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Der deutsch-sowjetische Krieg

Der deutsch-sowjetische Krieg

Der Überfall der Nazis auf die Sowjetunion führte zum bisher verheerendsten Krieg der Menschheitsgeschichte — das Wissen über seine verschiedenen Aspekte hat gerade heute eine immens politische Bedeutung. Teil 1/2.

Die geopolitische Lage Deutschlands war von jeher schwierig. Im Zentrum Europas gelegen wurde das Land stets in sämtliche Konflikte hineingezogen, konnte eine Nationalstaatsbildung erst spät stattfinden. Um in der Konkurrenz mit den dominanten „Seemächten“ Großbritannien und später den USA, die die Weltmeere kontrollieren, bestehen zu können, war eine Ausrichtung auf die eurasische Landmasse immer logisch.

Diese Ausrichtung konnte entweder die Form einer Kooperation oder Konfrontation mit Russland annehmen. Kanzler Otto von Bismarck verstand die schwierige geopolitische Lage Deutschlands sehr gut. Er förderte deshalb gute Beziehungen zu Russland und schloss mit Russland 1887 den „Rückversicherungsvertrag“ ab. Seine Nachfolger waren weniger weitsichtig und führten Deutschland in den Zweifrontenkrieg des Ersten Weltkrieges, wobei die Staats- und Militärführung auf eine Kolonisierung Osteuropas setzten.

Von der Kooperation zur Konfrontation

Nach der Kriegsniederlage und dem vernichtenden Vertrag von Versailles versuchte Deutschland 1922 eine Neuorientierung. Unter Außenminister Walter Rathenau wurde in Rapallo ein Vertrag mit der Sowjetunion unterzeichnet. Damit wollten zwei geächtete Länder aus der Isolation ausbrechen, Deutschland seine Verhandlungsposition gegenüber den Westmächten stärken. Beide Staaten verzichteten auf gegenseitige Reparationsforderungen. Außerdem wurde die Lieferung von deutschen Industrieanlagen an Sowjetrussland vereinbart und umgekehrt die von russischem Öl und von Ölprodukten an Deutschland, das dadurch die Abhängigkeit von britischen und US-Ölkartellen mindern wollte. Darüber hinaus wurde eine militärische Kooperation vertraglich fixiert (1).

Teile der bürgerlichen Kräfte in Deutschland unterstützten den Vertrag, mehr oder weniger taten das auch die KPD sowie nationalbolschewistische Strömungen, die für eine Kooperation mit Sowjetrussland warben. Eine Gegnerin des Vertrages von Rapallo war die Sozialdemokratie — aus einer antisowjetischen Haltung heraus, die mit einer Unterwürfigkeit gegenüber Versailles einherging. Ebenfalls ablehnend reagierten Teile der extremen Rechten — aufgrund ihre antislawischen und antisemitischen Frontstellung gegen Russland und die Bolschewiki. Besonders scharf wandte sich Adolf Hitler, der Vorsitzende der 1920 gegründeten Kleinpartei NSDAP, gegen den Vertrag von Rapallo.

Alarmiert war aber auch die französische herrschende Klasse, die fürchtete, den Zugriff auf das besiegte Land zumindest partiell zu verlieren. Wichtige Teile der britischen Eliten, etwa im Königshaus, sahen ohnehin die Sowjetunion als Hauptfeind an, fürchteten eine deutsch-russische Verständigung und hegten gewisse Sympathien für die Nazis, weil diese die kommunistische Bewegung in Deutschland zuerst rabiat bekämpft und später zerschlagen hatten und weil die Hitleristen die Garanten für den deutsch-russischen Konflikt waren. Dass einige westliche Großindustrielle — etwa die Eigentümer von Ford, Shell und IBM — sowie US-Banken bei der Finanzierung der NSDAP halfen, könnte durchaus auch mit solchen geopolitischen Motiven verbunden gewesen sein (2).

In Deutschland gewannen dann jedenfalls die Kräfte an Boden, die nicht auf Kooperation mit der Sowjetunion setzten, sondern auf ihre Zerschlagung und auf die Eroberung von Einflussgebieten. Der Geografieprofessor Karl Haushofer, der in Japan gelebt und sich besonders mit dem pazifischen Raum und mit Geopolitik beschäftigte und ab 1924 die „Zeitschrift für Geopolitik“ mit herausgab, sprach vom „Lebensraum im Osten“ und trat dabei für Zukunftsoptionen eines Bündnisses zwischen Berlin, Moskau und Tokio ein. Über Rudolf Heß, der zeitweilig als Haushofers Assistent tätig war, lernte der Professor auch Hitler kennen. Auch wenn Haushofers Verhältnis zu den Nazis ambivalent war (3), waren seine Ansätze Impulse für Hitlers geopolitische Überlegungen.

