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Der Wiedervereinigungs-Mythos

Der Wiedervereinigungs-Mythos

Nur wer die Herrschaftslegenden zur Deutschen Einheit hinterfragt, versteht, warum es nach wie vor eine Ost-West-Spaltung gibt. Wir veröffentlichen daher unsere Sonderausgabe „30 Jahre Wende“, die vom 9. bis 16. November 2019 erscheint.

„Niemand wird Dir helfen. Niemand wird kommen und Dir eine Arbeit anbieten. Du musst begreifen, dass Du nichts erreichen wirst, wenn Du Dich nicht selbst darum kümmerst.“

Noch heute habe ich die Worte meiner Mutter im Ohr. Besorgte Dauerpredigten, die einem 16-Jährigen zum einen Ohr rein und zum anderen Ohr rausgehen. Scheinbar. Denn die Worte sind ja doch hängengeblieben. Es war etwa 1999 in meiner brandenburgischen Heimat. Als angehender Abiturient dachte ich vielleicht wirklich, die Welt fliegt mir nach der Schule zu, die Arbeitswelt warte nur auf tolle Leute wie mich. Ich weiß es nicht, an meine Gedanken von damals kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber an die Worte meiner Mutter.

In den vergangenen Monaten habe ich mich intensiv wie nie mit der DDR, der Zeit der Wende und den folgenden Transformationsjahren in Ostdeutschland beschäftigt. Und immer wieder kamen mir die Sätze meiner Mutter in den Sinn. Warum? So besonders sind die nicht. Wahrscheinlich sagen Eltern solche Sätze in Deutschland tagtäglich zigtausendfach. Erst langsam erschloss sich mir, dass in diesen — und vielen anderen — Aussagen meiner Eltern schwer errungene, entscheidende Einsichten der Wendezeit geronnen sind. Zehn Jahre zuvor hätte mir meine Mutter solche Empfehlungen wahrscheinlich nicht gegeben. Sie wären ihr vielleicht nicht mal in den Sinn gekommen.

Der tägliche Blick auf einen hoffnungslosen Arbeitsmarkt

Sie ist Lehrerin. Sie wusste, wovon sie spricht. Seit Jahren erlebte sie täglich, wie gering die Möglichkeiten ihrer Gesamtschüler am hoffnungslosen Brandenburger Arbeitsmarkt weit außerhalb des Berliner „Speckgürtels“ waren. Die beiden großen Betriebe meiner Heimatregion waren geschlossen worden. Und meine Mutter erlebte, welche katastrophalen Folgen es für Betroffene hatte, so wie früher auf staatliche Strukturen zu vertrauen. In den 1980er Jahren war das noch völlig anders. In der DDR wurde ja niemand arbeitslos — nicht mal, wenn man es wollte.

Meine Mutter hatte Ende der 1990er Jahre ihre persönlichen Lehren aus den Geschehnissen der Nachwendejahre gezogen. Erfahrungen, die auch mein Vater machen musste, der sich mit Leidensbereitschaft nach 1990 aus der Arbeitslosigkeit kämpfen musste. Sie hatten Lehren ziehen müssen, die ihrer eigenen Sozialisation in der DDR total entgegenstanden. Lehren von Eigeninitiative, Konkurrenzdenken, Ellenbogenmentalität und Selbstverantwortung. Einstellungen, die meine Mutter inzwischen als unverzichtbar identifiziert hatte, um im Haifischbecken Arbeitsmarkt eine Chance zu haben.

Sie selbst hatte zwar das Glück, im selben Beruf weiterarbeiten zu können wie vor der Wende — ein Glück, das nur wenige Ostdeutsche hatten — aber sie erlebte täglich, dass sich im vereinigten Deutschland niemand um die Menschen kümmert, im guten wie im schlechten Sinne. Sie erlebt das übrigens bis heute.

Ich musste später schmerzlich feststellen, dass meine Mutter Recht mit ihrer Mahnung hatte — zumindest teilweise. Denn in der modernen Bundesrepublik kann zwar tatsächlich niemand bei der Suche nach Arbeit, Wohnung oder Kinderbetreuungsplätzen auf Unterstützung durch öffentliche Strukturen vertrauen. Aber auch hier im Westen, in Hannover, wo ich seit 16 Jahren lebe, hilft man sich. Nur eben in zwischenmenschlichen und beruflichen Netzwerken, und in die muss man erstmal hineinfinden. Zudem ist hier die wirtschaftliche Lage weitaus rosiger und es gibt — anders als in Brandenburg — viel bessere Chancen, eine Arbeit außerhalb des Niedriglohnsektors zu finden. Im Osten schützt ein Diplom nicht vor solch einem Schicksal.

