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Freibrief von Justitia

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Bayerns Verwaltungsrichter sagen: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk kann machen, was er will.

Zu diesem Prozess bin ich durch einen Zufall gekommen, wobei — wer weiß. Vermutlich ist diese Aufgabe auf mich zugelaufen oder ich auf sie. Ein Gutachten zur Qualität des öffentlich-rechtlichen Journalismus, zu schreiben für eine Klägerin aus Oberbayern, die ihre 18,36 Euro nicht mehr zahlen wollte und das 2021 dem BR mitteilte. Gewissensgründe. Strukturelles Versagen. Lesern von Manova muss ich das nicht weiter erklären. Sie bekam das, was im Behördendeutsch „Festsetzungsbescheid“ heißt, legte Widerspruch ein und zog dann vor das Verwaltungsgericht München.

Das Ergebnis ging vor gut einem Jahr durch die Gegenöffentlichkeit: Wer eine Wohnung hat, kommt nicht aus dieser Nummer raus und kann auch nicht sagen, dass er nicht das erhalten hat, was ihm zusteht, weil es ja gar keinen Vertrag gibt. Außerdem brauchen die Anstalten das Geld, um vernünftig planen zu können. Ich vereinfache das etwas und spitze zu, aber nur ein wenig. Immerhin: Die Richter sahen die „grundsätzliche Bedeutung“ dieser „Rechtssache“ und ließen eine Berufung zu.

So kam ich ins Spiel. Wenn ein Medienforscher nachweist, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk den Medienstaatsvertrag verletzt, sagten sich Klägerin und Anwalt, dann haben wir vielleicht eine Chance. Diesen Satz muss ich erst mal sacken lassen, weil er an beiden Enden wackelt. Hinten sowieso.

Eine Chance gegen einen Zehn-Milliarden-Euro-Apparat, der mit dem Parteienstaat auf tausendfache Weise verbandelt ist? Eher wird Barbie tatsächlich lebendig und bekommt Cellulite.

Aber auch vorn ist der Satz nicht besser. Welcher Mensch ist in der Lage, all das zu sehen, zu hören, zu scrollen, was die Rundfunkanstalten Tag für Tag in die Welt pusten? Selbst mit einem Millionen-Budget und einem Heer von Forscherameisen wird jeder Untersuchung der eine Beitrag durchrutschen, ausgestrahlt um Mitternacht, versteckt auf einer Webseite, der die Anklage in sich zusammenfallen lässt. Seht her, liebe Leute. Wir haben den Kritikern doch Raum gegeben.

Friedemann Willemer, der Anwalt, wusste das natürlich. Sein Wunsch: ein Gutachten, das dem Gericht zu denken gibt und es so veranlasst, selbst zu ermitteln, mit richtig Geld. Meine Leute und ich haben uns folglich auf das konzentriert, was den Medienstaatsvertrag ausmacht. Paragraf 26 sieht den öffentlich-rechtlichen Rundfunk als „Medium und Faktor des Prozesses freier individueller und öffentlicher Meinungsbildung“ und verlangt deshalb „einen umfassenden Überblick über das internationale, europäische, nationale und regionale Geschehen in allen wesentlichen Lebensbereichen“. In Absatz 2 werden dafür vier Kriterien genannt: „die Grundsätze der Objektivität und Unparteilichkeit der Berichterstattung, die Meinungsvielfalt sowie die Ausgewogenheit ihrer Angebote“.

Ich zitiere ein paar Zeilen aus dem Gutachten, leicht gekürzt, aber trotzdem eher in der Sprache von Behörden und Wissenschaft: Zentral ist dabei die Meinungsvielfalt — ein Kriterium, das im Pluralismusmodell wurzelt und damit zum Fundament der allermeisten Demokratietheorien gehört. In Kurzform: In der Gesellschaft gibt es viele und zum Teil gegensätzliche Meinungen und Interessen, die prinzipiell gleichberechtigt sind. Feld der Verständigung ist die Öffentlichkeit (1). Von Meinungsvielfalt kann man sprechen, wenn alle gesellschaftlichen Gruppen und geistigen Richtungen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu Wort kommen und niemand vorherrschende Meinungsmacht erlangt (2).

Die Kriterien Objektivität, Unparteilichkeit und Ausgewogenheit übersetzen diese Forderung für den redaktionellen Alltag. Für die Journalismusforschung ist das Herstellen von Öffentlichkeit ein „gesellschaftlicher Auftrag“ (3). Auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk gemünzt: alle Themen und alle Perspektiven. Paragraf 26 des Medienstaatsvertrages macht daraus einen Auftrag des Gesetzgebers: Die Sender sollen dafür sorgen, dass wir uns über das Geschehen in der Region, im Land und in der Welt selbst ein Bild machen können, weil die Informationen und die wichtigsten Interpretationen für jeden zur Verfügung stehen.

Auch hier wackelt es wieder. Was passiert, wenn dieser Auftrag nicht erfüllt wird?

Was passiert, wenn die Redaktionen nicht das tun, was sie tun sollen? Der Gesetzgeber hat darauf keine Antwort, von Anfang an nicht. Das heißt, er hat schon eine Antwort: die Rundfunkräte. Kontrolle in unser aller Namen — in der Hand von denen, die eigentlich vom Journalismus kontrolliert werden sollten.