Kolonialisierungspläne

Die Perspektive vom „Lebensraum im Osten“ wurde jedenfalls von Hitler geteilt. Im zweiten Band von „Mein Kampf“, erschienen 1927, sah Hitler die oberste Devise darin, „dem deutschen Volk den ihm gebührenden Grund und Boden dieser Erde zu sichern“. Das Verhältnis zu Russland werde dabei der „Prüfstein“ für Deutschland sein (4). 1941 stellte Hitler folgenden Vergleich an: „Was für England Indien war, wird für uns der Ostraum sein“ (5).

Und ebenfalls während des Krieges äußerte „der Führer“ sein geopolitisches Verständnis:

„Der Kampf um die Weltherrschaft wird für Europa durch den Besitz des russischen Gebietes entschieden werden. Jegliche Vorstellung von Weltpolitik ist (für Deutschland) lächerlich, solange es nicht den Kontinent beherrscht. (...) Wenn wir die Herren Europas sind, werden wir die dominante Stellung in der Welt haben. Wenn das (britische) Imperium heute durch unsere Waffen zusammenbrechen würde, wären nicht wir seine Erben, weil Russland Indien, Japan Ostasien und Amerika Kanada nehmen würde“ (6).

Obwohl sich Nazi-Deutschland seit September 1939 durch den Hitler-Stalin-Pakt in einer Art Bündnis mit der Sowjetunion befand und Polen untereinander aufgeteilt hatte, hat die NS-Führung ihre aggressive Ostexpansion nie aufgegeben. Seit Sommer 1940 wurde nicht nur der Angriff auf die Sowjetunion, sondern von deutschen Generälen, Beamten und Großkonzernen auch eine wirtschaftliche Neuordnung vorbereitet, nämlich eine autarke Großraumwirtschaft unter deutscher Führung, die ganz Europa bis zum Ural umfassen sollte. Dafür wurde bis Juni 1941 ein Netzwerk von Organisationen mit 20.000 Experten geschaffen, um Russland im Sinne dieses Konzeptes umzukrempeln und auszubeuten.

Die Grundüberlegung dabei war eine Arbeitsteilung zwischen Industrie in Deutschland und Rohstoffen und Lebensmitteln aus Russland, also eine Entindustrialisierung Osteuropas. In zwei zentralen Dokumenten – „Wirtschaftspolitische Richtlinien für Wirtschaftsorganisation Ost" und „Richtlinien für die Führung der Wirtschaft in den neu besetzten Ostgebieten“ – wird ein detailliertes Programm zur Kolonisierung der Sowjetunion formuliert, das zum Ziel hatte, den europäischen Teil der Sowjetunion in eine Agrarkolonie zu verwandeln, und ausdrücklich die Vernichtung ganzer Völkerschaften einschloss.

Die landwirtschaftlichen Zuschussgebiete im Norden sollten hermetisch von den Überschussgebieten im Süden abgeriegelt werden: „Daraus folgt zwangsläufig ein Absterben sowohl der Industrie wie eines großen Teils der Menschen in den bisherigen Zuschussgebieten.“ In einer Aktennotiz vom 2. Mai 1941 heißt es offenherzig:

  1. „Der Krieg ist nur weiterzuführen, wenn die gesamte Wehrmacht im dritten Kriegsjahr aus Russland ernährt wird.
  2. Hierbei werden zweifellos zig Millionen Menschen verhungern, wenn von uns das für uns Notwendige aus dem Land herausgeholt wird.
  3. Am wichtigsten ist die Bergung und Abtransport von Ölsaaten, Ölkuchen, dann erst Getreide. Das vorhandene Fett und Fleisch wird voraussichtlich die Truppe verbrauchen.
  4. Die Beschäftigung der Industrie darf nur auf Mangelgebieten wieder aufgenommen werden“ (7).

