwirtschaft ist eine neue Form des Raubbaus — eine neue Art des Datenraubs von Landwirten. Gates finanziert tatsächlich Menschen, die auf Bauernhöfe gehen und Fotos von Anbaupraktiken machen und sogar die Topographie der Felder dokumentieren.

Anschließend können sie die gesammelten Daten zusammenführen und über intelligente Programme an die Landwirte zurückverkaufen. Auf diese Weise wird der Landwirt instrumentalisiert und oft als inkompetent dargestellt — durch das Ausspähen seiner Arbeit, das Abgreifen seiner Daten und quasi das Stehlen ihres Wissens.

Wenn man Drohnen einsetzt, gibt es nur zwei Dinge, die eine Drohne tun kann. Erstens: Pestizide versprühen. Selbst wenn Pestizide schädlich sind, werden sie dennoch ausgebracht. Wenn man sie aus der Luft versprüht, zerstört man nicht eine Farm. Man zerstört alle benachbarten Bauernhöfe — ohne deren Zustimmung und Beteiligung. Die negativen Folgen sind daher eng mit dem großflächigen Versprühen von Pestiziden verbunden.

Nur weil eine Drohne per Klick gesteuert werden kann, darf man nicht vergessen, dass das eingesetzte Sprühmittel giftig ist und zu Vergiftungen und langfristig auch zu Krebs führen kann.

Der zweite Aspekt ist die Überwachung. Wie es aussieht, besitzen wir viele kleine Farmen, und die Veränderungen in den Daten sind gering. Sobald unsere Landdaten digitalisiert sind, wird es sehr einfach, Eigentumsrechte auszuhebeln. Genau das haben die Briten getan: Unser Land war früher Gemeindeland. Die Gemeinschaft regelte alle Konflikte. Niemand durfte Land für sich allein beanspruchen.

Mit der Kolonialherrschaft wurde Land zu Privateigentum erklärt und institutionalisiert. Jetzt wollen sie diese neuen Instrumente nutzen, damit die Mächtigen nicht nur den Landbesitz definieren können, sondern all dies für den neuen Trick nutzen können, der gerade entwickelt wird.

Ein Beispiel ist der sogenannte Klimaschutz: Sie verschmutzen — und verschmutzen immer weiter. Die Reichen, die Barone haben ihre Privatjets und verursachen 60 Prozent der Emissionen. Und dann versuchen sie, Land für Ihre Ausgleichszahlungen zu kontrollieren. Tut mir leid: Räumt euer Chaos selbst auf. Es gibt nur ein einziges Umweltprinzip — Der Verursacher zahlt. Wer die Verschmutzung verursacht, darf nicht diejenigen dafür bezahlen lassen, die nie verschmutzt haben. Und er darf sich nicht noch mehr Ressourcen aneignen. Das sollte niemand vergessen. Weil Bill Gates zum größten Landbesitzer Amerikas geworden ist.

Etwa zu der Zeit, als sich Covid ausbreitete, sagte er im Grunde genommen: Jetzt werde ich eine neue Landwirtschaft schaffen. Sein Büro befindet sich neben dem Hauptsitz von Monsanto in Missouri. Sein Ziel ist eine einzige Landwirtschaft für die ganze Welt — und Lebensmittel zu produzieren. Er selbst hat jedoch kein Interesse an Landwirtschaft im eigentlichen Sinne.

Indra Shekhar Singh: Wie ich Sie verstehe, wird es eine neue digitale Diktatur in der Landwirtschaft geben, deren Grundlagen gerade in diesem Moment langsam gelegt werden.

Vandana Shiva: Sie haben vollkommen Recht. Folgen Sie einfach einigen Aussagen von Gates aus den letzten Wochen (Ende 2024). Er sagte wörtlich, Indien müsse sein Saatgut ändern — obwohl alle Beweise dafür vorliegen, dass wir nicht nur die größte Vielfalt der Welt haben, sondern dass unser Saatgut von den Bauern auf Geschmack, Qualität, Nährwert und Widerstandsfähigkeit hin gezüchtet wurde. Wir haben klimaresistentes Saatgut bewahrt.