Der Osten ist Niedriglohnland

In Ostdeutschland liegt die Arbeitslosenquote seit der Einheit durchgängig deutlich über der Quote des Westens. Jahrelang war sie annähernd doppelt so hoch. Diejenigen, die zumindest Arbeit haben, verdienen zu großen Teilen drastisch wenig Geld. Jeder dritte Arbeitnehmer in den neuen Ländern ist im Niedriglohnsektor tätig. Von den besser Bezahlten fürchten viele, genau da hineinzurutschen.

Entsprechend unterdurchschnittlich ist die Kaufkraft der Menschen im Osten verglichen mit den Westdeutschen. Noch auf Jahrzehnte hinaus werde die „Finanzschwäche“ der ostdeutschen Länder anhalten, berichtete kürzlich das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Die ökonomischen Unterschiede zwischen Ost und West werden sich laut Studie „in den kommenden 30 Jahren sogar wieder verstärken“.

Die verlängerte Werkbank des Westens

Von „Aufholen“ kann schon lange keine Rede mehr sein. Die Wirtschaftsleistung im Osten ist weitaus niedriger als im Westen — folglich auch die Steuereinnahmen der neuen Bundesländer. Ostdeutschland ist heute eine „Filialökonomie“ des Westens, schreibt der Wirtschaftswissenschaftler Jörg Roesler (1). Das bedeutet, die Betriebe im Osten sind fast ausschließlich Zweigwerke westdeutscher oder ausländischer Konzerne. Eine direkte Folge der Privatisierungs- und Liquidierungspolitik der Treuhand.

Ihre Steuern zahlen diese Unternehmen im Westen, wo die Konzernzentralen sitzen. Dort befinden sich meist auch die Abteilungen für Forschung und Entwicklung, das Marketing und das Controlling — mithin das gesamte höhere und der Großteil des mittleren Managements sowie alle weiteren höher qualifizierten Arbeitsplätze. Investitionsentscheidungen werden ebenfalls im Westen getroffen. Die Betriebsteile im Osten sind lediglich verlängerte Werkbänke, also die Teile mit der niedrigsten Wertschöpfung und der geringsten Entscheidungsbefugnis.

Zur Verdeutlichung: Roesler spricht hier nicht von der ungleichen Ost-West-Verteilung innerhalb eines einzelnen Unternehmens, sondern von einem flächendeckenden Strukturnachteil des gesamten Ostens. Der „brain drain“ — also die Abwanderung vieler sehr gut qualifizierter Einwohner — aus Ostdeutschland bleibt unter solchen Voraussetzungen noch lange erhalten.


ZDF: Die Anstalt vom 5. November 2019


Stasi, Mauer, Warenmangel

„Und was hat das jetzt mit dem Mauerfall zu tun?“, fragt sich nun wohl mancher Leser. „Der Autor schreibt ja gar nichts über die DDR, über die Stasi, über das Ende der Mangelwirtschaft, die Montagsdemos und über die deutsch-deutsche Freude der Menschen dieser Tage!“ Ja, zum 30. Jahrestag der DDR-Grenzöffnung konzentrieren sich viele Medien genau darauf. Mal wieder. Alle Jahre wieder. Auch in diesem Rubikon-Schwerpunkt kommt der Wendeherbst zur Sprache. Allerdings nicht in der regierungsamtlichen Version, sondern in Interviews und Erfahrungsberichten von und mit Augenzeugen, die damals demonstrierten und die DDR reformieren wollten.

Doch anders als in den etablierten Medien, wo die westdeutsch dominierte Mainstreamerzählung mit den Berliner Partybildern von der Mauer 1989 viel zu oft endet, geht es auch um die Zeit danach, es geht ums Heute und ums Morgen. Warum geht es dem Osten wirtschaftlich schlecht? Warum ist er nach 30 Jahren noch immer weit entfernt von der Angleichung der Lebensverhältnisse, die die Bundesregierung 1990 in wenigen Jahren angeblich erreichen wollte? Warum ist die AfD so erfolgreich im Osten? Wann fällt die Mauer in den Köpfen? Wohin soll das alles noch führen?

