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Öffentlich-rechtliche Sündenböcke

Öffentlich-rechtliche Sündenböcke

Politik und Medienkonzerne sägen am Rundfunkbeitrag und damit auch am Anspruch des Publikums, beim Programm mitreden und mitentscheiden zu können.

Vielleicht waren wir zehn, vielleicht auch zwölf bei dieser Premiere im September 2019. Ich weiß noch, dass ich schon draußen am Tor ein wenig enttäuscht war. Kein Ansturm, sondern Bürokratie. Namen in eine Liste eintragen, Schild entgegennehmen, auf die Begleiterin warten. Ordnung muss sei, wir sind schließlich beim MDR. Da darf niemand einfach so auf das Gelände und schon gar nicht allein.

Die Pressemitteilung hatte damals eine Revolution versprochen. Tore auf für das Publikum. Der Rundfunkrat tagt öffentlich! Seid live dabei, wenn die Macher Rede und Antwort stehen und die Budgets verteilt werden. Die Anmeldung war etwas umständlich, okay, aber was ich dann in Leipzig erlebt habe, war noch schlimmer. Das ging schon draußen los. Lauter Bekannte. Profipublikum sozusagen. Zwei Journalisten, zwei Wissenschaftler, dazu ein paar Leute von Aufstehen Leipzig, die gerade einen offenen Brief an Michael Kretschmer geschrieben hatten, den sächsischen Ministerpräsidenten, damit er den Medienstaatsvertrag nicht unterzeichnet (1).

Gut: Es war Montag — was hatte ich erwartet? Otto Durchschnittsfernseher muss zwischen 10 und 14 Uhr malochen, unter anderem für den Rundfunkbeitrag. Vielleicht hat er auch geahnt, wo sein Platz bei dieser Sitzung sein würde. Das Dutzend der Aufrechten wurde auf die Veranda geschickt. Im Saal der Rat, an großen Tischen, mit Getränken und allem Drum und Dran. Das Beitragsvolk durfte durch das Fenster hineinschauen, eng bestuhlt, manche Plätze mit dem, was im Konzertdeutsch „eingeschränkte Sicht“ heißt. Mehr Symbolik ging eigentlich nicht. Als die Tagesordnung zum neuen Vertrag mit Florian Silbereisen kam, war der öffentliche Teil vorbei. Ich glaube zwar nicht, dass Tomaten und Eier vom Katzentisch geflogen wären, aber eine — zweistellige — Millionensumme für die Volksmusik war dem Sender offenbar doch peinlich. Wer weiß. Vielleicht hätte sonst schon damals das angefangen, was den öffentlich-rechtlichen Apparat gerade aus den Angeln hebt.

Die Probleme sind nicht neu. Das wenige, was in jener Sitzung über das Programm gesagt wurde, hatte es in sich. Eine Gruppe freier TV-Journalisten hatte für den MDR einen Chemnitz-Film gemacht, ein Jahr danach, und dort auch einen Ordner von Pro Chemnitz sprechen lassen, einer Gruppe, die sich „Freiheit, Heimat, Zukunft“ auf die Fahnen schreibt und seit 2009 im Stadtrat sitzt, im Moment mit fünf Abgeordneten. Das Landesamt für Verfassungsschutz schreibt von „zahlreichen rechtsextremistischen Aktivitäten“ — „insbesondere asylfeindliche Demonstrationen“ — und suggeriert eine Nähe zur AfD. Darf man solchen Leuten auf Beitragskosten eine Bühne bieten? Darf der MDR sie sogar noch aufs Podium bitten, wenn er zum Jahrestag vor Ort eine Diskussion veranstaltet?

Vor drei Jahren hatte die AfD noch jemanden im Rundfunkrat. Der durfte eine Erklärung verlesen. Danach ging es einfach weiter, ganz so, als ob nichts gewesen wäre. Lass den doch reden, lass den doch protestieren. Wir wissen es besser. Eine Landtagswahlperiode später sind beim MDR aus 43 Ratsmitgliedern 50 geworden – und die AfD ist raus, obwohl sie in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen jeweils auf über 20 Prozent kam. Die anderen haben einfach an ein paar Schrauben gedreht. Schotten dicht, solange es irgendwie geht.

Im September 2019 gibt es im Leipziger MDR-Sitzungssaal ein zweites Ost-Thema. Sigmund Jähn, 1978 als erster Deutscher im All, ist zwei Tage vorher gestorben. Das Morgenmagazin der ARD hat aus ihm ein „Propagandamaskottchen“ der SED gemacht. Ich war als junger Journalist in Morgenröthe-Rautenkranz, Jähns Geburtsort im Vogtland, erinnerte mich an Stolz und Verehrung und wunderte mich nicht, dass es nun im Rundfunkrat Beschwerden gab. Wir haben es nicht leicht, sagt Wolf-Dieter Jacobi, der Fernsehdirektor. Mit allem aus dem Osten. Der ARD-Korrespondent in Prag kommt vom MDR. Ins Erste schafft er es so gut wie nie.

