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Mittelmacht am Scheideweg

Mittelmacht am Scheideweg

Hauke Ritz erklärt im Interview zu seinem neuen Buch „Warum der Weltfrieden von Deutschland abhängt“, dass der Schrecken der Gegenwart in eine neue Aufklärung einmünden könnte.

Roland Rottenfußer: Herr Ritz, Michael Meyen bezeichnet Ihre Essaysammlung in seinem Vorwort als ein „Best of“. Er schreibt, die Aufsätze seien „zurückgeholt worden aus dem Halbdunkel von Publikationsorten, deren Reputation inzwischen gezielt zerstört worden ist“. Das macht neugierig. Muss kritischer Journalismus heute zur Buchfom zurückkehren, weil der Kampf der Etablierten gegen unabhängige Schrift- und Videoformate nur allzu erfolgreich war?

Hauke Ritz: Diese Einschätzung von Professor Meyen liegt darin begründet, dass es sich bei diesen Texten eben nicht um tagespolitische Artikel handelt, sondern um Essays. Während ein Artikel sich im Aktualitätsbezug einer Nachricht erschöpft und in der Tat nicht noch einmal in Buchform abgedruckt werden muss, sind Essays eine eigenständige literarische Gattung, die ganz andere Eigenschaften aufweist. Ich möchte diesen Unterschied etwas genauer beschreiben.

Für den Essayisten ist nämlich eine Beobachtung oder ein politisches Vorkommnis lediglich ein Anlass, Gedanken über Wirklichkeit und die Situation des Menschen in ihr auszudrücken. Mit anderen Worten, der Essay hat einen künstlerischen Anspruch, er ist als Form zwischen Literatur und Wissenschaft angesiedelt; es geht ihm darum, gleichermaßen schön und wahr zu sein. Einerseits ist der Essay der Wissenschaft verpflichtet, insofern er über Entwicklungen aufklären und Hintergründe namhaft machen möchte, während er andererseits zugleich um das Erreichen einer schönen Form bemüht ist. Er möchte dem Unerwarteten und noch nicht Gedachten zum Ausdruck verhelfen. Während der wissenschaftliche Fachartikel die Schönheit der Methode opfert, sucht der Essay nach Wegen, die Wahrheit gerade durch das Erreichen einer schönen Sprache auszudrücken.

Indem er Wahrheit mit Schönheit verbindet und versöhnt, verweigert der Essay sich dem Fetisch der stringenten Beweisführung; er verbeugt sich nicht vor der Autorität der Fachtermini und stützt sich nicht auf prestigeträchtige Zitate und Verweise, sondern vertraut darauf, dass ein wahrer Gedanke vom Leser intuitiv wiedererkannt und verstanden werden kann.

Ein gelungener Essay ist wie eine Flaschenpost, die der Autor an den Leser richtet und in der dieser sein eigenes Wissen ausgedrückt findet.

Es ist eine fragwürdige Entwicklung unserer Zeit, dass wir einem Text nur dann Wahrheit zugestehen, wenn dieser zuvor durch eine Trockenheit der Sprache alle Schönheit in sich ausgemerzt hat.

Das 18. und 19. und auch noch das frühe 20. Jahrhundert sind hingegen reich an Beispielen von schönen und geistreichen Essays, denen zugleich Wissenschaftlichkeit zugestanden wurde. Man denke etwa an Jacob Burckardts berühmten Essay „Die Kultur der Renaissance in Italien“ oder an die zahlreichen literaturwissenschaftlichen Studien Walter Benjamins und Theodor W. Adornos — der wissenschaftliche Charakter all dieser Texte steht außer Zweifel, und so sind sie zugleich herausragende Beispiele von gelungener Essayistik.

Die in diesem Buch versammelten Texte versuchen ebenfalls, die Paradoxien unserer gegenwärtigen Situation in der Form des Essays ausdrückbar zu machen. Dabei ging es mir darum, die Irrationalität des sich anbahnenden Krieges zwischen dem Westen und Russland in einer Art darzustellen, dass der Leser nachhaltig davon berührt wird. Ich wollte nicht nur Informationen austauschen, sondern den Leser auch emotional erreichen, wenn Sie so wollen, erschüttern. Diese Eigenschaften hatte wohl auch Michael Meyen an diesen Texten wahrgenommen, weshalb er mir 2022 anlässlich eines jetzt wieder neu veröffentlichten Interviews riet, dass die Texte neben ihrem bisherigen Publikationsort unbedingt auch als Buchform veröffentlicht werden sollten. Obwohl einige dieser Texte schon viele Jahre alt sind, haben sie durch ihre essayistische Form ihre Aktualität bewahrt. Es sind eben keine Artikel, sondern Essays, und als solche bewegen sie sich von vornherein im Grenzgebiet zwischen Literatur und Wissenschaft.