Er stiehlt es einfach. Zuerst sollen die Samen verändert werden. Dann behauptete er, die Menschen wüssten nicht, wie sie ihre Kinder ernähren sollten — also werde er entscheiden, was die Menschen in Indien zu essen bekommen. Das sollten die Menschen niemals vergessen. Ein großer Teil seines neuen Imperiums besteht inzwischen aus Big Food. Er hat eine neue Initiative namens Bio Milk ins Leben gerufen, die im Labor Muttermilch herstellen soll.

Die Babynahrung von Nestlé hat bereits früher für Chaos gesorgt. Man kann sich leicht vorstellen, dass dies keine Lösung für das Klima ist — denn es gibt keine größere Nähe als die zwischen einem Baby und seiner Mutter. Dennoch will Gates ein Produkt auf den Markt bringen, das über Monate transportiert wird, nie ausreichend für Babys getestet wurde und die natürlichste Nahrung ersetzen soll, obwohl wir wissen: Die erste Nahrung ist die gesündeste. Im Grunde übernimmt er die Kontrolle über die Agrarforschung.

Er übernimmt auch die Kontrolle über unsere Vorstellungen von Nahrung. Ich bin müde. Natürlich übernimmt er letztlich die Kontrolle über unsere Politikgestaltung. Und genau darin liegt die Herausforderung für die indische Demokratie und das Erbe Indiens als Zivilisation, denn Indien ist eine Agrarzivilisation. Wir haben eine vedische Zivilisation. Wir wissen, wie man isst. Unsere Landwirte wissen, wie man Lebensmittel anbaut, um 1,4 Milliarden Menschen zu ernähren — das ist keine Kleinigkeit.

Dieses Erbe für die Experimente eines Einzelnen mit Füßen zu treten, der erst 2019 in die Landwirtschaft eingestiegen ist, ist schlicht unverantwortlich. Deshalb sage ich den Bauern Indiens: Bleibt stark!

Indra Shekhar Singh: Apropos Saatgut: In Indien ist gerade eine Debatte über gentechnisch verändertes Saatgut wieder aufgeflammt. Der Premierminister kündigte an, dass 126 oder sogar 130 klimaresistente Saatgutsorten eingeführt werden sollen. Die Leute aus der Landwirtschaft waren ziemlich schockiert, dass man in so kurzer Zeit so viele Samen produzieren und dann gleichzeitig die neue Politik einführen konnte.

Haben Sie irgendwelche Kommentare zur neuen Politik zu gentechnisch veränderten (GV) Kulturpflanzen? Wohin gehen wir? Und sollten diese beiden Nachrichten miteinander in Verbindung gesehen werden: Die Ankündigung des Premierministers, 130 klimaresistente Sorten einzuführen, und die nationale Debatte über gentechnisch verändertes Saatgut, die gerade stattfindet? Werden wir zu gentechnisch veränderten Pflanzen gedrängt, obwohl die Welt sie ablehnt?

Vandana Shiva: Ich habe angefangen, Samen zu sammeln, nachdem die Industrie bei dem Treffen 1987 verkündet hatte, sie werde Gentechnik einsetzen, um sich das Saatgut anzueignen. Damit sollten Lizenzgebühren erhoben und Monopole geschaffen werden. Am Ende wären es dann fünf Unternehmen, die den gesamten Saatgutmarkt und den gesamten Agrochemikalienmarkt weltweit kontrollieren.