Meine Entscheidung, mich an dieser Stelle auf die Zeit nach 1989 zu konzentrieren, ist eine Grundsatzentscheidung. In den alten Bundesländern wird häufig reflexhaft versucht, die abweichende Entwicklungen des Ostens nicht mit der Zeit nach der Maueröffnung, sondern mit der Zeit davor zu erklären. Natürlich sind solche Überlegungen nicht grundsätzlich von der Hand zu weisen, beide Zeiträume sind und bleiben zur Erklärung notwendig. Doch warum spielt die Zeit ab 1990 so auffällig selten eine Rolle bei westdeutschen Erklärungsversuchen?

Schuldfrage: DDR oder Neoliberalismus

Tatsächlich ist dies ein zentraler Konfliktpunkt in der politischen Analyse heutiger gesamtdeutscher Zustände. Was den Osten negativ vom Westen unterscheidet, muss auf den autoritären Sozialismus und dessen Indoktrination direkt oder indirekt zurückzuführen sein. Jedenfalls nicht auf die 30 Jahre Neoliberalismus danach, so die vorherrschende Sicht der westdeutsch dominierten Welterklärer in Politik und Medien.

Hier ein paar unter zahllosen Beispielen: Spiegel Online verglich in einem Artikel kürzlich die gesundheitlichen Entwicklungen der Deutschen in Ost und West seit 1989. Im Osten sterben bis heute mehr Menschen an den Folgen von Alkoholismus als im Westen. Statt als mögliche Erklärung für den Griff zur Flasche den Frust vieler Ostdeutscher über Massenarbeitslosigkeit, prekäre Lebensumstände und sozialen Abstieg heranzuziehen (2), identifiziert der Spiegel das Alkoholproblem als „Altlast“ der DDR:

„Tatsächlich wurde in kaum einem Land so viel Bier und Schnaps konsumiert wie in der DDR, obwohl übermäßiger Alkoholkonsum als dem ‚Sozialismus wesensfremd’ galt. Alkohol war Genuss-, Stärkungs- und Tauschmittel sowie ein beliebtes Geschenk — und im Gegensatz zu anderen Drogen gut verfügbar.“

Soweit also Spiegel Online. Zusammengefasst: Den Ossis geht es eigentlich gut. Sie haben gar keinen Anlass, um Alkoholiker zu werden. Aber weil sie es aus der DDR nicht anders kannten, saufen sie bis heute weiter. So gesehen sind wahrscheinlich auch die westdeutschen Leberkranken nur übergesiedelte Ostdeutsche.

Von LPG-Ignoranten und Töpfchen-Nazis

Argumentationen, die auf Teufel komm‘ raus die DDR für alles Schlechte in die Verantwortung nehmen, aber so gut wie nie die kapitalistische Verwahrlosung ab 1990, tauchen beim Thema Ostdeutschland immer wieder auf. Der damalige brandenburgische Innenminister Jörg Schönbohm (CDU), ein Bundeswehrgeneral a.D., hatte 2005 im Zusammenhang mit dem Mehrfachmord einer brandenburgischen Mutter an ihren Neugeborenen die soziale Verwahrlosung und Gleichgültigkeit des Umfelds der Frau auf die Kollektivierung der DDR-Landwirtschaft zurückgeführt. Ein durchaus kreativer Gedankengang.

Der hannoversche Kriminologe und spätere niedersächsische Justizminister Christian Pfeiffer erklärte 1999, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit im Osten rührten vom gemeinsamen Aufs-Töpfchen-Gehen in DDR-Kinderkrippen. Als gelernter Soziologe und ostdeutscher Anti-Rassist, der selbst in einer DDR-Krippe war, kann ich nur mit einer sarkastischen Empfehlung reagieren: Wenn Rassismus im Jahr 2019 dort immer noch ein viel größeres Problem als im Westen ist, dann sollte doch endlich jemand diese bis heute versteckt weiterbetriebenen DDR-Krippen dichtmachen.