Als Buchtitel wählten Sie die Überschrift eines Essays „Warum der Weltfrieden von Deutschland abhängt“. Tatsächlich betont gerade die „alternative“ Presse ja heute gern den Bedeutungsverlust Deutschlands — im Vergleich etwa zu Osteuropa und den BRICS-Staaten —, sodass es geradezu als ungebührlicher Patriotismus verstanden könnte, dem Land eine Schlüsselfunktion für den Weltfrieden zuzuweisen. Könnten Sie Ihre These ein wenig erklären?

Der titelgebende Essay in meinem Buch hebt hervor, dass Deutschland in einer kritischen Position ist. Dass es nämlich als Mittelmacht im Zentrum Europas und als inoffizielle Führungsmacht der EU für die praktische Durchführung einer Aggression des Westens gegen Russland unverzichtbar ist.

Verweigert sich Deutschland diesem Krieg, dann findet er auch nicht statt. Und so entscheidet Deutschland in der Tat darüber, ob aus dem Ukrainekrieg noch ein großer Weltkrieg werden wird oder nicht.

Rätselhafterweise sind viele der großen Kriege immer wieder mit Deutschland verbunden. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation war aufgrund seiner dezentralen Struktur nur im geringen Maße zu einer aggressiven Außenpolitik fähig. Dennoch wurde schon damals in verschiedenen Kriegen immer wieder um die politische und geistige Ausrichtung des Reichs gestritten. Man denke an den Deutschen Bauernkrieg. Oder auch den 30-jährigen Krieg, den Siebenjährigen Krieg und die Napoleonischen Kriege, die bereits den Charakter von globalen Kriegen hatten. Im 20. Jahrhundert setzt sich dies in Gestalt der beiden Weltkriege und des Kalten Krieges fort, die stets um Deutschland konzentriert sind, wobei der Zweite Weltkrieg von Deutschland ausging.

Auch im gegenwärtigen Ukrainekrieg nimmt Deutschland eine zentrale Rolle ein. Obwohl Deutschland nur eine Mittelmacht ist, steht es stets im Zentrum der globalen Auseinandersetzung. Einerseits ist Deutschland ein Akteuer im Ukrainekrieg, insofern als die Unterstützung der Ukraine ohne Deutschland gar nicht möglich wäre. Andererseits ist es auch Objekt dieses Krieges, insofern als der Ausgang des Krieges darüber entscheidet, ob Deutschland in der Westbindung verharren wird oder sich aus ihr lösen kann, was wiederum Konsequenzen für ganz Europa hätte.

Neben diesen Zusammenhängen hebt mein Buch aber auch hervor, dass die Zeit sowohl einer westlichen als auch europäischen Dominanz vorbei ist und wir uns auf eine multipolare Welt einstellen müssen.

Für mich ist deshalb eine Kritik des westlichen Neoimperialismus und ein Bekenntnis zum Wert der europäischen Kultur kein Widerspruch.

Im Gegenteil, nach meinem Verständnis gehört beides in einer mulitpolaren Welt zusammen. In meinem Buch versuchen gleich mehrere Essays zu erklären, warum wir die gesellschaftlichen und kulturellen Errungenschaften Europas nur retten können, wenn wir uns von den Machttechniken des Neokolonialismus, die zum großen Teil während des Kalten Krieges entwickelt worden sind, verabschieden.

Worin sehen Sie derzeit die politischen Haupthindernisse für einen Frieden in der Ukraine? Setzen Sie diesbezüglich Hoffnung auf die neue US-Regierung und das neue politische Personal in Deutschland? Der neue deutsche Außenminister Johann Wadephul tat sich ja unlängst mit einer Äußerung hervor, die eher beunruhigend klingt: „Wie auch immer der Krieg mit Russland enden wird — Russland wird immer ein Feind für uns sein und eine Gefahr für die europäische Sicherheit.“

Gegenwärtig ist die Lage im Ukrainekrieg äußerst labil, insofern als sich immer mehr abzeichnet, dass die Friedensverhandlungen wahrscheinlich scheitern werden. Russland ist dabei, den Krieg gegen die Ukraine zu gewinnen. Mit jeder Woche, die vergeht, nimmt das Übergewicht der russischen Armee gegenüber der ukrainischen zu. Früher oder später wird es zu einem Zusammenbruch der ukrainischen Front kommen.