Sie wollen das Völkerrecht für ihre Zwecke nutzen — insbesondere die Trade-Related Intellectual Property Rights (TRIPS) der Welthandelsorganisation (WTO) (1). Indien hat eine wichtige Rolle dabei gespielt, dieses unrechtmäßige Monopol infrage zu stellen, denn Saatgut ist kein Industrieprodukt, kein Industrieerzeugnis. Ein Unternehmen stellt keinen Samen her. Samen entstehen durch Evolution. Man kann sie ein wenig verändern, hybridisieren oder ein Gen mit einer Genkanone hinzufügen, aber man kann das Saatgut nicht von Grund auf neu erzeugen. (…)

Wir haben eine Liste mit 2.500 raubkopierten klimaresistenten Nutzpflanzen erstellt, bei denen die Unternehmen lediglich die Genomkartierung durchführen. Sie nehmen beispielsweise tausend Samen salztoleranter Reissorten und erstellen daraus einfach eine allgemeine Kartierung, wobei nur ein Teil des Genoms berücksichtigt wird.

Aber jeder lebende Organismus ist eine komplexe Selbstorganisation, in der jedes Gen mit jedem anderen Gen verbunden ist. Jedes Merkmal wird durch mehrere Gene bestimmt.

Jedes Gen trägt zu mehreren Merkmalen bei. Dieses lineare, eindimensionale Denken des genetischen Determinismus ist einfach so veraltet — doch darauf basiert das ganze Vorgehen. Es ist einfach, einer Institution Geld zu geben, einige Personen darin zu schulen, die Maschinen zu bedienen, und dann die entstehenden Muster zu leiten.

Wir, als alte Agrarkultur, die die reichhaltigste Vielfalt an Nutzpflanzen entwickelt hat, besitzen das Wawilow-Zentrum für die meisten Nutzpflanzen (2), doch wir geben all das an einige wenige Piraten von heute ab.

Nein, als eine alte Zivilisation können wir uns das nicht antun — vor allem nicht, wenn wir behaupten, unser Erbe zu schützen. Weiterhin entpuppt sich alles, ob es nun die Grüne Revolution oder die Biotechnologie ist, als gescheitert. Wir sind uns der Monopolstellung großer Unternehmen bewusst, sei es Amazon oder Microsoft. Microsoft wurde vom US-Kongress bereits wegen eines Kartellrechtsverstoßes vor Gericht gestellt.

Bill Gates ist bekannt dafür, als „Pirat“ zu agieren — so gründete er Microsoft. Nun weitet sich dieses Vorgehen auf die Bereiche Biodiversität, Saatgut und Landwirtschaft aus. In einem Land wie Indien, das so reich an Ressourcen ist, ist es unmoralisch, wenn Menschen und Behörden — egal ob lokal, regional oder national — die Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs ignorieren und ihre verfassungsmäßigen Pflichten nicht erfüllen.

Indra Shekhar Singh: Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf Systemen und deren Funktionsweise. Glauben Sie, dass die Regierung genug getan hat, um den ökologischen Landbau, die ökologische Landwirtschaft und die natürliche Landwirtschaft im Land zu fördern? Und gibt es Ihrer Meinung nach irgendwelche Anzeichen oder sichtbare Erfolge in diesem Bereich?

Vandana Shiva: Zunächst einmal gibt es genügend wissenschaftliche Belege dafür, dass GVO und Bio-Anbau nicht koexistieren können. Deshalb lassen die internationalen Standards für die Bio-Zertifizierung keine GVO zu. Alles, was exportiert wird muss einen GVO-Test durchlaufen. Jetzt versuchen einige, herbizidtoleranten Basmati-Reis durchzusetzen, wodurch eine der beliebtesten Kulturpflanzen zerstört wird. Dieses Herbizid ist bekannt dafür, Blasenkrebs und Darmkrebs zu fördern. Warum vergiften wir unser Nahrungsmittelsystem?

Wir wissen, wie man Landwirtschaft betreibt, verstehen, was Lebensmittel sind, wie Gesundheit mit Ernährung zusammenhängt, und kennen die Konsequenzen.

Wir brauchen auf jeden Fall ein Weißbuch, nicht nur zugewiesene Budgets. Budgets sind so einfach zuzuweisen und ebenso leicht verschwinden sie. Ein Weißbuch hingegen würde dem Parlament klar aufzeigen, welche Förderprogramme tatsächlich umgesetzt wurden. Das betrifft insbesondere die natürliche Landwirtschaft. Wir haben diese Maßnahmen durchgeführt und müssen dem Parlament auch die Möglichkeit zu Besichtigungen geben. (...)

