Als die Ethnologin Margaret Mead gefragt wurde, wann sie den Beginn des Menschseins ansiedele, sprach sie nicht von zerbrochenen Tonkrügen oder Höhlenmalereien, sondern von einem geheilten Oberschenkelhalsknochen. Jemand ist bei einem Verunglückten geblieben und nicht mit der Gruppe weitergezogen. Er hat sich um die Verletzung gekümmert und sein eigenes Wohl hintenangestellt. Diese Fähigkeit zur Empathie soll der Beginn der Menschheitsgeschichte gewesen sein.
Einfühlungsvermögen bedeutet, Mitgefühl empfinden zu können und mit anderen zu trauern, zu leiden oder sich mit ihnen zu freuen. Die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, ist die Voraussetzung für Verbindung und Nähe. Nicht alle Menschen haben sie. Zunehmende Isolierung, die Auflösung direkter sozialer Kontakte, Individualisierung, Einsamkeit, Frustration und psychische Störungen wie Psychopathie oder Narzissmus führen zu einer Art emotionaler Blindheit, die wirkliche zwischenmenschliche Nähe unmöglich macht.
Für Empathen ist die Erfahrung schmerzhaft, dass es Menschen gibt, die kein oder nur ein sehr geringes Einfühlungsvermögen besitzen. Manche glauben, wenn sie nur genug Liebe geben, wird der andere sich irgendwann verändern.
Sie neigen dazu, immer noch mehr Mitgefühl zu entwickeln und sich für empathielose Menschen verantwortlich zu fühlen. Vergeblich versuchen sie, die Härte, Kälte, Indifferenz oder Überheblichkeit in den Mantel der Liebe zu hüllen.
Eine Frage der Resonanz
Liebe kann alles und heilt alle Wunden – dort, wo es einen Resonanzraum für sie gibt. Herzen jedoch, die so verhärtet sind, dass alles daran abprallt, sind gegen Liebe gewissermaßen immun. Je mehr man versucht, einem Narzissten zu verstehen zu geben, dass man ihn liebt, desto abweisender und verächtlicher wird er. Er frisst die Liebesfähigkeit anderer regelrecht auf. Es ist so, als werfe man die eigene Liebe in ein dunkles, tiefes Loch, das sich niemals füllt. Niemals ist es genug. Niemals ist es recht.
Menschen, die kein Gefühl für andere haben, haben in erster Linie kein Gefühl für sich selbst. Ihre Selbstgerechtigkeit oder Selbstherrlichkeit sind kein Ausdruck von Selbstliebe, sondern von innerer Verlorenheit.
Wer innerlich leer ist, weiß nicht, wer er ist und was er fühlt. Er ist nicht dazu in der Lage, Verantwortung für sein eigenes Handeln zu übernehmen. Entsprechend projiziert er sein Verhalten auf andere und bekämpft es dort. Mit großem Geschick dreht er seinem Gegenüber das Wort im Munde um und verwendet es gegen ihn.
Viele sind so unterwegs. Wie viele, das haben wir vor allem in den vergangenen Jahren gesehen. Ohne diese Menschen, die in der kindhaften Beschuldigung anderer stecken geblieben sind, die sich weigern, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen, die das eigene Unbewusste im Außen bekämpfen und alles so verdrehen, dass es ihnen passt, wären die Kontrollmaßnahmen und Kampfhandlungen nicht möglich gewesen.
Entscheidend sind hierbei nicht die Narzissten und Psychopathen an der Spitze des Systems, sondern die, die mit ihnen in Resonanz gehen. Jedes Volk, so heißt es, bekommt die Regierung, die es verdient. Nicht diejenigen sind die Mächtigsten, die von oben die Macht ausüben, sondern die, die sie von unten füttern. Wenn der Einzelne das versteht, fällt die Spitze. Die Basis tanzt aus der Reihe, und die, die oben sind, kommen zu Fall.
Zum Tanzen braucht es Freude, Körperbewusstsein und ein gutes Gefühl für sich selbst. Hier fängt alles an: mit der Frage, wie nah wir bei uns sind. Wie zentriert sind wir? Wofür stehen wir? Wohin lassen wir unsere Energien fließen? Wen oder was nähren wir mit unseren Gedanken und Gefühlen? Was strahlen wir aus? Was kommt über uns in die Welt?
Liebe dich selbst
Die Antwort auf die Übel in der Welt heißt nicht mehr Selbstaufopferung, sondern mehr Selbstliebe. Keine Selbsterhöhung ist hiermit gemeint, kein Sich-Erheben über andere, auch nicht über empathielose Menschen, sondern eine zweitausend Jahre alte Botschaft: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Das haben wir den verhärteten und lieblosen Menschen dieser Welt entgegenzusetzen: eine Liebe, die nichts mit Egoismus zu tun hat, sondern mit der Fähigkeit, das in uns zu stärken, was uns empfindsam für uns selbst und für andere werden lässt.