Doch die Mehrzahl der Politiker in der EU und teilweise auch in den USA sind psychologisch nicht in der Lage, diese neue Realität zu akzeptieren.

Dadurch treten sie in den Friedensverhandlungen mit Forderungen auf, die den Realitäten am Boden nicht entsprechen und auf die Russland sich unmöglich einlassen kann. Zwischenzeitlich sah es zwar so aus, als ob Trump in der Lage wäre, die geopolitischen Zielsetzungen der USA neu zu definieren und im Zuge dessen auch die Beziehungen zu Russland zu erneuern. Doch hat sich die Politik von Donald Trump als zu sprunghaft erwiesen, weil er eher instinktiv als analytisch handelt. So waren neokonservativen Politiker in seinem Umfeld, wie zum Beispiel Marco Rubio and Keith Kellogg, zwischenzeitlich in der Lage, den Präsidenten dahingehend beeinflussen, dass die USA lediglich für einen Waffenstillstand ohne langfristige Sicherheitsgarantien plädierten. Doch darauf kann die russische Regierung sich unmöglich einlassen. Als sie das Washington deutlich signalisierte, näherte sich Trump zunächst der russischen Position an. Doch kurz darauf ließ er sich wieder zu Drohungen gegenüber dem russischen Präsidenten hinreißen. Zudem ist es seitdem zu massiven Angriffen im russischen Hinterland gekommen, die schwerlich ohne amerikanische Unterstützung möglich sind.

Warum können sich die Russen nicht auf einen bedingungslosen Waffenstillstand einlassen? Zum einen weil sie fürchten, dass Frankreich, Großbritannien, Deutschland und Polen die Feuerpause nutzen würden, die Ukraine wieder aufzurüsten, um so den Krieg zu verlängern. Zudem hat der belgische Verteidigungsminister kürzlich den Plan ausgeplaudert, nach Inkrafttreten eines Waffenstillstands europäische „Friedenstruppen“ in der Ukraine zu stationieren, letztlich mit dem Ziel, die Ukraine als Werkzeug westlicher Einflussnahme gegen Russland zu erhalten.

Moskau fürchtet also zu Recht, dass ein vorschnell unterzeichneter Friedensvertrag lediglich dazu führt, dass die Ukraine in fünf oder zehn Jahren erneut als Werkzeug des Westens gegen Russland eingesetzt wird.

Aus russischer Sicht zeigt all dies, dass in der westlichen Welt ein antirussischer Rassismus vorherrschend ist. Vieles von dem, was wir in den letzten Jahren gesehen haben, etwa der Ausschluss Russlands von den Olympischen Spielen, die Nichteinladung zu den Gedenkfeiern zur Befreiung des Lagers Auschwitz, obwohl die Rote Armee dieses Lager befreit hat, das Einfrieren von Vermögen des russischen Staates als auch das einzelner russischer Bürger sowie die Unterdrückung der russischen Sprache und Kultur in der Ukraine, den baltischen Staaten und in vielen anderen Ländern — all dies sind aus russischer Sicht Zeichen eines generellen westlichen Rassismus gegenüber Russland, seinen Menschen und seiner Kultur.

Solange dieser Rassismus im Westen vorherrschend ist, kann Russland sich nicht auf unterzeichnete Verträge verlassen, da jede veränderte politische Konstellation schnell die Aggression gegen Russland erneuern könnte. Damit Russland dem Westen vertrauen kann, müsste dieser seine Haltung gegenüber Russland grundsätzlich überdenken und verändern. Und diese Veränderung müsste öffentlich ausgedrückt und kundgetan werden. Doch es ist fraglich, ob Trump in der Lage ist, einen so weitreichenden Bruch mit der bisherigen Politik durchzusetzen. Gelingt ihm dies nicht, bleiben ihm zwei Optionen: entweder Russland für das Scheitern der Friedensverhandlungen verantwortlich zu machen und die Politik Bidens fortzusetzen oder aber sich aus dem Ukrainekrieg ganz zurückzuziehen und ihn den Europäern überlassen. Russland würde im Falle eines Scheiterns der Verhandlungen faktische Sicherheitsgarantien auf dem Boden in der Ukraine benötigen, die Moskau am Ende nur militärisch durchsetzen kann. Sobald Russland aber diesen Weg beschreitet, könnte es auf westlicher Seite zu Kurzschlusshandlungen und Überreaktionen kommen.