Heilsames Westfernsehen verhindert Fremdenfeindlichkeit

Schon sind wir bei einem zentralen Thema der heutigen Diskussionen über den Osten. Seit den Pegida-Demos in Dresden und den AfD-Erfolgen in den neuen Ländern wird im Westen über die Gründe für diese Phänomene gerätselt. Der Historiker Heinrich-August Winkler beispielsweise entwickelte folgende Erklärung: Verantwortlich für den Pegida-Zustrom ab 2015 sei — kein Witz — das Fehlen des pluralistischen Westfernsehens in der Region um Dresden vor 1989 (Tal der Ahnungslosen). „Das wirkt bis heute nach“, meint Winkler. Ein Glück, dass ZDF, Sat.1 und RTL mit ihren Programminhalten heute für mehr Sachinformationen und weniger Emotionalität, Abwertung und Ausgrenzung arbeiten.

Eine etwas neuzeitlichere, wenn auch parteipolitisch erwartbare, Erklärung bot in diesem Jahr Christian Hirte (CDU), der Ostbeauftragte der Bundesregierung, an: Die Linke ist schuld. Die Daueropposition und Systemkritik ihrer Vorgängerpartei PDS habe den Boden für die heutigen AfD-Wahlerfolge im Osten bereitet. „Man könnte sagen, dass die PDS-Linke gesellschaftlich gesät hat, was heute die AfD erntet.“

Ja, Herr Hirte, nur die seit 29 Jahren herrschende neoliberale Politik hat nichts gesät. So zimmert man sich in Berlin eine Welt zurecht, wie sie der „GroKo“ gefällt. Die Beispiele zeigen: Bundesdeutsche Macht- und Deutungseliten verbreiten jede noch so kreative Vermutung. Nur nicht die wirklich nahe liegende Ursache: die herrschende Politik. Fast 30 Jahre von eben diesen Eliten verordneter Neoliberalismus — manche sprechen von „Abbau Ost“ — haben die einst vorhandene Bereitschaft zur Solidarität der Menschen im Osten geschwächt.

Fremdenfeindlichkeit und krimineller Neoliberalismus

Sicher, ostdeutsche Rassisten hat es schon vor 1989 gegeben. So wie es Rassisten auch zu anderen Zeiten und in anderen Ländern gab. Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sind keine Erfindungen der DDR. Das sollte hier einmal festgehalten werden, da zahlreiche Medien heute einen gegenteiligen Eindruck zu erwecken versuchen.

Entscheidend ist, wie sich rechtsradikale Strukturen im Osten nach Ende der DDR ausweiten und verfestigen konnten. Die Hauptverantwortung hierfür liegt in der ausgrenzenden Politik der seit damals agierenden Bundesregierungen. Die Treuhand war nur der ausführende Arm. Auftrag und Vorgaben erhielt sie aus Bonn. Durch die monströse Schocktherapie ab 1990 brachen im Osten nahezu sämtliche Strukturen, Bindungen und Gewissheiten weg. Ja, es kamen „freie Wahlen“, sauberere Luft, Reisefreiheit, die große bunte Warenwelt und sanierte Innenstädte. Es kamen aber auch Arbeitslosigkeit, Abstieg, Abwertung, Prekarität, Sozialabbau, Deindustrialisierung, Privatisierung, Rückbau der Infrastruktur, Massenabwanderung, Demütigung. Nur wenige Ostdeutsche gewannen dabei ausschließlich. Und auch die Gewinne mussten hart erarbeitet werden.

Transformationsprozess ohne Verantwortliche?

Auch der Ostbeauftragte Christian Hirte weiß, um die bis heute anhaltenden Folgen der politisch gewollten Schocktherapie, benennt die Verantwortlichen aber nicht:

„Im Westen ist bis heute nicht bekannt, wie dramatisch der Transformationsprozess im Osten nach dem Mauerfall war. Das Leben für die Menschen hat sich radikal geändert. Ihre beruflichen Karrieren und Ausbildungsabschlüsse wurden abgewertet, weil sie nicht mehr in das neue Wirtschaftssystem passten. Die große Anfangseuphorie schwenkte irgendwann in eine große Verlustangst im Osten um. Diese Negativerfahrungen sind der Grund für die tiefe Skepsis in den neuen Bundesländern gegenüber den neuen Veränderungswellen.“

Doch war es eben seine Partei, die CDU, die diesen Prozess vorantrieb. Mit Unterstützung der FDP, später auch der SPD und der Grünen. Es handelte sich um aktive zerstörerische Entscheidungen der Politik. 30 Jahre lang trainierten diese Parteien den Ostdeutschen aktiv die Solidarität ab. Stattdessen wurden Ideen wie Flexibilität, Eigenverantwortung, Konkurrenzdenken, Ich-AGs und Individualisierung propagiert. Und plötzlich wundert man sich in Politik und Medien, dass ein Teil (!) der Ostdeutschen nicht mit Flüchtlingen solidarisch ist?