Ich habe Jacobi nach der Sitzung in seinem Büro interviewt, für eine Studie über Medienmenschen aus dem Osten, die es im größeren Deutschland zu etwas gebracht haben. Jacobi, Jahrgang 1965, hat wie ich in Leipzig Journalistik studiert und ab 1990 dann eine öffentlich-rechtliche Karriere gemacht, die für einen Absolventen des „Roten Klosters“ beispiellos sein dürfte (2). Fernsehgesicht, Redaktionsleiter Sport, Chef des ARD/ZDF-Olympiateams in Vancouver, MDR-Fernsehdirektor, ARD-Spielfilmkoordinator. Im Frühherbst 2019 sprechen wir auch über sein „Ostempfinden“, das verhindert habe, bei jeder Meldung über die AfD das Wort „rechtspopulistisch“ mitzusprechen. „Früher hat es mich genervt“, sagt Jacobi, „wenn zu jeder Aussage die Wertung mitgeliefert wurde. Selbst im Wording. Das wollen die Leute hier nicht mehr“ (3).

Ende Juni 2020 meldet der MDR, dass Jacobi den Sender verlässt. Nachfolger wird Klaus Brinkbäumer, 2015 bis 2018 Spiegel-Chefredakteur und 2021 Gast der Atlantik-Brücke. Die Verträge der MDR-Chefredakteure Jana Hahn, Hörfunk, und Torsten Peuker, Fernsehen, beide wie Jacobi und ich mit einem Leipziger Diplom und eher Manager als laute Propagandisten, wurden im Frühjahr 2022 nicht verlängert. Julia Krittian, als eine Art Superchefredakteurin Erbin von Hahn und Peuker, feierte ihren Einstand als Kommentatorin bei den Tagesthemen Anfang August mit einer Attacke gegen Regierungskritiker. Diese „Delegitimierer“ würden „jede Gelegenheit“ nutzen, „um die Demokratie und unseren Zusammenhalt an sich zu hinterfragen – und ja: anzugreifen“ (4). „Delegitimierer“: Da schüttelt sich selbst mein Rechtschreibprogramm und malt eine dicke rote Linie.

Patricia Schlesinger und Wolf-Dieter Wolf beim RBB, Sabine Rossbach beim NDR, Beiträge, die nicht gesendet oder gar nicht erst gedreht werden durften: Was immer uns in den nächsten Wochen und Monaten an Namen und Skandalen aufgetischt wird, darf nicht davon ablenken, dass das Problem keinen Namen hat und auch keine Adresse, sondern System ist. Wenn die Parteien heute nach Reformen rufen, heißt das auf gut Deutsch, dass sie selbst gestern schlecht gearbeitet haben. Wir, das Publikum? Ohne Stimme, nicht nur an jenem September-Montag vor drei Jahren in Leipzig. Die Politik bestimmt, wie viel wir zu zahlen haben, und sie sagt auch, wer welches Programm machen darf.

Die Idee öffentlich-rechtlicher Rundfunk ist eigentlich großartig und genau das Gegenteil: Radio und Fernsehen, ohne dass Parteien oder Behörden bestimmen, was publiziert wird. Sendungen, in die sich niemand einkaufen kann und in denen auch der größte Werbekunde kein Vetorecht hat. Rundfunkanstalten, die allen gehören und den Auftrag Öffentlichkeit erfüllen (5).

Dieser Auftrag kommt von uns, von einer Gesellschaft, die wissen muss, welche Themen gerade brennen und welche Perspektiven und Interessen es hier gibt. Wie sollen wir sonst zu guten Antworten kommen, zu Lösungen, die nicht allen gefallen mögen, aber wenigstens nachvollzogen werden können? Auftrag Öffentlichkeit: Das zielt auf den Journalismus als Vermittler und nicht auf Belehrung, Bevormundung, Erziehung. Ein frommer Wunsch, ich weiß. Die Politik hat den Rundfunk nicht loslassen können, von Anfang an nicht. Jetzt, nach zweieinhalb Jahren Lauterbach-Show, weiß auch der letzte, wer ARD und ZDF regiert. Jetzt kann man den Mantel fallen lassen und die Sender selbst finanzieren.

In Großbritannien hat die Regierung noch unter Boris Johnson im Januar angekündigt, dass die BBC ab 2027 keine Gebühren mehr erheben dürfe. Emmanuel Macron hat diesen Ball im französischen Wahlkampf aufgenommen und beide Parlamentskammern nach seinem Sieg dafür stimmen lassen, Radio France und France Télévisions zumindest bis 2024 aus dem Staatshaushalt zu bezahlen. In Deutschland würde das in die Logik von Tankrabatt und 9-Euro-Ticket passen und von der Ampel als Entlastung für die Armen zu verkaufen sein. Steuern kommen schließlich eher von denen, die mehr verdienen.