Und wenn man die Äußerungen der neuen deutschen Regierung ernst nimmt, sowohl die von Friedrich Merz als auch die seines Außenministers Johann Wadephul, dann dürfte diese Überreaktion mit hoher Wahrscheinlichkeit von Deutschland ausgehen, etwa in Gestalt der Lieferung der Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine.

Und aus diesem Grund hängt der Weltfrieden in der Tat wieder einmal von Deutschland ab. Das historische Schicksal Deutschlands, dass die meisten großen Kriege der Welt mit unserem Land verknüpft sind, scheint auch für die Gegenwart noch zu gelten. Deshalb sollte Deutschland seine historische Erfahrung einbringen und Nein zu diesem Krieg sagen, was auch bedeuten würde, das Ziel einer Abtrennung der Ukraine von Russland aufzugeben.

Lange wurde Russland als kulturell gut integrierter Teil Europas angesehen — etwa auf dem Gebiet des Romanschaffens und der klassischen Musik im 19. Jahrhunderts oder durch vielfache verwandtschaftliche Beziehungen zwischen den europäischen Herrscherhäusern. Heute scheint es, als solle ein neuer Eiserner Vorhang in der Ostukraine errichtet und Russland aus dem gemeinsamen europäischen Haus herausgedrängt werden. Normalerweise wird dies mit gegensätzlichen Machtinteressen erklärt. Sie sehen auch eine kulturelle Dimension diese Spaltung. Inwiefern?

Die Essays im Buch gruppieren sich um zwei Kernthesen. Zum einen beschreiben sie, was eine unipolare Weltordnung eigentlich ist, wie sie nach 1989 allmählich zum Konzept US-amerikanischer und schließlich westlicher Außenpolitik werden konnte und welche katastrophalen Folgen die versuchte Umsetzung dieser Strategie für Europa und die übrige Welt gehabt hat. Die zweite, damit verbundene Kernthese des Buches beschreibt, inwiefern während des Kalten Krieges eine auf den Liberalismus ausgerichtete Kulturpolitik eine entscheidende Rolle gespielt hat. Dass es vor allem die Raffinesse, aber auch die Radikalität der westlichen Kulturpolitik gewesen ist, die nach vierzig Jahren die Hegemonie des Westens im Kalten Krieg herzustellen vermochte. Sich dies bewusst zu machen, ist vor allem deshalb wichtig, weil die damals entstandenen Einflussmechanismen bis heute fortwirken, ja seither auch weiterentwickelt wurden, sich in gewisser Weise verselbstständigten und letztlich die westliche Welt tiefgreifend verändert haben.

Tatsächlich konnten die NATO, die EU und andere westliche Organisationen auf diese Weise über mehrere Jahrzehnte hinweg einen enormen Machtgewinn erzielen. Dass dieser Machtgewinn allerdings einen Preis gehabt hat, wird nun immer sichtbarer. Denn als Folge dieses Vorgehens ist in der westlichen Welt nun eine zunehmend künstliche Kultur entstanden, die schließlich die Reflexionsfähigkeit der westlichen Öffentlichkeit und damit auch die Fähigkeit zur Selbstkorrektur so sehr untergraben hat, dass wir heute mit nihilistischen und selbstzerstörerischen Trends in unserer Politik konfrontiert sind. Diese Nebenwirkungen einer sonst sehr raffinierten Kriegslist bedingen die zunehmend tragische Entwicklung im gesamten Westen und insbesondere Europas.

Da Russland jedoch einerseits selbst ein Teil des europäischen Kulturraums ist, andererseits von der westlichen Kulturpolitik kaum verändert wurde, spiegelt es der EU ihr eigenes zvilisatorisches Scheitern wider, was möglicherweise auch den Hass erklärt, den gerade viele führende Politiker der EU wie etwa Katja Kallas oder Ursula von der Leyen gegenüber Russland immer wieder ausgedrückt haben.

Und tatsächlich ist es so, dass es, solang Russland über Souveränität verfügt, so lange auch eine zweite, nicht vorrangig liberale und amerikanisch geprägte Interpretation der europäischen Kultur geben wird. Und das bedeutet, dass eine Vergleichbarkeit hergestellt ist und damit auch eine Alternative.