Wären die herrschenden Politiker ehrlich, müssten sie zugeben, dass ihre anti-sozialen Werte zu einem guten Teil erfolgreich vermittelt wurden. Die neoliberalen Politikkonzepte der marktkonformen Demokratie haben ihr Ziel erreicht. Doch tun die herrschenden Parteien so, als hätten sie damit nichts zu tun. Als wären sie mit ihrer Politik von Treuhand über Agenda 2010 bis hin zur Bankenrettung und gewalttätiger Außenpolitik nicht verantwortlich für Egoismus, soziale Kälte und Verrohung in diesem Land.

Fassadendemokratie für den Osten

Doch statt Selbstkritik hört man von politischen Verantwortlichen eher, dass doch die ostdeutschen Altstädte so schön renoviert wurden, wie es kürzlich erst die Anstalt im ZDF satirisch darstellte. Statt in Fassaden hätte die herrschende Politik jedoch besser in die Zukunft der Menschen investieren sollen. Die These sei erlaubt: Lieber zeitlich begrenzt Milliarden in die Modernisierung der ostdeutschen Wirtschaft statt unbegrenzt Milliarden in die Transfersysteme und in die Taschen superreicher Investoren. Die Fassaden wären auch auf diese Weise farbig geworden. Doch was kam war die massenhafte Abwicklung der ostdeutschen Wirtschaft, bei der die Betroffenen kein Wort mitzureden hatten. Bunte Häuser statt pluraler Mitbestimmung — ich vermeide nun jedes Wortspiel mit „Fassadendemokratie“.

Resultat ist eine tief eingebrannte Verlustsangst bei vielen Ostdeutschen. Verlustangst und ökonomischer Dauerdruck sind keine guten Vorrausetzungen, damit Menschen Solidarität für andere Menschen aufbauen. Die meisten Ostdeutschen haben trotzdem verstanden, dass nicht die armen Kriegs-, Klima- und Wirtschaftsflüchtlinge ihre Feinde sind. Ich selbst habe in meinem heimatlichen Umfeld nur ein einziges Mal erlebt, dass sich jemand abfällig über Flüchtlinge äußerte. „Der Wessi“ hingegen ist im Osten bis heute das weitaus präsentere Feindbild.

Unnötige Ost-West-Spaltung

Auch diese Spaltung ist gefährlich und unnötig. Gefährlich, denn sie dient wie viele andere Spaltungstechniken — Alt gegen Jung, Mann gegen Frau, Inländer gegen Ausländer — dazu, die entscheidende gesellschaftliche Spaltung zu überdecken: die zwischen arm und reich. Die Spaltung ist unnötig, da beide, der Ossi und der Durchschnitts-Wessi, eigentlich auf derselben Seite stehen. Beide haben mit der Deutschen Einheit die guten Seiten ihrer Herkunftsländer verloren. Den jeweiligen Sozialstaat und die zumindest zeitweise auf Frieden und Verständigung orientierte Außenpolitik. Im Osten war alles sofort futsch, im Westen ging es schrittweise.

Beide hatten zu zahlen: Die Ostdeutschen zahlten mit ihren Arbeitsplätzen, mit ihrem Volkseigentum — zumindest hätte es das werden können — und mit der plötzlichen Entwertung ihrer Lebensleistungen. Die Westdeutschen profitierten zwar von dem wirtschaftlichen Einheitsaufschwung Anfang der 1990er Jahre, zahlten aber mit Steuergeldern in Billionenhöhe. Doch Obacht, dieses Geld landete nur zu kleinen Teilen in den Taschen der Ostdeutschen. Es floss größtenteils weiter in die Taschen sowieso schon reicher „Investoren“ und Unternehmenseigentümer. Dafür sorgte die Treuhand im Auftrag der Bundesregierung. Und die Schulden dafür zahlen wir alle zusammen bis heute. Auf die Friedensdividende warten wir ebenso gemeinsam weiter — Westdeutsche und Ostdeutsche. US-Panzer rollen heute durch die neuen Bundesländer in Richtung russischer Grenze.