Nur wer sich selbst lieben kann, kann auch Liebe verteilen. Wir können nicht geben, was wir nicht haben. Wer sich selbst nicht mag, der verwechselt Liebe mit Bedürftigkeit und Abhängigkeit. Er erwartet von anderen, dass sie ihm etwas geben, was er nicht hat. Doch Liebe ist kein Deal, kein Geschäft. Liebe ist wie eine Sonne, die auf alles scheint – auch auf die, die uns nicht lieben. Sie leidet dann, wenn sie sich aufopfert und ihr Licht in den Schatten stellt. Wenn sie hingegen aus der eigenen inneren Klarheit und Fülle geschöpft wird und so nach außen strahlt, wie sie ist, kann ihr nichts etwas anhaben.
Diese Liebe ist wie eine heilige und schöpferische Kraft. Sie bettelt nicht um Krumen. Sie lässt sich nicht zu einem Fußabtreter degradieren oder sich in Ketten legen. Sie ist. Sie zeigt uns, was wir jetzt tun können, indem sie uns einen Spiegel vorhält: Anstatt an der Hartherzigkeit und Empathielosigkeit in der Welt zu verzweifeln, können wir ihr eine Selbstliebe entgegenbringen, die alle anderen miteinschließt.
Hohe Aufgabe
Wer wirklich liebt, der liebt alles. Er versteht: Lieben ist Leben. Der wahrhaft Liebende macht sich nicht abhängig von dem Verhalten anderer. Er reagiert nicht. Er strahlt aus sich heraus. Er will nichts, denn er weiß, dass er alles hat. Alles ist in ihm. Er projiziert sein Begehren auf kein Außen mehr, sondern nährt und schützt seine Fähigkeit zu lieben und mit anderen mitzufühlen, ohne sich von ihnen herunterziehen zu lassen.
Ein Gespür dafür entwickeln, was andere Menschen, andere Lebewesen empfinden, ihnen zur Seite stehen, wenn sie es wünschen oder brauchen, das eigene Herz offen und weich halten, Güte entwickeln auch für die, die uns Schmerzen zufügen, und vergeben lernen: Das sind die hohen Gaben, die es zu entwickeln gilt.
Ich vergebe dir. Ich gebe dir zurück, was deins ist und trage es nicht mehr mit mir herum.
Anstatt mit dir beschäftige ich mich mit mir. Statt an deinem Dunkel zu verzweifeln, pflege ich mein Licht. Das ist es, was diese Zeit uns anbietet zu lernen. Je mehr Holzscheite da draußen aufgelegt werden, je mehr gezündelt und geblendet wird, desto deutlicher ist die Aufforderung: Schau hin. Nicht dorthin, wo das Kino gemacht wird, das uns ablenken soll, sondern dorthin, wo du gebraucht wirst und etwas ausrichten kannst.
Mensch sein
In einer dualen Welt hat alles sein Gegenteil. Auf jeden Empathen wartet ein Narzisst, auf jedes Licht seine Dunkelheit. Die Begegnung erinnert uns daran, dass wir einmal eins waren und dass es keine Trennung gab. Das eine gehört zum anderen. Der Schmerz, den wir empfinden, kann helfen, uns aus den Verstrickungen und Verdrehungen der aktuellen Zeit zu lösen. Nicht, indem wir unser eigenes Licht auslöschen, sondern indem wir in den Spiegel schauen und uns fragen, was uns der Narzisst zu sagen hat.
Der Teufelskreis wird unterbrochen, wenn wir uns im anderen erkennen. Wenn der Empath seiner Angst gegenübertritt, egoistisch zu sein, wenn er anerkennt, dass auch er narzisstische Züge in sich hat, dann bekommt der Narzisst die Möglichkeit, die Empathie zu erkennen, die auch in ihm angelegt ist – einfach, weil er Mensch ist. Der Narzisst kann aufhören, sich vom Empathen zu ernähren, wenn der Empath sich nicht mehr für ihn aufgibt und ihm Nahrung bietet.
Eines bedingt das andere. Wenn wir merken, dass wir auf der anderen Seite nichts ausrichten können, können wir auf der einen beginnen. Mehr Selbstachtung. Mehr Eigenwürde. Mehr Ehrlichkeit sich selbst gegenüber. Mehr Selbstliebe. Das sind die Antworten auf die Fragen unserer Zeit. Sie sind die Vorrausetzungen dafür, was uns als Menschen ausmacht, wenn es nach Margaret Mead geht: Mehr Empathie. Mehr Menschlichkeit. Mehr Liebe.

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