Zwar sind die beiden erwähnten Thesen bereits in meinem vorherigen Buch „Vom Niedergang des Westens zur Neuerfindung Europas“ analysiert worden. Doch die hier versammelten Texte sind größten Teils früher entstanden. Es handelt sich einerseits um Vorstudien, die auch andere Bezüge und Querverweise herstellen. Und zum anderen wird hier die These in eine essayistische Form gefasst, wodurch sie lebendiger und leichter lesbar entfaltet wird. Ingesamt geht es mir in dieser Essaysammlung darum, aufzuzeigen, dass in der heutigen Welt nicht nur um Geld, Öl und Gas beziehungsweise Geografie gekämpft wird, sondern dass im Hintergrund auch um etwas gestritten wird, das geistig und kultureller Natur ist. Diese These hat auch den Vorteil, dass sie erklären kann, warum der aktuelle geopolitische Konflikt mit solcher Härte geführt wird, warum alle Kompromissemöglichkeiten ausgeschlagen werden und sich die Akteure immer tiefer in der Konfrontation verrennen.

Dies wird nämlich verständlich, wenn man die Möglichkeit in Erwägung zieht, dass hier wie auch im Kalten Krieg — nur heute sehr viel verdeckter — um unterschiedliche Konzepte von Zivilisation gerungen wird.

Die Frage ist nur, welche Konzepte sich hier eigentlich gegenüberstehen. Denn formal scheint ja heute der Gegensatz von Sozialismus und Liberalismus verschwunden zu sein, weil Russland und China heute zumindest auch Marktwirtschaften sind. Worum also wird hier gekämpft? Das Buch enthält zehn Essays, was bedeutet, dass ich mich dieser Fragestellung auf ungefähr zehn verschiedenen Wegen nähere.

Der neue Kalte Krieg richtet sich neben Russland noch gegen einen weiteren „Lieblingsfeind“. Sie können beurteilen, wie weit sich das öffentliche Image Chinas in Deutschland von der Realität vor Ort unterscheidet. Wo liegen die Hauptfehler in der deutschen China-Politik, und was würden Sie empfehlen, um im Interesse beider Länder bessere Beziehungen herzustellen?

Nach wie vor beschäftige ich mich mehr mit Russland als mit China. China zu verstehen, ist noch einmal sehr viel schwieriger, zumal ich Mandarin nicht beherrsche und mir auch die Zeit fehlt, diese Kenntnislücke zu schließen. Ich sehe mich daher nicht als Chinaexperte.

Etwas aber erschließt sich mir sofort, wenn ich meine Aufenthalte in Russland mit denen in China vergleiche, nämlich dass Russland mit Sicherheit kein asiatisches Land ist.

Der Umgang mit russischen Institutionen, der Kontakt und Austausch mit Russen setzt mehr oder weniger die gleichen Regeln und Erwartungen voraus, die man auch von den Bürgern anderer europäischer Ländern kennt. Russen und Deutsche verstehen sich wechselseitig sehr leicht, es besteht in dieser Hinsicht keineswegs mehr Distanz als etwa zu Franzosen. Ja, man könnte das begründete Argument anführen, dass die kulturelle Nähe zwischen Deutschen und Russen sogar noch größer ist als zum Beispiel zwischen Deutschen und Franzosen.

Ganz anders verhält es sich jedoch mit China, das wirklich eine ganz eigenständige und außereuropäische Zivilisation ist. Und das bedeutet, dass sehr viele Dinge im Alltag ganz anders kodiert sind. Zum Beispiel spielt die Sprache, und überhaupt das Sprechen, nicht die gleiche Rolle wie in europäischen Ländern. Als ich das erste Mal Chinesen traf und versuchte, sie kennenzulernen, machte ich den Fehler, dass ich zu viel von mir und meiner Weltsicht erzählte. Jetzt hingegen achte ich bei der ersten Begegnung mit einem Chinesen immer auf meine nonverbale Kommunikation. Viel wichtiger als das gesprochene Wort ist, dass man sein Herz zeigt, sich vorsichtig bewegt und gütig und bescheiden wirkt. Die Chinesen müssen nicht endlose Gespräche führen, um ihr Gegenüber kennenzulernen. Sie machen ein paar allgemeine Bemerkungen, sehen einem beim Essen zu, überreichen ein Geschenk und wissen danach schon das Wesentliche.

China verfügt über eine Bevölkerung, die seit 5.000 Jahren mehr oder weniger am gleichen Ort lebt und seit über 2.000 Jahren über Staatlichkeit verfügt, die, abgesehen von kurzen chaotischen Perioden, auch keine nennenswerten Unterbrechungen erfahren hat. Das bedeutet, dass sehr viel Erfahrung in die chinesische Kultur eingeflossen ist, tradiert wurde und gebildeten Chinesen bis heute gewissermaßen als Weisheit zur Verfügung steht.