Gleiche Erfahrungen führen zu ostdeutscher Solidarität

Eine besondere Solidarität, die es in der alten Bundesrepublik nicht gibt, hat sich im Osten nichtsdestotrotz entwickelt. Es ist eine Mischung aus mentalem Zusammenhalt und trotzigem Stolz, die sich manchmal im Umgang mit Westdeutschen zeigt. Das hat wenig mit Nationalismus oder DDR-Nostalgie zu tun, sondern ist eher die Gewissheit, dass es im ganzen Osten fast allen Menschen ähnlich ergangen ist — vor der Wende und danach. Das schafft eine mentale Einheit innerhalb der neuen Länder.

Dazu nochmal ein persönliches Erlebnis: Meine inzwischen verstorbene Oma, eine resolute Frau, die in der DDR als Tankwartin arbeitete, saß vor zehn Jahren bei einer Feier einem etwa gleichaltrigen westdeutschen Ehepaar aus Baden-Württemberg gegenüber. Mitfühlend und überzeugt, vor sich eine Frau zu haben, die in der kommunistischen Diktatur schwer gelitten haben muss, fragte der Mann meine Oma: „Ging es Ihnen sehr schlecht in der DDR?“

Meine Oma war eine richtige „Kommunistenfresserin“, die sich bei DDR-Behörden mit ihrem losen Mundwerk so manches Problem eingehandelt hatte und auch in den 1990ern noch heftig auf die PDS schimpfte. Gegenüber ihrem westdeutschen Gesprächspartner hätte sie nun, der Zustimmung sicher, all ihren Frust über die DDR auskotzen können. Doch plötzlich sagte sie Dinge, die ich noch nie von ihr gehört hatte. „Uns ging es nicht schlecht. Wir hatten alles. Eine große Wohnung, ein Auto, alle hatten Arbeit. Wir sind in den Urlaub gefahren.“

Natürlich, das stimmte alles. Aber das waren nie Dinge, die sie bisher positiv hervorgehoben hatte, im Gegenteil. Wäre in diesem Moment Erich Honecker, auferstanden von den Toten, in den Raum gekommen und hätte sich eine Pina Colada bestellt, ich wäre nicht überraschter gewesen als über die völlig unerwartete Antwort meiner Oma. Mit Trotz und Stolz verteidigte sie ihr Leben in der DDR. Sie verteidigte damit nicht nur ihre persönliche Lebensleistung, sondern irgendwie den ganzen Osten gleich mit. Auch wenn mein westdeutscher Bekannter es mit der Frage gut meinte, er hatte überhaupt nicht damit gerechnet, dass sich Ostdeutsche mit der DDR bis heute identifizieren.

Der DDR-Bürger entstand erst 1990

Der ostdeutsche Bürgerrechtler Jens Reich sagte 1990, er sei erst nach der Maueröffnung innerlich zum DDR-Bürger geworden. Diese Identität entstand durch das Gefühl, anders zu sein als die Westdeutschen. Diese Identität, die negativ als Abgrenzung benutzt, aber auch positiv als ostdeutsche Solidarität gebraucht werden kann, spüren Ossis im Westen noch etwas stärker. Das spüre auch ich, obwohl ich die DDR nur als Kind erlebt habe. Verbindend sind eben auch die ähnlichen Erfahrungen nach 1990.

Als ich 2003 nach Hannover kam, zog ich in eine WG. Meine fünf Mitbewohner waren allesamt junge Ostdeutsche wie ich. Ich wusste das vorher nicht, ich hatte bis dahin nur mit dem Vermieter zu tun, doch war es auch kein Zufall. Sie waren dort alle aus demselben Grund: als Arbeitsmigranten, die zu Hause keinen Ausbildungsplatz fanden. Es war auch kein regionaler Zufall, denn die Leute kamen aus allen fünf neuen Ländern. In der WG über uns sah es fast genauso aus. Westdeutsche waren in der Minderheit. Zwischen uns war die Herkunft damals kein großes Thema. Aber es fiel auf, bei fast jedem Neuzugang umso mehr: Ich komme aus Wismar, Ich komme aus Freital, aus Magdeburg, Sondershausen, Rathenow …

