Wenn wir jetzt ein weißes Blatt Papier vor uns hätten und die Welt neu erfinden könnten: Wie würde sie sein? Nach welchen Regeln würde sie funktionieren? Welche Ordnung, welche Gesetze gäbe es? Was für Lebewesen würden wir erschaffen? Würde es Menschen geben? Uns? Würden wir teilhaben wollen an dem, was wir erschaffen? Oder würden wir die Welt als stille Beobachter von oben betrachten und ab und zu ein paar Blitze vom Himmel schleudern, wenn uns das Treiben zu bunt wird?
Wie sähe das Spiel aus, das wir erfinden würden? Was für Herausforderungen gäbe es, damit es Spaß macht und nicht langweilig wird? Vielleicht würden wir auf die Idee kommen, Gegensätzlichkeiten zu erschaffen, die sich gegenseitig anziehen oder abstoßen, Kräfte, die den Evolutionsprozess vorantreiben, den Weitergang des Spiels. Vielleicht würden wir sie oben und unten nennen, Licht und Dunkel, Himmel und Erde.
Und vielleicht würden wir eine Energie erschaffen, aus der heraus sich immer neues Leben bilden würde, etwas, das aus Altem Neues entstehen lässt und das uns überrascht. Schon wäre es geschehen. Nicht nur würden Schmetterlinge durch die Luft schaukeln, Blätter im Wind wehen und Blüten sich der Sonne entgegenstrecken wie in einem Stillleben; Schmetterlinge würden sich aus engen Kokons quälen, Blätter würden fallen und Blumen verblühen.
Karten auf der Hand
Damit ein Spiel funktioniert, braucht es Regeln, damit es weitergeht, Reibungen, und damit es Spaß macht, Herausforderungen. Bräuchte es also im Grunde genommen nicht genau das, was wir jetzt haben?
Ist die Erde nicht eigentlich ein fantastischer Ort, um Dinge zu erleben und Erfahrungen zu machen? Könnten wir unsere Zeit nicht viel besser verbringen als mit Klagen und Beschwerden, die vor allem uns selbst das Leben schwer machen?
Was machen wir mit den Karten, die wir auf der Hand haben? Würden wir das Leben mit einem großen Knall beginnen und enden lassen, oder würde uns etwas Besseres einfallen? Würden wir Menschen erfinden, die eine Fehlkonstruktion sind, und einen Konkurrenzkampf, in dem stets der Stärkere gewinnt? Würden wir Feindbilder erschaffen, die die Menschen nicht nur in Angst und Schrecken, sondern auch in ständige Kampfbereitschaft versetzen?
Was wäre, wenn diese Geschichten nicht wahr wären, wenn es nicht auf der einen Seite die Guten und auf der anderen die Bösen gäbe und irgendwo da oben Herrscher, die wir Gott, König oder die Eliten nennen? Wenn wir uns nicht einbilden würden, das Leben sei ungerecht, weil es sich nach Gesetzen entwickelt, die wir nicht verstehen oder nicht respektieren? Wenn wir nicht gegen Krankheiten, Unfälle, Trennungen, Verluste und Konflikte ankämpfen würden, sondern uns fragen, was das Erlebte mit uns zu tun hat?
Die große Enttäuschung
Realität ist etwas für Leute, die sich nichts Besseres vorstellen können, heißt es in der Zeichentrickserie „The Simpsons“. Also versuche ich, so viel es geht, selbst zu machen. Einerseits soll mein Leben möglichst schön sein. Andererseits möchte ich nicht in einer Scheinwelt leben, in einer virtuellen Realität, einem künstlichen Paradies. Ich will nicht um einen Platz im Bunker kämpfen, während draußen die Welt untergeht. Ich will mitten drin sein im Leben.
So suche ich nach einer Wirklichkeit, in der ich wirken kann. Dabei möchte ich mir keine Geschichten erzählen, in denen ich möglichst gut wegkomme.
Ich will aus dem Vollen schöpfen und mir auch das ansehen, was mir nicht schmeichelt und mich in Sicherheit wiegt. Schließlich lebe ich in einer Zeit, die von manchen Menschen Apokalypse genannt wird, einem Übergang, bei dem die Schleier der Illusion fallen und die Wahrheit ans Licht kommt.