Vermutlich werden die gegenwärtigen europäischen Diplomaten im Umgang mit China den gleichen Fehler machen, der den meisten Europäern anfangs unterläuft, nämlich dass sie zu viel sprechen, zu viel den Worten und Argumenten vertrauen und zu viel erklären. Die Chinesen schauen sich die ganzen Aktivitäten der europäischen Diplomatie an, tun selbst dabei sehr wenig, reagieren hauptsächlich, und nach einiger Zeit wissen sie schon alles über die Europäer.

Die Chinesen haben die Fähigkeit, anhand von Einzelheiten das Ganze wahrzunehmen. Bedingt durch den umfangreichen Erfahrungsschatz, der die chinesische Kultur durchdringt, sehen sie am Beginn einer Entwicklung oft schon deren wahrscheinlichen Ausgang. Sie sehen sehr schnell, ob ein Mensch Glück oder Unglück hat, ob er steigt oder fällt, ob er ehrlich oder unehrlich ist, ob er ein gütiges oder ungütiges Herz hat.

Und mittels dieser in die chinesische Kultur eingeschriebenen Erfahrung beziehungsweise Weisheit werden dann auch Länder und Kulturen betrachtet.

Je mehr die europäischen Diplomaten die Chinesen in Sachen Menschenrechte und Demokratie unterrichten wollen, je mehr Druck die Europäer etwa durch Sanktionen auf China ausüben, je häufiger sie ihre Kriegsschiffe durch die Straße von Taiwan fahren lassen, desto mehr verstehen die Chinesen, dass die Europäer ihre Mitte und ihr Gleichgewicht verloren haben, dass das heutige Europa eine fallende Macht ist, der die Gunst des Himmels abhandengekommen ist.

Und da China nicht wirklich vom Christentum geprägt worden ist, hat man auch wenig Mitleid mit dem, der schwach ist, der das Unglück auf sich zieht, sondern versucht, Abstand zu ihm zu wahren, um das eigene Glück nicht zu gefährden.

Während die Europäer sich selbst als Subjekte der Geschichte wahrnehmen und ständig die Welt durch Handeln in ihrem Sinne verändern wollen, ist aus chinesischer Perspektive die Welt selbst das handelnde Subjekt.

Die Chinesen versuchen ihre Lage zu verändern, indem sie sich mit der Welt in eine Übereinstimmung bringen. Sie handeln durch Anpassung an die Wirklichkeit. Uns Europäern kommt dies wie Unentschiedenheit oder wie ein Nichthandeln vor. Tatsächlich hat China auf diese Weise aber mehr erreicht als die Europäer mit all ihren zur Schau gestellten Aktivitäten.

Es gab mal eine Zeit in der europäischen Diplomatie, da man in der Lage war, anzuerkennen, dass die Welt aus verschiedenen Zivilisationen besteht, deren Verständnis ein umfassendes Studium erfordert. Der Altkanzler Helmut Schmidt war ein letzter Vertreter dieser Schule, da er zum Beispiel im engen Kontakt mit dem in Hamburg lehrenden Sinologen Yu-chien Kuan stand und zeit seines Lebens darum bemüht war, China als eine fremde Kultur und Zivilisation zu verstehen. Im Zuge der fortschreitenden Westbindung der deutschen Außenpolitik wurde all dies zugunsten des US-amerikanischen Weltordnungskonzepts aufgelöst. Wir haben unsere eigenen diplomatischen Traditonen vergessen und uns ganz und gar an die Amerikaner angepasst. Wie die Amerikaner fühlen wir uns nun von Natur aus anderen Kulturen und Zivilisationen überlegen. Und wie die Amerikaner teilen wir heute die Welt in gut und böse.

Es ist eine Sache, dass die amerikanische Diplomatie von voraufklärerischen Gedankenkonstrukten aus dem 17. Jahrhundert beeinflusst ist. Ich meine hiermit vor allem den Einfluss jener protstantischen Sekten, die zu den ersten Einwanderern in die neue Welt gehörten. Ihr Einfluss wirkt bis heute fort, insofern als noch heute viele amerikanische Bürger und Politiker den USA ein von Gott beglaubigtes Manifest Destiny (offenkundiges Schicksal) zuschreiben, das angeblich darin bestehen soll, die Welt zu führen. Es ist aber ein ganz andere Sache, dass Europa, das selbst über den Erfahrungsschatz von 2.500 Jahre Geschichte verfügt, das den Humanismus, die Wissenschaften, die Philosophie und die Aufklärung hervorgebracht hat, sich diesem voraufklärerischen Konstrukt eines Manifest Destiny und dem damit verbundenen Glauben an göttliche Erwähltheit angeschlossen hat.