Verkehrte Welt. Ihr traut diesen Gremien nicht? Dann beschwert euch doch. Wie das geht, kann man auf der Seite der Ständigen Publikumskonferenz nachlesen, seit fast einem Jahrzehnt betreut von Maren Müller, oder jetzt in einem neuen Buch von Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam, die nach unzähligen vergeblichen Beschwerden wieder zur Dokumentation übergegangen sind, ihre Sittengemälde des Gebührendesasters aus der digitalen in die analoge Welt geholt haben und das Ganze gleich noch mit ein paar Vorschlägen für die laufende Zukunftsdebatte garnieren (4).

Eigentlich wollte ich diesen kleinen Katalog mit lauter Selbstverständlichkeiten erst am Ende bringen, aber er passt auch hier schon ganz gut. Bei Klinkhammer und Bräutigam ganz oben: „Rundfunkräte, gewählt von und unter den Augen der Öffentlichkeit“. Weiter im Text: „Verbot der Auftragsvergabe an Privatunternehmen. Ausschluss von Parteivertretern und politischen Beamten aus den Kontrollgremien. Unbefristete Festanstellung für alle Redakteure. Redaktionsstatute, die echte journalistische Freiheit sichern. Verbot der Leiharbeit.“ (5)

Um die Stoßrichtung zu verstehen, muss man die Seiten davor gelesen haben. 40 Prozent ihres Haushalts, steht dort, überweisen die Anstalten inzwischen an Dritte, für Rechte natürlich, vor allem aber an Unternehmen, die von außen zuliefern und dabei Gewinn machen wollen. Eine Talkshowminute, sagen Klinkhammer und Bräutigam, wäre für 1.000 Euro zu haben. Im „Kommerzbetrieb“ zahle man das Vier- bis Fünffache und mache so Moderatoren wie Anne Will zu Millionären (6).

Zurück zu meinem Gutachten, zurück zu jener Frau aus Oberbayern, die nicht mehr versteht, warum sie diesen Apparat mit ihrem Geld noch länger füttern soll. Ganz ähnlich wie Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam dreht es sich bei mir um die TV-Nachrichten. Die „Tagesschau“ um 20 Uhr: Was dort abgestempelt oder weggelassen wird, spielt für die Politik in diesem Land keine Rolle (7). Man kann das noch ein wenig ausdehnen und „heute“ im ZDF dazunehmen, die „Tagesthemen“ und die Abendtalks, viel mehr braucht man aber nicht, wenn man beweisen will, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk an seinem Auftrag vorbeisendet. Ich habe das ausführlich begründet, alle Studien zusammengefasst und den Stand der Forschung von meinen Leuten an zwei Stellen ergänzen lassen. Butscha und die Sommerdemos 2020 in der „Tagesschau“. Wir erinnern uns. Die Wissenschaft sagt da nichts anderes als unser Gedächtnis. Corona, der Krieg in der Ukraine, Russland, Griechenland, die Parteien: immer das Gleiche. Gegenstimmen werden ausgeblendet.

Heute weiß ich: Wir hätten uns die Mühe sparen können. Auch in der zweiten Instanz waren die Inhalte egal.

In Deutschland scheint das gerade Konjunktur zu haben: Wer die Robe anlegt, verliert die Wirklichkeit aus dem Blick. Vielleicht muss das so sein, um den Laden am Laufen zu halten.

Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof sagt in seinem Urteil vom 17. Juli 2023: Zuständig sind nicht wir Richter, sondern die „Gremien“. Und die sind „plural besetzt“. Außerdem sind da doch „Eingabe- und Beschwerdemöglichkeiten“. Der Clou: Der „Vorteil“, den wir uns mit dem Rundfunkbeitrag erkaufen, liegt „alleine in der individuellen Möglichkeit, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk nutzen zu können“. Großartig. Wir zahlen, damit es die Programme gibt. Damit das auch jeder richtig versteht, setzt das Gericht im nächsten Satz noch einen drauf. Vielfalt und Ausgewogenheit? Darauf kommt es hier überhaupt nicht an. Auch auf die Nutzung kommt es nicht an. Es reicht, dass wir das ja jederzeit könnten.

Vielleicht war das den Richtern selbst etwas dünn, wer weiß. Sie haben jedenfalls noch ein paar Gründe nachgeschoben. Rundfunkräte, Beschwerdewege und die Programmfreiheit, die die Redaktionen davor schützen soll, dass „Außenstehende“ mitreden, wir zum Beispiel oder die Klägerin. An dieser Stelle formulieren sogar Juristen so, dass es auch der Letzte versteht: Niemand darf „den Rundfunkbeitrag als Druckmittel einsetzen und ihn verweigern“. Was daraus folgt? Schwer zu sagen. Die Verwaltungsgerichte jedenfalls, so viel ist nun ziemlich sicher, werden das Problem nicht lösen.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Günther Rager und Bernd Weber: Publizistische Vielfalt zwischen Markt und Politik. Eine Einführung. In: Günther Rager und Bernd Weber (Herausgeber): Publizistische Vielfalt zwischen Markt und Politik, Econ, Düsseldorf 1992, Seite 7 bis 26
(2) Vergleiche Udo Branahl: Publizistische Vielfalt als Rechtsgebot. Ebenda, Seite 85 bis 109
(3) Horst Pöttker (Herausgeber): Öffentlichkeit als gesellschaftlicher Auftrag, UVK, Konstanz 2001
(4) Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist am Ende. Aber ein Ende ist nicht in Sicht, Fifty-Fifty, Frankfurt/Main 2023
(5) Ebenda, Seite 26
(6) Ebenda, Seite 24 bis 25
(7) Vergleiche Michael Meyen: Die Propaganda-Matrix, Rubikon, München 2021


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