Millionen Russen sollten so auch zur Abwanderung nach Sibirien gebracht werden, um Platz für „germanische Wehrbauern“ zu schaffen. Mit dem „Generalplan Ost“ wurde ab 1940 auch eine Zivilverwaltung der eroberten Gebiete vorbereitet und Ansiedlung von Deutschen vorbereitet, im Ingermanland südlich von Leningrad oder im sogenannten Gotengau, der das Gebiet um Cherson und die Krim umfassen sollte. In diesen Planungen spielten vor allem SS-Chef Heinrich Himmler und Alfred Rosenberg, ein Deutsch-Balte und NS-Ideologe, wichtige Rollen. Zwischen fünf und zwölf Millionen deutsche Siedler waren dafür angedacht.

Im Umgang mit den Völkern in den besetzten Gebieten gab es durchaus auch Differenzen in der NS-Führung. Himmler betonte bereits im Mai 1941, „dass wir nicht nur das größte Interesse daran haben, die Bevölkerungen des Ostens nicht zu einen, sondern im Gegenteil in möglichst viele Splitter zu zergliedern“ und deshalb möglichst viele Völkerschaften anzuerkennen (8).

Die Kolonialisierungspläne gegenüber Osteuropa waren letztlich Ausdruck des Interesses des zu spät gekommenen und mit Versailles angeschlagenen deutschen Imperialismus, sich durch die Ausplünderung Osteuropas wieder zu stärken. Dabei ging die Nazi-Führung davon aus, dass die Sowjetunion ein instabiles Land wäre, das ein einziger kräftiger Schlag zum Zusammenbruch bringen würde. Und die anfängliche Entwicklung des sogenannten Unternehmen Barbarossa schien Hitler & Co. recht zu geben. Der deutsche Überfall traf die Sowjetunion ziemlich unvorbereitet. Die sowjetische Führung um Josef Stalin klammerte sich an den Hitler-Stalin-Pakt und weigerte sich, den zahlreichen Informationen über einen bevorstehenden Angriff ernsthaft Beachtung zu schenken.

Politisch unvorbereitet

Die sowjetischen Truppen befanden sich also nicht in Kampfbereitschaft. Selbst elementare Abwehrmaßnahmen wurden versäumt. Die Truppen wurden weiterhin wie im Frieden ausgebildet. Große Teile der Einheiten befanden sich auseinandergerissen in verschiedenen Ausbildungslagern – die Fliegerabwehr beispielsweise nicht bei den Flughäfen. Zu allem Überfluss hatte man eine weitere Reorganisation der Streitkräfte eingeleitet, sodass fast die gesamten Panzertruppen einsatzunfähig waren. So war es den deutschen Bombern möglich, große Mengen Kriegsgerät auf unverteidigten Stützpunkten zu zerstören.

Die Masse der sowjetischen Truppen befand sich in Lagern und Kasernen im Landesinneren. Im 4.500 Kilometer langen und 400 Kilometer tiefen Grenzgebiet waren nur etwa 100.000 Soldaten stationiert, die beim Angriff den konzentrierten deutschen Stoßtruppen gegenüberstanden. Und selbst diese Grenztruppen waren auf den Angriff nicht vorbereitet und kämpften zunächst ohne Schießbefehl und unter widersprüchlichen Anweisungen von oben.

Seit dem Hitler-Stalin-Pakt (9) im Spätsommer 1939 unterstellte die sowjetische Führung ein friedliebendes Deutschland. Der Volkskommissar des Äußeren V. M. Molotow erklärte im Oktober 1939 vor dem Obersten Sowjet:

„Wenn wir heute von den bedeutendsten europäischen Mächten sprechen, befindet sich Deutschland in der Lage eines Staates, der möglichst bald ein Ende der Feindseligkeiten und den Frieden sucht, während England und Frankreich – die gestern noch gegen die Aggression gesprochen haben – heute für eine Fortsetzung des Krieges und gegen einen Friedensschluss auftreten. (...)Die englische Regierung hat erklärt, ihr Kriegsziel sei nicht mehr oder weniger als die Vernichtung des Hitlerismus.

Daraus folgt (...), dass in England die Kriegskrämer so etwas wie einen ideologischen Krieg gegen Deutschland erklärt haben, der an die alten Religionskriege erinnert. (...) Solche Kriege können nur zum wirtschaftlichen Niedergang und kulturellen Ruin der Völker, die sie zu erdulden haben, führen – doch sie gehen auf das Mittelalter zurück. (...) Ein solcher Krieg kann in keinster Weise gerechtfertigt werden. Die Ideologie des Hitlerismus kann wie jedes andere ideologische System angenommen oder abgelehnt werden – das ist eine Frage der politischen Meinung. Doch jedermann versteht, dass man eine Ideologie nicht mit Gewalt ausrotten kann. (...) Es ist daher sinnlos, ja kriminell, einen solchen Krieg zur ‚Vernichtung des Hitlerismus' zu führen“ (10).