Derartige Arroganz und Realitätsverkennung ist ein Zeichen des Niedergangs. Weder Europa noch die USA noch beide zusammen sind heute stark genug, um im 21. Jahrhundert die Welt zu führen.

In dem jetzt veröffentlichten Buch sind drei Essays enthalten, die die Fehler der westlichen Diplomatie im Detail analysieren. Ich mache darin geltend, dass im 21. Jahrhundert Diplomatie nur noch erfolgreich sein kann, wenn sie insbesondere gegenüber alten Zivilisationen wie China, Indien und Iran eine Diplomatie auf Augenhöhe praktiziert. Jeder zur Schau gestellte Stolz, jedes Anmahnen von Demokratie und Menschenrechten ist genauso fehl am Platz wie das Demonstrieren von letztlich nicht vorhandener Stärke.

Stattdessen käme es darauf an, überhaupt erst wieder die Fähigkeit zum Verständnis fremder Kulturen zu erlernen. Und der beste Weg, dies zu erreichen, bestände darin, zunächst die eigene Geschichte gründlich zu studieren und aus der aktuellen Fixierung auf die Gegenwart herauszukommen. Je tiefer ein deutscher Diplomat die Geschichte Europas versteht und durchdrungen hat, desto differenzierter wird auch sein Urteil über eine fremde Zivilisation wie die chinesische ausfallen.

Der derzeitigen Diplomatie Deutschlands fehlt bedauerlicherweise diese historische Tiefe.

Selbstgefällige Sprechblasen und Provokationen sind an die Stelle einer ernsthaften Bemühung um Verständnis und Orientierung getreten.

Immer wieder wird gesagt, dass eine Krise auch Chancen bergen kann. Dabei merken Autoren auch an, dass die Chinesen für „Gefahr“ und für „Chance“ ein und dasselbe Schriftzeichen verwenden. In Ihrem Buch konkretisieren Sie sogar: „Chance für einen neuen Humanismus“, was aus der Beobachtung abgeleitet wird, dass der Westen in einer Krise stecke. Worin sehen Sie diese Hoffnungszeichen? Wohin könnte der Westen im besten Fall steuern, und welche Schritte wären hierfür notwendig?

Die derzeitige Lage Deutschlands wirkt natürlich katastrophal, wenn man die Situation mit der alten Bundesrepublik vergleicht. Ulrike Guérot hat in ihrem neuen Buch „ZeitenWenden“ die Differenz zwischen dem republikanischen Selbstverständnis der Bonner Republik und dem der Gegenwart eindrücklich kontrastiert. Manche mögen mir an dieser Stelle vielleicht widersprechen: Doch ich bin der Meinung, dass auch die DDR eher den Willen der Bevölkerung repräsentiert hat als die derzeitige Politik. Ja, dass beide deutsche Staaten während des Kalten Krieges ein höheres Zivilisationsniveau aufgewiesen haben als das vereinigte Deutschland der Gegenwart. Aus dieser Perspektive befinden wir uns in der Tat in einer äußerst beklemmenden Situation.

Doch das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die gesamte Situation nach dem Zweiten Weltkrieg die Signatur eines ungelösten Konflikts aufwies. Die beiden Flügelmächte Europas, die USA und die Sowjetunion, hatten mit einem Mal eine Dominanz über das Zentrum erlangt. Hinzu kam, dass Europa ähnlich wie in den Kofessionskriegen gespalten wurde zwischen zwei einander entgegengesetzten politischen Philosophien. Derart seiner Souveränität und kulturellen Einheit beraubt, erfuhr die gesamte europäische Kultur einen Bedeutungsverlust. Eine Zeit lang wurde das Niveau noch von der vor der NS-Zeit geprägten Generation gehalten. Doch als auch sie abtritt, wird der Bedeutungsverlust der europäische Kultur für jeden sichtbar. Vor diesem Hintergrund muss man konstatieren, dass nichts gewonnen wäre, wenn wir die Uhr ein paar Jahrzehnte zurückdrehen könnten. Die gesamte Nachkriegszeit wies die Signatur eines ungelösten und damit auch stillgestellten Konfliktes auf.

Angesichts dessen bietet die derzeitige Krise eine einmalige Chance, wieder an Ansprüche der europäischen Kultur und Zivilisation anzuknüpfen, die lange verschüttet und beinahe vergessen sind. Hätte die Stabilität der Nachkriegszeit noch zwei, drei Jahrzehnte länger angehalten, so wäre jede Aussicht, dass die Völker Europas sich eines Tages von den USA emanzipieren könnten, gänzlich utopisch.