Ich möchte Licht in mein Dunkel bringen und mich der Ent-Täuschung stellen. Wie viele andere habe ich mich in manchem getäuscht und erkennen müssen, dass ich die Dinge eigentlich nicht verändern kann. Jeder sieht, was er sehen will. Dafür, andere warnen zu wollen, habe ich Hohn und Spott geerntet, habe mich ausgeschlossen gesehen, verurteilt, kriminalisiert. Und auch ich stehe vor der Frage, ob denn alle Anstrengung umsonst war und es letztlich nichts gebracht hat, meine Texte in die Welt zu bringen.
Relative Welt
Das Schlimmste, was man einem Menschen nehmen kann, sind seine Illusionen. Etymologisch stammt der Begriff vom lateinischen Verb illudere ab: spielend hinwerfen oder ins Spiel werfen. In der psychiatrischen Fachsprache wird unter Illusion eine Sinnestäuschung verstanden. Etwas Vorhandenes wird als etwas anderes erlebt oder für anders gehalten, als es allgemein angenommen wird. Im engeren Wortsinn versteht man unter Illusion eine verfälschte Wahrnehmung der Wirklichkeit, eine unrealistische Vorstellung, etwas, was man sich einbildet oder vormacht.
Auf der einen Seite steht die Erkenntnis, dass es der Betrachter ist, der sich seine Realität erschafft. Gemäß dem Welle-Teilchen-Dualismus nimmt der Betrachtende eben das wahr, was er wahrzunehmen sucht (1). Schrödingers Katze ist so lange potenziell lebendig, bis jemand die Box öffnet. „Die“ Realität gibt es nicht. Nicht in unserem Auge entstehen die Bilder, die wir sehen, sondern entsprechend den Interpretationen unseres Gehirns, die wiederum von unseren Gedankenmustern, Weltbildern, Gefühlen und aktuellen Befindlichkeiten abhängig sind (2).
Während wir uns auf der einen Seite also tatsächlich unsere Realität selbst erschaffen, sind wir auf der anderen der Gefahr ausgesetzt, es gewissermaßen zu übertreiben und uns etwas zurechtzuspinnen, was nicht wahr ist.
Auch Wahrheit ist ein dehnbarer Begriff. Gemeinhin wird er abhängig von dem gemacht, was gerade Usus ist und was von einer Mehrheit akzeptiert wird. In einer an die Relativität gebundenen Welt kann jeder seine eigene Wahrheit haben.
Daneben steht die Annahme, dass es eine absolute Wahrheit gibt. Wer behauptet, sie zu besitzen, hat sie schon verloren. Denn welcher in einer relativen Welt lebende Mensch könnte ernsthaft von sich sagen, uneingeschränkte Gültigkeit und Verbindlichkeit erkennen zu können? Welches an Bedingungen gebundene Wesen würde Bedingungslosigkeit vollständig erfassen können?
Der kleine und der große Tod
Es ist Demut geboten, das Anerkennen der eigenen Ungewissheit. „Ich weiß es nicht“, lautet das Wort des Weisen. Ich weiß nicht, was letztlich die Wahrheit ist. Ich kann nur erahnen, dass es eine gibt, so wie ich erahnen kann, dass es eine Seele gibt, etwas, das nicht in der Materie gefangen ist und mit ihr vergeht. Ich weiß nicht, ob es einen göttlichen Funken gibt, der in jedem Menschen glimmt. Ich kann nur erspüren, kann fühlen, dass es mehr gibt als das, was ich mit meinen fünf begrenzten Sinnen wahrnehmen kann.
Mein Ego jedoch will es ganz genau wissen. Es will Sicherheiten und Garantien. Das Ego hat Angst vor Veränderung. Es will Kontrolle und Fakten. Manche Egos etwa halten daran fest, dass trotz gegenteiliger Beweise bestimmte Impfungen gut für die Gesundheit sind, manche bilden sich ein, genau zu wissen, wo die Guten und wo die Bösen stehen. Manche klammern sich an bestimmte Sachen, weil sie sich Nutzen davon versprechen, und manche meinen genau zu wissen, was nach ihrem Tod mit ihnen passiert.
Wohl jeder kennt die Empörung und die Abwehr, die hochkommen, wenn an bestimmten Vorstellungen gerüttelt wird. Enttäuschungen tun weh. Wer erkennt, dass er einem Irrglauben aufgesessen ist, stirbt einen kleinen Tod. Tatsächlich ziehen es nicht wenige Menschen vor, zu sterben, als ihre Illusionen loszulassen. Und manch einer glaubt, dass es endlich dann, wenn wir einmal tot sind, mit den Illusionen vorbei ist.