Und Stalin fügte Ende November 1939 hinzu:

„Nicht Deutschland hat Frankreich und England angegriffen, sondern Frankreich und England haben Deutschland angegriffen und damit die Verantwortung für den jetzigen Krieg auf sich genommen“ (11).

Die sowjetische Bevölkerung war also politisch nicht auf den Krieg vorbereitet.

Und bis kurz vor dem Überfall hielt die Sowjetunion sämtliche Vereinbarungen des Hitler-Stalin-Paktes strikt ein und kam auch ihren wirtschaftlichen Lieferverpflichtungen gegenüber dem kriegführenden Deutschland vertragsgetreu nach, obwohl letzteres seine immer mehr vernachlässigte. Noch unmittelbar vor dem Angriff rollten die Züge mit sowjetischem Erdöl, Kupfer, Kautschuk, Getreide und anderen Rohstoffen über die Grenze.

Militärisch unvorbereitet

Die territoriale Expansion der Sowjetunion in Osteuropa infolge des Paktes war zur Abwehr des Überfalls wertlos, weil keine neue strategische Verteidigungslinie errichtet wurde. Gleichzeitig wurde aber der alte Verteidigungsgürtel, den man in den vorangegangenen Jahren unter großen Anstrengungen erbaut hatte, zweckentfremdet oder zerstört, sodass sich die militärstrategische Ausgangsposition zu Kriegsbeginn sogar noch verschlechterte. Demgegenüber hatte Deutschland systematisch seine Truppen an der sowjetisch-polnischen Grenze und in Rumänien und Bulgarien zusammengezogen.

Die Sowjetunion hatte zwar Ende der 1930er Jahre die Anstrengungen in der Rüstung verstärkt und die Mannschaftsstärke der Truppen erhöht, aber sowohl der quantitative als auch der qualitative Ausrüstungsstand der Roten Armee war relativ niedrig. Die Industrie hatte noch nicht mit der Massenproduktion moderner Waffen begonnen. Die sowjetischen Streitkräfte waren daher bei Beginn des deutschen Angriffs überwiegend mit veraltetem Gerät ausgestattet. Die Rote Armee war außerdem Mitte der 1930er Jahre grundlegend reorganisiert und vollständig nach dem Kaderprinzip strukturiert worden. Alle Truppenteile, die nach dem territorialen Milizprinzip organisiert waren, wurden aufgelöst, was die Verbindung mit der Bevölkerung und eine flexiblere Verteidigung massiv schwächte.

Vor allem litten die sowjetischen Truppen jedoch unter den Auswirkungen der stalinistischen Repressalien. Durch politisch motivierte Verhaftungen, Entlassungen und Degradierungen hatten die Streitkräfte Zehntausende ihrer fähigsten Kommandeure verloren und den größten Teil der Führungsschicht eingebüßt. Dabei trafen die Repressionen insbesondere die erfahrenen Kräfte, diejenigen, die eine politische und personelle Kontinuität zur revolutionären Vergangenheit der Roten Armee, zur Zeit vor der stalinistischen Bürokratisierung, verkörperten. Als Armeeführer wurde der fähige und erfahrene Offizier Michail Tuchatschewski, ein Mitstreiter Leo Trotzkis in der Roten Armee zur Zeit des Bürgerkrieges, durch den unbegabten treuen Stalinisten Klimet Woroschilow ersetzt.

Der Historiker Richard Lorenz fasst diese Entwicklung mit der Bemerkung zusammen, dass kein Land jemals in einem Krieg derartige Verluste an hohen und höchsten Offizieren hinnehmen musste wie die sowjetischen Truppen in den 1930er Jahren im Frieden.

Die Rote Armee stand unter der Führung von jungen und vergleichsweise unerfahrenen Offizieren, die mangelhaft ausgebildet und mit moderner Kriegsführung kaum vertraut waren. Im Sommer 1940 wurde festgestellt, dass von den 225 neuen Regimentskommandanten kein einziger ein volles Studium an einer Militärakademie absolviert hatte, nur 25 hatten eine Militärschule abgeschlossen und der Rest, 200, hatte gerade einen Unterleutnantskurs hinter sich. Um das schlimmste Chaos zu überwinden, wurden schließlich 4.000 Offiziere der Roten Armee aus den Arbeitslagern der Arktis zurückgeholt (12).