Vor einem Jahr habe ich hier im Rubikon einen „Medientraum“ veröffentlicht – mit einer anderen Lösung für das gleiche Problem. Nicht den Geldgeber wechseln und damit die Zuständigkeit, sondern den Preis. Zwei Euro im Monat, so dachte ich, müssten für jeden Haushalt machbar sein und die Rundfunkanstalten zugleich zwingen, sich auf das zu konzentrieren, wofür wir sie brauchen. Journalismus. Guter Journalismus. Journalismus, der ein Gegengewicht zur Macht ist und nicht korrumpiert werden kann, weil er ein festes Fundament hat und weiß, dass er denen dienen muss, die ihn bezahlen und ihn deshalb auch kontrollieren – über Publikumsräte zum Beispiel, die dieses Label verdienen, weil sie ausgelost oder wenigstens gewählt werden und dann auch die befreien können, die selbst ein Mini-Pflichtgeld ablehnen.

Zwei Euro: Das ist wenig und in einem großen Land wie Deutschland doch sehr viel. In meinem Traum fließt der erste Euro in ein 24/7-TV-Programm, das bei 40 Millionen Haushalten immer noch reicher wäre als die Deutsche Welle oder Al-Jazeera und deshalb feste Arbeitsverträge hätte, ein Redaktionsstatut, keine Werbung, keine Verfallsfristen in der Mediathek und auch keine Stars, die mit ein paar Moderationen Millionäre werden. Der zweite Euro könnte ins Lokale gehen, in Portale, die selbst in kleinen Landkreisen Jahresbudgets hätten, die Recherchen genauso erlauben wie Kritik an Behörden und am Filz vor Ort. Das Wichtigste kommt wie immer am Schluss:

Diese Medien würden uns gehören, tatsächlich und nicht nur auf dem Papier.


Das Buch können Sie hier bestellen: als Taschenbuch, E-Book oder Hörbuch.


Stimmen zum Buch

„Ist zu den Themen Medien und Medienkritik bereits alles Wichtige gesagt? Michael Meyen belehrt uns auf fulminante Weise eines Besseren. Der Autor führt in die verzweigte Debatte ein, verdichtet sie, spitzt sie zu und treibt sie voran, entwickelt Perspektiven — stilistisch brillant, mitreißend, erhellend. Medienkritische Aufklärung als Lesegenuss!“
Ulrich Teusch, Professor für Politikwissenschaft

„Wer wie Goethes ‚Faust‘ wissen will, was ‚die Welt im Innersten zusammenhält‘, der muss Michael Meyens brillante Darstellung lesen, die tiefe Einblicke in die gegenwärtige Medien-Matrix liefert. Mit erzählerischer Leichtigkeit und analytischer Schärfe werden die Erkenntnisse von intellektuellen Größen wie Hannah Ahrendt, Ulrich Beck, Pierre Bourdieu, Noam Chomsky, Michel Foucault, Walter Lippmann und Niklas Luhmann für die Beobachtung (...) fruchtbar gemacht. Sichtbar werden die ‚blinden Flecken‘, aber auch die neuen Chancen von demokratischer Beteiligung und selbstbestimmter Erkenntnis.“
Carsten Gansel, Literaturwissenschaftler

„Michael Meyens Buch ist trotz des knalligen Titels vor allem eines: solide Wissenschaft. Der Autor verbindet dabei zwei Qualitäten, die im akademischen Feld Seltenheitswert haben: Er schreibt prägnant, ohne Umschweife und vermeidet zugleich jede Selbstgerechtigkeit. Dieser Stil ist auch den politischen Debatten zu wünschen, die dieses Buch mit seinen brisanten, brandaktuellen Überlegungen hoffentlich anstößt.“
Paul Schreyer, Bestsellerautor

„Michael Meyen geht es um mehr als um Verständnis für sein Fach. Er bietet seine Expertise, klärt auf, macht verstehbar und veranschaulicht Mechanismen mit nichts weniger als der Freiheit im Blick. Ein Weißbuch für einen besseren Journalismus, wenn nicht für eine Revolution der Medien!“
Martin Sinzinger, Naturfotograf

„Ein mutiges Buch, auf den Punkt. Meyens Medienbeobachtungen führen uns vor Augen, wie real die Abgründe im ‚Journalismus‘ unserer Zeit sind.“
Marcus Klöckner, Journalist


Quellen und Anmerkungen:

(1) Michael Meyen: Medienstaatsvertrag: Klein-Klein statt großer Wurf, Telepolis, 14. August 2019
(2) Zur Journalistenausbildung in der DDR und den Lebensläufen der Absolventen vergleiche Michael Meyen: Das Erbe sind wir. Warum die Leipziger Journalistik zu früh beerdigt wurde. Meine Geschichte, Halem-Verlag, Köln, 2020
(3) Ebenda, Seite 349
(4) Marco Gallina: Tagesthemen-Kommentar: Warnung vor einem „Wut-Winter“ durch die „Querdenker-Szene“, Tichys Einblick vom 5. August 2022
(5) Vergleiche Horst Pöttker (Hrsg.), Öffentlichkeit als gesellschaftlicher Auftrag, UVK, Konstanz 2001


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