Doch angesichts der Tiefe der Krise, in die wir vor allem von transatlantischen Eliten Deutschlands und Frankreichs und hineingeführt worden sind und die von diesen Eliten selbst nicht mehr gelöst werden kann, stehen die Nationen Europas nun vor der Wahl zwischen Selbstermächtigung oder Untergang.

Im Moment hat man den Eindruck, dass die transatlantischen Eliten kurz davor stehen, den Untergang zu wählen, nur um ihr kolossales politisches, intellektuelles, moralisches und letztlich zivilisatorisches Versagen zu verschleiern. Sie stehen vollkommen nackt und entblößt vor einem gigantischen Scherbenhaufen, und alles, was sie erlernt haben, was sie glauben, denken und infolgedessen auch tun können, trägt nur weiter dazu bei, dass sich das Scheitern noch intensivisiert.

Wir haben also den Endpunkt einer jahrzehntelangen Entwicklung erreicht. Und so meine ich, dass es gerade die Dunkelheit unserer Gegenwart ist, die paradoxerweise den Anlass zu utopischen Hoffnungen gibt. Solange das Nachkriegseuropa in Wohlstand und Stabilität gelebt hat, war vieles verschleiert und verborgen. In den 1980er- und 1990er-Jahren war es äußerst schwierig, die Machtzusammenhänge und die Herrschaftstechniken zu verstehen. Fast niemand sprach damals von einem Tiefen Staat, von Informationskriegsführung oder von Operationen unter falscher Flagge. Heute hingegen liegen all diese Machttechniken offen zutage. Und infolgedessen können wir die Welt und den historischen Prozess heute viel genauer verstehen als damals. Und deshalb habe ich die leise Hoffnung, dass der Schrecken der Gegenwart in eine neue Aufklärung einmünden könnte.

Die erste Aufklärung hatte die illegitime Macht des Adels und die ideologische Funktion des Klerus infrage gestellt. Eine zweite Aufklärung könnte die Monopole der digitalen Konzerne, die Vermögenskonzentration an den Finanzmärkten sowie die ideologische Macht der weltumspannenden Informationsnetzwerke infrage stellen.

Eine solche zweite Aufklärung könnte sich zum Beispiel an der Aufarbeitung der Coronakrise entzünden oder an der Einsicht in die Hintergründe des Ukrainekonflikts oder überhaupt an dem wachsenden Konflikt zwischen oligarchischen Strukturen und den Ansprüchen des Allgemeinwohls. Eine zweite Aufklärung könnte sich auch darin ausdrücken, dass wir unsere Vergangenheit, unsere Geistesgeschichte und Kultur wieder neu in Besitz nähmen und endlich das Bewusstsein davon gewännen, dass Europa nicht die USA ist. Gewänne eine neue Aufklärung einmal an Boden, so könnte sie die Grundlage für gleich mehrere Jahrzehnte des Fortschritts bilden. So wie wir in den vergangenen Jahrzehnten einen stetigen Rückschritt erfahren haben, könnte sich dann der Pfeil der Entwicklung umkehren. Dies setzt allerdings voraus, dass die Kräfte, die für eine zweite Aufklärung kämpfen, irgendwann den Staat als Verbündeten in diesem Kampf gewinnen müssen. Gelänge dies, so könnten Zivilisationsbrüche unserer Gegenwart als Spiegelschrift eines befreiten Europas gelesen werden. Es wäre dann gerade der Machtmissbrauch der Gegenwart, der uns den Weg in eine humanere Zukunft weist.

Ich glaube, dass es irgendwann dazu kommen wird, einfach weil die Ansprüche der Zivilisation, die sich über Jahrhunderte und Jahrtausende aufgebaut haben, zu ernsthaft sind, um von der derzeitigen Vermögenskonzentration und den damit verbundenen Partikularinteressen dauerhaft aufgelöst zu werden. In diesem Sinne bin ich verhalten optimistisch. Natürlich würde eine solche Wende die Arbeit und das Engagement von vielen Tausenden Menschen erfordern. Es wäre eine kolossale Anstrengung, die das Leben einer ganzen Generation prägen könnte.

Aber im Gegensatz zu den Kriegen unserer Gegenwart wäre dieses Engagement zumindest sinnvoll.

Und da der Mensch ein nach Sinn strebendes Wesen ist, wird er irgendwann diesen Weg einschlagen.


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