NS-Offensive und Besatzung

Die organisierte Passivität, die der Roten Armee von der stalinistischen Führung auferlegt worden war, machte zu Beginn Niederlagen unvermeidlich. Der faschistische Angriff, der sich auf eine hochgerüstete, vollständig mobilisierte und zu großen Teilen bereits kampferfahrene Armee und auf eine seit Langem vorbereitete Kriegswirtschaft und die Ressourcen der besetzten europäischen Länder stützte, brachte die Sowjetunion an den Rand des militärischen Zusammenbruches.

Die Luftabwehr und die Transportverbindungen wurden bis weit ins Landesinnere vernichtet. Die sowjetischen Truppen im Grenzgebiet wurden zerschlagen und mussten enorme Verluste an Menschen und Material hinnehmen. 150 von 200 Divisionen wurden aufgerieben. Der deutsche Vormarsch in den drei Hauptstoßrichtungen Leningrad, Moskau und Kiew war zunächst unaufhaltsam.

Die sowjetischen Truppen zogen sich unter großen Verlusten immer weiter zurück und mussten dabei riesige Territorien preisgeben, insgesamt ein Gebiet, in dem fast die Hälfte der industriellen und landwirtschaftlichen Produktion des Landes erzeugt worden war und auf dem 88 Millionen Menschen gelebt hatten.

Aufgrund der faschistischen Vertreibungs-, Ausbeutungs-, Vernichtungs- und Ausrottungspolitik waren die Opfer unter der Zivilbevölkerung ungeheuer. Von den gigantischen 60 bis 70 Millionen Toten des Zweiten Weltkrieges (13) hatte die sowjetische und dabei besonders die russische Bevölkerung etwa 35 bis 40 Prozent zu beklagen, etwa 26 Millionen, davon zu großen Teilen Zivilisten – im Vergleich mit 460.000 in Großbritannien und 420.000 in den USA, jeweils fast ausschließlich Soldaten.

Niemals zuvor war ein Land von einem derartigen Ausmaß an Zerstörung, Verwüstung und Entvölkerung betroffen gewesen wie die Sowjetunion. (14) Im September 1941 standen die deutschen Verbände vor der sowjetischen Hauptstadt. Die NS-Führung glaubte, dass der Krieg gegen die Sowjetunion bereits gewonnen sei. Sie sollte eine bittere Überraschung erleben.

Vorerst aber entwickelte sich über zwei bis drei Jahre eine Besatzungspolitik der Nazis, die vor allem Kolonialisierung und Ausbeutung im Blick hatte. Rosenberg sprach sich für eine „schonende Behandlung“ von Balten und Ukrainern aus, um diese „rassisch wertvolleren“ Völker zur Zusammenarbeit gegen die Russen zu gewinnen, was durchaus Erfolg zeitigte:

84.000 Westukrainer meldeten sich für den Dienst in der SS, bis zu 200.000 weitere mordeten in den Kollaborationsverbänden der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA) von Stepan Bandera, der von der aktuellen Regierung in Kiew als Nationalheiliger verehrt wird. Diese waren auch und insbesondere an Massakern an Juden, Russen und Polen beteiligt.

Und zusätzlich kämpften 110.000 Letten und 70.000 Esten in verschiedenen NS-Verbänden gegen die Rote Armee (15).

Nazi-Ideologen sahen in den Ukrainern die Nachfahren von Goten oder Wikingern. Von deutschen Militärs kam auch der Vorschlag, nach dem Vorbild des Ustascha-Regimes in Kroatien einen eigenen ukrainischen Staat zu schaffen, um die ukrainische Kollaboration zu systematisieren und die Wehrmacht zu entlasten. Das stand aber im Widerspruch zum Generalplan Ost und scheiterte am Einspruch Hitlers. Jedenfalls sollten sämtliche Juden und viele Russen aus dem neuen germanischen „Lebensraum“ verschwinden.