Die ostdeutsche Identifikation wird in diesen Tagen, wo Wendeherbst und Wiedervereinigung ständig Thema sind, wieder gefördert. Allerdings anders, als Westdeutsche das erwarten würden. Ich empfinde da wohl etwas Ähnliches wie meine Oma damals: Es tut weh, wenn andere sagen, die DDR war „ein Land der Dunkelheit“, ein „maroder Trümmerhaufen“, ein „Unrechtsstaat“. Auch wenn ich persönlich von der Deutschen Einheit sicherlich profitiert habe, stelle ich selbst fest, dass es mir nicht egal ist, wenn andere so über meine Heimat reden. Das ist keine Sache der Zahlen, sondern des Gerechtigkeitsempfindens. Solch abfälliges Gerede über den Osten tut weh, es ist ungerecht, es ist unwahr und es erzeugt Widerspruch. Besonders wenn man weiß, welche sozio-ökonomische Mangelpolitik und welch außen- und innenpolitisches Unrecht die Bundesrepublik praktiziert.

Mit dem Wissen wächst das Verständnis

In so manchen Gesprächen mit Westdeutschen, die mich für einen der ihren hielten, musste ich mir sehr unschöne Dinge anhören — über faule, undankbare oder undemokratische Ossis. Ich habe manchmal devote Ostdeutsche erlebt, die diesen Reden eifrig zustimmten. Ich selbst spürte erst Verwunderung über diese stereotypen Reden, die ich aus meiner Heimat ja nicht kannte. Später empfand ich Widerwillen, heute widerspreche ich in solchen Situationen offen und konstruktiv. Zur Wahrheit gehört aber auch: Solche Westdeutschen waren die Minderheit. Viel häufiger habe ich interessierte, solidarische Wessis kennen gelernt, die verstehen und eben nicht Vorurteile pflegen wollten.

Sobald sie mehr wussten, nicht nur über die DDR, sondern vor allem über die politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen, die Ostdeutschland nach der Wende trafen, stieg ihr Verständnis noch. Denn die meisten „Wessis“ spüren, dass sie an Stelle der „Ossis“ ähnlich empfunden hätten und dass die wirtschaftspolitischen Experimente, die an den neuen Ländern durchgeführt wurden, auch vor den alten Bundesländern nicht Halt machen werden.

Die Ost-West-Spaltung wird so lange vorhanden bleiben und von interessierten Kreisen immer wieder neu befeuert werden, wie wir den Nebel der politisch-neoliberalen „Wendemärchen“ nicht durchleuchten.

Lassen Sie uns diesen Mythen mit einem gemeinsamen Schwerpunkt beim Rubikon auf den Grund gehen.


Inhalt der Rubikon-Sonderausgabe:


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Quellen und Anmerkungen:

(1) Jörg Roesler: Aufholen, ohne Einzuholen! Ostdeutschlands rastloser Wetttlauf 1965 — 2015. Ein ökonomischer Abriss. Berlin, 2016. Die Thematik Filialökonomie („branch-plant economy“) behandelt Roesler auf den Seiten 146 ff.
(2) Der aus Rostock stammende Soziologie-Professor Steffen Mau von der Humboldt-Universität Berlin beschreibt in seinem Buch „Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft“ (Seite 157) eine Szene der Nachwendezeit, in seinem heimatlichen Stadtviertel, die den Zusammenhang von Arbeitsplatzverlust, sozialem Abstieg und Alkoholismus verdeutlicht: „Das Zerfasern der einstmals arbeitszentrierten Gesellschaft war unübersehbar. Das Feldexperiment lief auf vollen Touren und erfasste Bekannte, Nachbarn, ehemalige Mitschüler, von denen manche heftig strauchelten. Plötzlich traf man im Wohngebiet auch auf jüngere Menschen, die unter der Woche schon vormittags auf Parkbänken oder vor dem Supermarkt saßen, manchmal mit zerschlissener Kleidung, umweht vom Alkoholdunst und mit unruhigem Blick. Einmal bettelte mich ein Mann an, den ich über eine gemeinsame Freundin kannte und der, als er sich an mich erinnerte, fragte, ob ich ihm eine Flasche Korn aus dem Supermarkt mitbringen könnte. Es entstand eine lokale Population Marginalisierter, die nach und nach, wie von einem Strudel in die Tiefe gerissen wurde, den Halt verlor. (...) Gebrochene Biografien mit Krankheit, Insolvenz und Alkoholproblemen waren und sind in Lütten Klein zahlreich zu finden.“


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