Doch wissen wir das? Wer von uns könnte behaupten, Gewissheit über die Mysterien des Lebens erlangt zu haben? Wer hat die Kontrolle abgegeben und mit ihr die Angst vor dem Ungewissen? Komme, was wolle. Dein Wille geschehe. Inch Allah. Let God do. Und wenn es gar keinen Gott gäbe? Wenn auch der Glaube an ihn eine Illusion ist? Wenn es überhaupt nichts gäbe, woran wir uns festhalten können? Wenn, wie manche behaupten, wir uns selbst vor dem Licht hüten sollten, das am Ende des Tunnels auf uns wartet? (3) Wenn jede Vorstellung von Gewissheit eine Illusion wäre?
Vom Wahrnehmen zur Wahrheit
Das Spannungsfeld, auf das wir uns hier einlassen, hat es in sich. Wir können nur fragen und staunen. Es ist wie, als würde man uns dazu auffordern, es uns beim Biwakieren in der Eiger-Nordwand bequem zu machen. „Nimm wahr“, lautet die Antwort des Religionsphilosophen und spirituellen Lehrers Alan Watts (4). „Sei echt“, mag ich hinzufügen. Wahrnehmen und echt sein, ehrlich sich selbst und anderen gegenüber. Aufgeschlossen und neugierig angesichts dessen, was geschieht, was auch immer es ist. Nichts anderes wollen als das, was ist.
Der Bogenschütze braucht das Ziel, auf das er sich ausrichtet. Wer Orientierung sucht, braucht eine möglichst klare Intention, eine Motivation, die ihn auf den Weg schickt. Was dann geschieht, ist ungewiss. Wir wissen nicht, was die Dinge, die wir in die Welt bringen, bewirken werden.
Wir können mitwirken an der Wirklichkeit, mitweben am großen Teppich des Lebens. Doch das Resultat sollte uns nicht kümmern. Es sollte uns gleichgültig sein. Alles ist gleich gültig. Alles hat denselben Wert.
Wer sich an das Ergebnis seines Handelns bindet, der programmiert sein Unglück vor. Vorstellungen, die nicht erfüllt werden, führen zu Frustration und schlechter Laune. Wie Groll und Verbitterung sind Erwartungen Lebensbremsen. Sie töten nicht nur Gefühle. Sie verhindern den Lebensfluss und machen blind und stumpf für die Ereignisse, die uns durch die Filter unserer Vor-Stellungen nur noch verzerrt erreichen können.
Der Weg des Herzens
Klarheit erlangt, wer sich auf das Geschehen einlässt und auch die Unsicherheit willkommen heißt. Ich habe keine Ahnung, wie das, was ich sage, tue und schreibe, aufgenommen wird. Es ist, so heißt es, der Leser, der das Buch macht. Er entscheidet darüber, wie es bei ihm ankommt. Wie die Kinder sich entwickeln, die wir in die Welt setzen, das wissen wir nicht. Wir haben keine Kontrolle darüber, was aus ihnen wird, nachdem ihnen einmal Leben geschenkt wurde.
Meine Wahrheit kann anderen als Lüge erscheinen. Ein Wort der Liebe kann beim anderen wie eine Ohrfeige landen. Ich kann nichts dagegen tun. Wer sich in den Kopf gesetzt hat, dass ein anderer ihm etwas Böses will, kann seine Ansicht darüber nur selbst verändern. Das bedeutet nicht, dass wir alle ohnmächtig sind. Nur nicht für das verantwortlich, wie andere die Dinge sehen.
So können wir uns hundertprozentig um uns kümmern. Woran andere sich orientieren, das wird gleichgültig. Ich weiß nur, woran ich mich orientiere: daran, wo die Freude ist. Da, wo das Herz aufgeht, da geht es für mich lang. Egal, was andere sagen. Egal, mit welchen Fakten sie kommen. Dort, wo das Herz offen ist, da führt er entlang, der Weg jenseits der Illusionen. Aber das kann jeder sehen, wie er will.

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Quellen und Anmerkungen:
(1) https://www.leifiphysik.de/quantenphysik/wesenszuege-quantenphysik/grundwissen/welle-teilchen-dualismus
(2) https://www.manova.news/artikel/verflixt-und-umgedreht
(3) Das Ende der Reinkarnationsfalle: https://www.youtube.com/watch?v=EWLpN2OMo-U
(4) Alan Watts: Weisheit des ungesicherten Lebens, Knaur MensSana 2014