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Verstrickt

Verstrickt

Die Strickmuster auf Kleidungsstücken, die von Menschen in den ausweglosesten Kriegszeiten selbst gestrickt wurden, versinnbildlichen die Fähigkeit des Menschen, selbst in der dunkelsten Stunde die Fackel der Schönheit leuchten zu lassen.

„Ich finde es unanständig, vorsichtig zu leben. Ich kann es nicht“ (Emmy Hennings).

Ich bin kein Symbol, sondern eine Frau auf dem Weg zur Arbeit, die gerade noch einen Sitzplatz in der U-Bahn ergattert hat und sich nun erleichtert zurücklehnt und die Augen schließt. Dass sich der Wunsch nach Schönheit noch an den schrecklichsten Orten durchzusetzen vermag, erscheint mir heute Morgen das Rätselhafteste überhaupt. Wie ist es möglich, daran zu denken, dass etwas schön werden soll, wenn es doch eigentlich nur um das nackte Überleben geht?

Die Mütze eines Gefangenen, selbst gehäkelt, steht mir plötzlich wieder lebhaft vor Augen, ein einfaches rundes Käppi von harmonischer, wenn auch längst verblasster Farbigkeit, vor dem ich auf einer Ausstellung über sowjetische Gulags lange gestanden hatte.

Eine schlichte Notwendigkeit war bestimmend gewesen, natürlich, der Gefangene hatte seinen kahl geschorenen Schädel schützen müssen gegen die sprichwörtliche sibirische Kälte. Die äußeren Umstände sind einsichtig, vorstellbar.

Doch wie hatte der ferne Unbekannte es fertiggebracht, seinen Händen das Häkeln beizubringen? Woher hatte er Wolle und Nadel genommen? Und was mochte ihm durch den Kopf gegangen sein, während er sich in einer Welt, in der alles gegen sein Vorhaben sprach, gemüht hatte, die Farben und Muster harmonisch aufeinander abzustimmen?

Die Anstrengung seiner wahrscheinlich ungeübten, von schwerster körperlicher Arbeit geschundenen Hände — sie wird vorstellbar als Gebet eines Menschen um Schönheit und Würde. Aus Schmutz, Hoffnungslosigkeit und dumpfem Schweigen tritt die mittelgroße, magere Gestalt eines Mannes hervor, dessen unrasiertes Gesicht jedem Menschen gehören könnte, den das Schicksal der dunklen, erdabgewandten Seite der Welt zugeschlagen hat.

Ihn soll niemand erkennen.

Er soll seinen Kampf allein ausfechten.

Seine Spuren sollen sich verwischen, so als habe es ihn niemals gegeben.

In seiner Mütze aber haben sie überlebt. Sie bezeugt, dass einer, stellvertretend für alle, sich den Gesetzen der Wirklichkeit nicht unterworfen, sondern sie vielmehr als Herausforderung begriffen hatte.

Die Mütze sollte seinen Kopf wärmen, aber nicht nur.

Die Mütze sollte ihn zu einem freien Menschen machen.

Indem er sich nicht mit wahllos Zusammengestückeltem begnügte, ließ er den Ort und seine Schrecken weit hinter sich zurück. Zwar hatte seine schöne Mütze die Wirklichkeit nicht besiegen können, doch ebenso wenig hatte diese ihn besiegt.

Er war nun kein Opfer mehr.

Seine inneren Landschaften hatten Gestaltung erfahren. Furcht und Finsternis waren durch Maß und Form gebannt. Tatsächlich vermögen Steine zu blühen, wenn man nur fest genug daran glaubt.

Wo Selbstaufgabe die naheliegendste Möglichkeit war, hatte er sich nicht ergeben und war geschmückten Hauptes durch die Lagerstraßen geschritten: getroffen von einem Sonnenstrahl, einem Blick, einer Kugel.

Er war strahlend und verwundbar.

Er war ein Mensch.

Ein zweites Bild inmitten der morgendlichen Menge auf dem Weg zur Arbeit: ein Kriegsschauplatz.

Auf einem Karren, zwischen hastig zusammengeschnürten Bündeln und schreienden Kindern, sitzt eine alte Frau mit einem Nadelspiel. Sie strickt. Die einfachste Antwort auf die ewigen Zerstörungen des Krieges ist, das einmal Begonnene fortzusetzen.

Glücklich bist du der Kugel entronnen, und solange du lebst, hat es einen Sinn, auch noch den zweiten Strumpf zu vollenden. Selbst wenn es den Menschen um dich herum gefällt, Weltuntergang zu veranstalten, hat es immer noch einen Sinn, sich auf den kommenden Winter vorzubereiten.

Vorlieben.
Unerklärliche Abneigungen.
Plötzliche Affekte.
Ein Mensch schenkt einem anderen eine Kirsche.
Seine einzige.
Sie verbeugen sich voreinander.
Ein japanisches Gedicht spricht davon, dass ausgerechnet das Feuer den Menschen das Wesen eines Schneeballs zu erklären vermag.
Kann man den Charakter eines lebendigen Menschen zusammenfassen in einer einzigen Geste, einem Satz oder Blick?
Dürfen wir uns dem Augenblick anvertrauen, einem Windhauch?
Noch in den Todeszellen der Nationalsozialisten wurde mit Gott gerungen, es wurden Briefe geschrieben, Gedichte gelesen und übersetzt. Derjenige, dem etwas wichtiger war als er selbst, tat, was er tun musste, bis man ihm die Hände band und den Mund für immer verschloss.

Ringe mit ihm, deinem Engel, bis der Morgen graut.
Dieser Kampf ist der Preis der Freiheit.
Jedem Kind ins Stammbuch zu schreiben.
Nur sollen Kinder heute — und wohl zu allen Zeiten — erst gar nicht auf die Idee kommen, sich ein Bild von der Freiheit zu machen. Zu Weihnachten und überhaupt bekommen sie Dinge geschenkt, um sich abzulenken. So werden sie groß und hart.

Das Ende der Kindheit als Triumph der Vernunft über ein tiefes inneres Wissen um Zusammenhänge.

Für den Satz „Ich will aber ein schöner Mensch werden“ muss man in Kauf nehmen, verlacht zu werden.

Ein Gedanke fällt mir ein aus Hannah Arendts Biografie über Rahel Varnhagen: wie man nämlich aus einer ganz unmöglichen Situation, die einen als Menschen komplett infrage stellt, herauskommt, das ist die entscheidende Erfahrung. Nur wer sie im Augenblick erkennt und ihr nicht ausweicht, der hat die Chance, tiefer zu blicken, vielleicht zum Leben zu gelangen

„Man muss das Leben nicht verstehen, dann wird es wie ein Fest.“ Das steht in einem Gedicht von Rilke, und ich fand diese Zeile wieder auf einem schlichten Grabstein irgendwo.

Der Kinderwunsch, aufzubrechen und nicht zu wissen, wohin.

Eine kleine Statue im Archäologischen Museum von Taranto: Le acrobate. Drei kleine, dicke Turnerinnen. Zwei machen einen schiefen Handstand, die mittlere eine einhändige Brücke. Es fällt ihnen gar nicht ein, dass sie fallen, ja dass sie scheitern könnten in ihrer Suche nach Lebendigkeit, nach Glück.


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