Ich denke, wir brauchen jetzt einen Ausschuss, der sowohl das tatsächliche Potenzial ökologischer Systeme als auch die Regierungsprogramme untersucht und prüft, ob diese Ergebnisse erzielt haben oder nicht. (…)

GVO und ökologischer Landbau lassen sich nicht miteinander vereinbaren. Man kann sich nicht an einem Tag für natürliche Landwirtschaft engagieren und am nächsten Tag GVO einsetzen. Wissenschaftlich und ökologisch ist das nicht haltbar. Es muss daher Konsistenz herrschen und ein klares Bekenntnis erfolgen.

Ich denke also, dass die Menschen sich selbst entscheiden müssen, aber wir brauchen auf jeden Fall dieses technische Expertenkomitee. Es waren die bedeutendsten Wissenschaftler, die diese Disziplin ins Leben gerufen haben. Wir brauchen Respekt für die bestehenden parlamentarischen Ausschüsse sowie die Schaffung eines neuen ständigen parlamentarischen Ausschusses, der sich mit diesen äußerst wichtigen Studien zu Wissenschaft und Technologie befasst. So stellen wir sicher, dass die zentralen Themen der Landwirtschaft — in Indien und weltweit — nicht in Vergessenheit geraten.

Besonders für Indien ist das entscheidend. In den letzten 40 Jahren haben Bewegungen wie diese unsere 4.000 Reissorten erhalten. So kann die Zukunft gesichert werden. Genau diese Vielfalt wollen einige raubkopieren. Warum sollte eine verantwortungsbewusste Regierung den Landwirten verbieten, ihr eigenes Saatgut für ihr eigenes Wohl zu verwenden — und stattdessen Piraten erlauben, Patente zu erwerben und Lizenzgebühren zu verlangen?. Wir haben gesehen, welche Folgen dies während der BTI-Krise (3) hatte: Selbstmorde, Verzweiflung und schließlich das Scheitern des Systems. Das Akzeptieren wiederholter Misserfolge ist kein wissenschaftlicher Ansatz.

Auf meinem Tisch liegt ein neuer Artikel über die Art von Wissenschaft, mit der ich mich beschäftige. Sie zeigt sich hier in der Natur. Die Natur sagt: Bitte studiert, benutzt alles. Anstatt Pestizide einzusetzen, könnt ihr Ernteschäden reduzieren, indem ihr die Wissenschaft nutzt.

Lasst die besten Insekten gedeihen, damit auch die Pflanzen gedeihen. Ihr braucht keine Gifte. Wir brauchen also eine giftfreie Zukunft.

Indra Shekhar Singh: Die Regierung kann eine sehr wichtige Rolle dabei spielen, die Ökologie tatsächlich voranzubringen und zu den traditionellen indischen Anbaumethoden zurückzukehren. Die Regierung könnte dies ändern, wenn sie das Mandat und den politischen Willen dazu hat. Glauben Sie, dass eine Preisuntergrenze oder ein Mindeststützungspreis (MSP) (4) für ökologisch angebaute private Kulturen oder für Landwirte, die ökologischen Landbau oder biologischen Landbau betreiben, diese Bewegung tatsächlich im ganzen Land fördern könnte?

Vandana Shiva: Ein fairer Preis ist ein Mindeststützungspreis. Monsanto wollte dieses Gesetz abschaffen, weil es dazu diente, die Saatgutpreise für Baumwolle zu regulieren und zu senken. Die Regulierung eines chaotischen Marktes ist also eine absolute Verantwortung — insbesondere bei lebenswichtigen Gütern wie Nahrung. Das ist nicht nur für die Erzeuger wichtig, die einen fairen Preis erhalten, sondern auch für die Mehrheit der Bevölkerung von entscheidender Bedeutung.

Schließlich haben 80 Prozent der indischen Bevölkerung kostenlose Lebensmittel erhalten. Nun möchte man sie in den Markt integrieren.