Über den Umgang mit den verbleibenden Russen machte sich der SS-Sturmbannführer und Ökonom Giselher Wirsing 1942 folgende Gedanken: Der deutsche und der russische Wirtschaftsraum würden sich gut ergänzen, weshalb die Voraussetzungen gegeben seien, „dass uns der Russe auf die Dauer nicht als Träger einer drückenden Fremdherrschaft empfindet, sondern dass er bereit ist, für sich selbst in dem von uns gezogenen Rahmen zu arbeiten und zu produzieren“. Die Kolonialzeit im britischen Stil gehe zu Ende, man solle deshalb in Russland eher behutsam vorgehen, um „ein Höchstmaß an produktiver Leistung erzielen zu können“ und aus den Russen ein „europäischen Werten aufgeschlossenes Volk zu formen“ (16).

Das Eintreten für diffuse „europäische Werte“ gegenüber den Russen klingt angesichts des aktuellen westlichen Narrativs geradezu modern.

Tatsächliche Versuche zu einem produktiven Wiederaufbau der besetzten Gebiete blieben allerdings im Ansatz stecken. Partisanenkampf und zunehmende Erfolge der sowjetischen Truppen machten all den NS-Kolonialisierungsplänen ein Ende. Eine Politik der verbrannten Erde verwüstete das Land immer mehr. Und der Vernichtungskrieg der Besatzer führte schlussendlich zu etwa 26 Millionen toten Sowjetbürgern, darunter fünf Millionen sowjetische Soldaten, die in deutscher Gefangenschaft verhungerten, erfroren oder ermordet wurden.

In Teil 2 geht es um die Bedeutung des militärischen Fordismus für den weiteren Kriegsverlauf, um die Neuorganisation der Sowjetunion während des Krieges, um die Bewertung der Schlacht um Stalingrad und schließlich um eine Gesamtbilanz des deutsch-sowjetischen Kriegs in Bezug auf den aktuellen historischen Diskurs in Russland und Deutschland.


Quellen und Anmerkungen:

(1) https://www.manova.news/artikel/streifzug-durch-die-geopolitik
(2) Siehe dazu: Antony Sutton: Wall Street und der Aufstieg Hitlers, Basel 2018
(3) Haushofers Frau Martha war „Halbjüdin“, sie und die beiden Söhne aber mit einem „Schutzbrief“ ausgestattet. Spätestens seit 1939 stand Haushofer dem Regime kritisch gegenüber. Sein Sohn Albrecht war dann 1944 am „Stauffenberg-Attentat“ beteiligt und wurde von der SS ermordet, Haushofer selbst im KZ Dachau interniert.
(4) Adolf Hitler: Mein Kampf, Band 2, Seite 739
(5) Gerhard Ritter (Hg.): Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier 1941-1942, Bonn 1951, Seite 42
(6) Adolf Hitler, Monologe im Führerhauptquartier 1941-1944, Seite 110.
(7) Rolf-Dieter Müller: Raub, Vernichtung, Kolonialisierung: Die deutsche Wirtschaftspolitik in den besetzten sowjetischen Gebieten 1941-1944, in: Hans Schafranek/Robert Streibel: 22. Juni 1941 — Der Überfall auf die Sowjetunion, Wien 1991, Seite 99 bis 103 sowie Richard Lorenz, Sozialgeschichte der Sowjetunion 1917-1945, Frankfurt/Main 1976
(8) Zitiert nach: Hannes Hofbauer: Feindbild Russland, Wien 2016, Seite 55.
(9) siehe zum Beispiel: Gerhard Bisovsky/Hans Schafranek/Robert Streibel, Der Hitler-Stalin-Pakt, Wien 1990
(10) V. M. Molotow, Rec po radio Predsedatelja Soveta Narodnych Komissarov SSSR, 17. sentjabrja 1939
(11) Josef Stalin, Prawda vom 30. November 1939, zitiert nach: Richard Lorenz, Sozialgeschichte der Sowjetunion 1917-1945, Frankfurt/Main 1976
(12) Lorenz, a.a.O.
(13) 60 oder 70 Millionen je nachdem, ob man auch die indirekten Opfer des Krieges, beispielsweise durch Hungersnöte, die durch den Krieg verursacht wurden, miteinbezieht.
(14) Ernst Klee/Willi Dreßen, „Gott mit uns“, Der deutsche Vernichtungskrieg im Osten 1939-1945, Frankfurt/Main, 1989
(15) https://www.manova.news/artikel/die-tradition-der-russenfeindlichkeit
(16) Giselher Wirsing: Die Zukunft der deutschen Herrschaft in Russland, zitiert nach: Hannes Hofbauer: Feindbild Russland, Wien 2016, Seiten 56 folgende und Seite 60


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