Wenn man sich heute nicht um die Landwirte kümmert, woher kommt dann morgen die Nahrung? Aus Importen? Wird es dann Junkfood geben? Oder künstliche Lebensmittel?

Statt langfristig vorauszudenken, haben wir eine „Eine-Minute-Lobby“. Der Lobbyist kommt herein, schließt einen Deal ab und verschwindet. (...) Ich würde daher definitiv sagen, dass der Mindeststützungspreis die minimal erforderliche Veränderung darstellt. Darüber hinaus braucht es jedoch eine echte Förderung einer Landwirtschaft, die das Land, das Wasser und die Biodiversität regeneriert und den Landwirten nichts wegnimmt.

Eine giftfreie Landwirtschaft und eine gentechnikfreie Landwirtschaft ist der Weg, die Belastung zu reduzieren. Natürlich haben die Unternehmen die Kosten in die Höhe getrieben — und wir werden zu einer sehr kranken Nation. Die Heilung einer Gesellschaft erfordert jedoch ein Engagement für das Ernährungssystem. Dieses Engagement ist zugleich ein Engagement für die Erde, für die Landwirte und für die Bürger des Landes. Das ist der Wendepunkt, an dem wir uns befinden. Die Welt erwacht — wie kann Indien da ruhig schlafen?


Redaktionelle Anmerkung: Dies ist die gekürzte und redigierte Übersetzung eines englischen Videointerviews aus dem Jahr 2024 für das unabhängige indische Online-Magazin The Wire.


Farm Talks: „Jedes Jahr sterben 200.000 Menschen an den Folgen von Pestiziden“: Vandana Shiva im Gespräch mit Indra Shekhar Singh

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Quellen und Anmerkungen:

(1) Das TRIPS-Abkommen (Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights) legt internationale Mindeststandards für den Schutz geistigen Eigentums fest, einschließlich der Patentierung von Erfindungen, die auch in der Biotechnologie liegen können. Seit 1995 schaffen die Regelungen des TRIPS-Abkommens die juristischen Grundlagen für ein internationales Patentrecht, das auch gentechnisch veränderte Pflanzen und Saatgut umfasst.
(2) Das Wawilow-Zentrum in Indien bezeichnet eines der weltweit bedeutendsten Genzentren, ein Begriff, den der russische Botaniker Nikolai Wawilow prägte, um Regionen mit außerordentlicher Vielfalt an Wildformen von Kulturpflanzen zu beschreiben. Indien gilt als ein solches Zentrum der Pflanzenmannigfaltigkeit, insbesondere für eine Vielzahl von Getreide- und Gemüsesorten, Früchten, Faser- und Öl- sowie Gewürzpflanzen.
(3) Der Bertelsmann Transformation Index (BTI) ist ein von der Bertelsmann Stiftung veröffentlichter Index, der den Entwicklungsstand und die Governance von politischen und wirtschaftlichen Transformationsprozessen in Entwicklungs- und Transformationsländern bewertet. Der BTI wird seit 2006 alle zwei Jahre veröffentlicht und basiert auf selbst erhobenen Daten zu 17 Kriterien. Die BTI-Krise in Indien bezieht sich auf eine anhaltende Verschlechterung der demokratischen Institutionen und der politischen Governance, die seit etwa einem Jahrzehnt beobachtet wird und das Land in die Gruppe der „demokratischen Grenzfälle“ führt. Indien ist im BTI-Ranking von Platz 21 im Jahr 2006 auf Platz 50 abgestürzt und gilt als ein Beispiel für eine Demokratie, die sich auf der Kippe befindet. Diese Entwicklung ist gekennzeichnet durch eine zunehmende Autokratisierung, die durch die Verstärkung autoritärer Strukturen, die Schwächung bürgerlicher Freiheiten und die Aushöhlung demokratischer Institutionen gekennzeichnet ist.
(4) https://en.wikipedia.org/wiki/Minimum_support_price_(India)

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